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1949 (eBook)

Das lange deutsche Jahr | Eine lebendige Geschichte der Nachkriegszeit
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
320 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45279-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

1949 -  Christian Bommarius
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1949, ein deutsches Schickalsjahr: Entnazifizierung, Wiederaufbau, Staatsgründung, Demokratisierung »Christian Bommarius ist ein großartiger Erzähler, er macht die Nachkriegsgeschichte so lebendig, dass man erschrickt. Man erschrickt deshalb, weil unsere Gesellschaft so viel hätte lernen können, aber so wenig gelernt hat.« Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung 1949 ist das Jahr der doppelten Staatsgründung und des Beginns der zweiten Demokratie auf deutschem Boden. Die ersten Bundestagswahlen bringen Konrad Adenauer ins Kanzleramt, Theodor Heuss wird Bundespräsident, Bonn Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. In der DDR wird Wilhelm Pieck Präsident, Ministerpräsident Otto Grotewohl.  Christian Bommarius erzählt so kundig wie kurzweilig die Geschichte des langen Jahres 1949. Dieses setzt bereits 1948 ein, als mit Währungsreform - die sich 2023 zum 75. Mal jährt - und Auftrag zur Verfassungs-Bildung die Weichen in Richtung Bundesrepublik gestellt wurden. Und 1948 blockiert auch die Sowjetunion den Zugang zu West-Berlin, eine Blockade, die fast ein Jahr andauert, die abgeschnittene Stadt kann nur durch die Luftbrücke der Alliierten mit dem Lebensnotwendigen versorgt werden. Bommarius schildert zentrale und marginale Episoden aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Alltagsleben. Sein Sachbuch ist ein buntes Panoptikum der frühen Bundesrepublik Deutschland - und birgt eine höchst aktuelle Botschaft: Demokratisches Denken und Handeln muss immer wieder gegen Widerstände gelebt werden, damals wie heute. »Christian Bommarius' großes Panorama der Nachkriegsjahre verstört und ist zugleich ein stilistischer Genuss, von dem man nicht mehr loskommt. Nie ist so klug, komisch und kompromisslos über diese Zeit geschrieben worden.« Karina Urbach, Institute of Historical Research, University of London

Christian Bommarius, Jahrgang 1958, studierte Germanistik und Rechtswissenschaft. Nach journalistischen Stationen, u. a. als Korrespondent beim Bundesverfassungsgericht, war er von 1998 bis 2017 Redakteur der Berliner Zeitung, anschließend Kolumnist bei der Süddeutschen Zeitung und ist nun freier Publizist. Für sein publizistisches Werk wurde Bommarius der Heinrich-Mann-Preis verliehen.

Christian Bommarius, Jahrgang 1958, studierte Germanistik und Rechtswissenschaft. Nach journalistischen Stationen, u. a. als Korrespondent beim Bundesverfassungsgericht, war er von 1998 bis 2017 Redakteur der Berliner Zeitung, anschließend Kolumnist bei der Süddeutschen Zeitung und ist nun freier Publizist. Für sein publizistisches Werk wurde Bommarius der Heinrich-Mann-Preis verliehen.

Drei Hühner – schwarz, weiß, rot –, eine ausgebombte Wohnung in Berlin, ein Gartenhaus in Wilhelmshorst bei Potsdam in der sowjetischen Zone, Erbsen, Bohnen und Kartoffeln zur Selbstverpflegung, gelegentlich Strom und Wasser, Hunger als beständiges Lebensgefühl. Friedrich Helms, 65 Jahre alt, früher national gestimmter Sozialdemokrat, seit zwei Jahren lustloser SED-Genosse, vormals »Direktor« bei der Deutschen Bank, jetzt Handlanger in der Bank-Filiale in Charlottenburg (britischer Sektor).

Seine Hilfsdienste: Umtausch der Reichsmark in D-Mark, stundenlang, tagelang, von morgens bis abends. Vor seiner Rückkehr nach Wilhelmshorst hat Helms – bei Strafe – seinen Verdienst in D-Mark in Ost-Mark umzutauschen. Sein Hunger ist nicht konvertibel. Er begleitet ihn morgens von Ost nach West, abends von West nach Ost. Friedrich Helms hätte gerne eine Erklärung. Ihn interessiert, für was er bestraft wird. Es sei offensichtlich, schreibt er im Tagebuch, dass Deutschland in zwei Weltkriegen so klein wie möglich gemacht werden sollte. Jedem müsse klar sein, dass die Schuld am Zweiten Weltkrieg keineswegs einseitig sei. Warum gehen dann er und seine Frau Marie, bis Kriegsende Parteigenossin, jeden Abend mit Hunger ins Bett? An diesem 1. Juli hat er nur drei bis vier dünne Scheiben Brot gegessen, geröstet und ohne Aufstrich. Die Leidtragenden, klagt Helms, sind wir.

 

 

Vielleicht hat Thomas Mann im kalifornischen Exil inzwischen die Nase voll von den deutschen Kalamitäten. Von den Nazis ausgebürgert, hatte der Schriftsteller vor zehn Jahren den amerikanischen Boden mit dem Bekenntnis betreten: »Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir.« Noch vor drei Jahren hat er in einer seiner BBC-Ansprachen an die Deutschen immerhin Verständnis gezeigt für die Bewohner des militärisch, politisch, wirtschaftlich und moralisch verwüsteten Landes: »Ihr seid des Todes, der Zerstörung, des Chaos übersatt, wie sehr Euer Heimlichstes zeitweise auch danach verlangt haben möge. Ihr wollt Ordnung und Leben, eine neue Lebensordnung, wie düster und schwer sie sich für Jahre auch anlassen wird.« Doch jetzt, da es endlich ernst wird mit der neuen Lebensordnung, registriert Thomas Mann zwar knapp die Verschärfung des Berliner Konflikts. Seinen Tagebucheintrag aber beginnt er mit der Nachricht: »Der Pudel, gestern völlig krank und wild, neuerdings in die Klinik.«

 

 

In Deutschland meldet sich Eugen Kogon zu Wort, Publizist und ehemaliger Gefangener im KZ Buchenwald, der schon vor zwei Jahren den Deutschen in einem Buch Einzelheiten über das Innenleben des »SS-Staats« verraten hat, den viele kaum von außen bemerkt haben wollten. Jetzt aber redet Kogon nicht den Deutschen ins Gewissen, sondern den Alliierten. Ihr Verhältnis zur »deutschen Demokratie« verlange endlich, drei Jahre nach dem Krieg, ein System verbindlichen Rechts, nicht dieses ewige Hin und Her von Entgegenkommen, Befehlen, Verhandlungen und Willkürmaßnahmen. Alles gehe viel zu langsam voran, es müsse endlich Schluss sein mit dem missvergnügten Zögern der Besatzungsmächte. Natürlich kennt Kogon den Grund des Zögerns ganz genau. Die Siegermächte, schreibt er, sähen sich durch die weltpolitischen Verhältnisse gezwungen, einen Partner aufzubauen, den sie eigentlich gar nicht wollten: »Ist es nicht so?«

 

 

In diesem Sommer, in dem die Deutschen nach einer neuen Lebensform suchen, aber – im Westen – vor allem die Läden stürmen, deren Regale sich mit der Währungsreform am 20. Juni 1948 über Nacht füllen, in diesem Sommer, in dem in Washington, London und Paris und selbstverständlich auch in Berlin der Dritte Weltkrieg erwartet wird, erhält Thomas, ein vierzehn Jahre alter Schüler eines Göttinger Gymnasiums, ein Zeugnis des historischen Bewusstseins seines Lehrkörpers. Nachdem sein Lehrer die Bombardierung Hamburgs durch die Alliierten als »beispiellose Barbarei« beklagt hat, hebt Thomas die Hand. Er fragt: »Und die Bombardierung von London durch die Deutschen? Und wie ist das mit den Menschen, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden?« Der Lehrer bestreitet den Unterschied zwischen Konzentrationslagern und alliiertem Bombardement, und Thomas verlässt das Klassenzimmer. In einer Schule ein unerhörter Vorgang, aber vielleicht doch nicht ganz so unerhört, wenn man weiß, dass Thomas – anders als sein Vater – das Konzentrationslager Auschwitz, einen Todesmarsch und das Konzentrationslager Sachsenhausen überlebt hat. Ein Traum, der ihn seit damals begleitet: Einer der alliierten Bomber auf dem Weg nach Berlin lässt einen langen Haken herab, hängt Thomas’ Baracke daran und bringt ihn nach Amerika.

 

 

Apropos Baracke. Womit beschäftigt sich eigentlich in diesen Tagen Häftling Nr. 5 im Kriegsverbrechergefängnis Spandau? Albert Speer zeichnet. Eine Holzbaracke, nichts Großes, aber minutiös. Sie zeige seine neuen Maßstäbe, schreibt Hitlers Generalbauinspekteur für die Reichshauptstadt in seiner Zelle, drei Meter lang, 2,70 Meter hoch. Sein zerstörtes Lebenswerk dürfe nicht das Ende aller Hoffnungen sein. Speer zeichnet länger als einen Monat an der schmucken Hütte, die so gar nicht an die Baracken in Auschwitz erinnert. Mit der Erinnerung an sein Lebenswerk ist das bei Speer ohnehin so eine Sache. Ihm ist schon vor zwei Jahren im Nürnberger Prozess, in dem zwölf der 24 Angeklagten zum Tode verurteilt wurden, Speer aber nur zu 20 Jahren Freiheitsstrafe, partout nicht eingefallen, dass er als Kriegswirtschaftsminister den Bau der Gaskammern in Auschwitz bewilligt hatte und sich von Himmler die Sklaven für die unterirdischen Wunderwaffenfabriken hatte liefern lassen.

 

 

Deutschland ist ein Gefängnis. Millionen Menschen – Vertriebene, Flüchtlinge, Kriegsheimkehrer, aus den Konzentrationslagern befreite Juden und ehemalige Zwangsarbeiter – kommen zwar hinein, aber seit drei Jahren darf kein Deutscher das Land verlassen. Gefängnis ist also für Deutschland eine taugliche Metapher, für Berlin ist es ein Synonym. Wenn Ruth Andreas-Friedrich in ihrem Tagebuch notiert: »Berlin ist ein Gefängnis«, dann meint sie nicht nur die in Grund und Boden gebombte, in Sektoren zerlegte ehemalige Reichshauptstadt, deren Westteil seit dem 24. Juni 1948 von sowjetischen Truppen abgeriegelt und dessen Bevölkerung von amerikanischen und britischen »Rosinenbombern« notdürftig versorgt wird. Für die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich in Berlin-Steglitz (US-Sektor), die in einer Widerstandsgruppe ihr Leben riskierte, Juden und politisch Verfolgte versteckte, in den letzten Kriegswochen an die Ruinen das Wort »NEIN« gepinselt und in Flugblättern zum Widerstand aufgerufen hatte (»Werft alle Bilder von Hitler und seinen Komplizen auf die Straße! Organisiert den bewaffneten Widerstand!«), ist Berlin ein Gefangener der eigenen Vergangenheit. Von den Siegermächten sei es verurteilt, bis auf Weiteres als Fußmatte der Weltgeschichte zu dienen.

Ost gegen West, West gegen Ost, als Schauplatz und als Brückenkopf Berlin, in dem vor ein paar Jahren noch die Kommandos für den Endsieg erteilt und die Eisenbahn-Transporte zu den Vernichtungslagern koordiniert worden waren. Jetzt sind die Eisenbahnstrecken blockiert, zwei Stunden Strom am Tag, sonntags eine. Ruth Andreas-Friedrichs Stromstunden liegen zwischen zwölf und zwei Uhr nachts. Ein Wagen des RIAS, des Rundfunks im amerikanischen Sektor, fährt durch die Stadt, Weltlage per Lautsprecher: »Weitere Verstärkung der Luftbrücke auf 100 Flugzeuge täglich. Das Baden in freien Gewässern verboten, da infolge der Stromsperren eine Verunreinigung durch Abwässer zu befürchten ist. Weitere Verhaftungen im Ostsektor von Inhabern Deutscher Mark.«

Berlin, klagt Ruth Andreas-Friedrich, ist ein Gefängnis, in dem nur wenige, vom Glück Begünstigte, hin und wieder Ausgeherlaubnis erhalten. Sie könnte sie bekommen. In München wartet Frank. Ein Flug von Berlin nach Frankfurt kostet allerdings 28 Dollar. Nur die aus den Konzentrationslagern befreiten Juden, die die alliierten Flugzeuge auf den Rückflügen mitnehmen, müssen nichts bezahlen.

 

 

Wenn ein Gott stirbt, muss das nicht auch für die Gottbegnadeten das Ende bedeuten. Adolf Hitler und Joseph Goebbels hatten 1041 Schriftsteller, Bildhauer, Architekten, Musiker, Sänger, Maler und Schauspieler als »Gottbegnadete« auf eine Liste setzen lassen, die sie als unersetzliche Kulturschaffende vor dem Fronteinsatz bewahrte und der NS-Propaganda erhielt. Entsprechend haben die meisten von ihnen den Krieg gut überstanden, aber auch sie leiden an den Verhältnissen der Nachkriegsjahre.

Einer von ihnen, Viktor de Kowa, einer der bekanntesten Filmkomödianten der UFA-Zeit, steht am 18. Juli inmitten von 20000 Menschen vor dem Schöneberger Rathaus (US-Sektor) und protestiert gegen die Unterdrückung der freien Künste in der Ostzone. Die Demonstration steht unter dem Motto »Geistige und persönliche Freiheit«, die Redner wenden sich gegen die zunehmende...

Erscheint lt. Verlag 29.8.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 1913 • 1923 • 1948 • 1949 • 1950 • 20. Jahrhundert • 2. Hälfte 20. Jahrhundert • Adenauer • Berlinblockade • Bonn • BRD • Bundesrepublik • Bundesrepublik Deutschland • Carlo Schmid • CDU • Christian Bommarius • CIA • DDR • Demokratie Buch • Deutsche Geschichte • Deutschlandlied • Deutschland Politik Kultur Gesellschaft • D-Mark • Eichmann • Entnazifizierung • Erzählendes Sachbuch • Florian Ilies • Florian Illies • Fritz Walter • Gehlen • Geschichte 20. Jahrhundert • Geschichte Deutschland • Grundgesetz • Gründung Bundesrepublik • Herberger • Heuss • Hildegard Knef • Hilde Knef • Hitler • Kalter Krieg • Kriegsgefangene • Kriegsverbrecherprozesse • Kurt Schumacher • Luftbrücke • Mengele • Nachkriegsdeuschland • Nachkriegsjahre • Nachkriegszeit Deutschland • Nazis • Nürnberg • Ostzone • Piek • Politik Buch • Politik verstehen • Rattenlinie • Sachbuch Geschichte • SBZ • SED • Spätheimkehrer • SPD • Thomas Mann • Trizonesien • Ulbricht • Veit Harlan • Währungsreform • Westzonen • Wiederaufbau • Wirtschaftswunder
ISBN-10 3-426-45279-0 / 3426452790
ISBN-13 978-3-426-45279-0 / 9783426452790
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