Die Säuberung (eBook)
584 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10954-8 (ISBN)
Georg Lukács (1885-1971) war ein ungarischer Philosoph, Literaturwissenschaftler und -kritiker. Reinhard Müller, geb. 1944, Studium der Germanistik, Geschichte und Soziologie, bis 1989 Leiter der Bibliothek und des Archivs der Thälmann-Gedenkstätte in Hamburg, Publikationen zur Geschichte der KPD und des Exils.
Georg Lukács (1885–1971) war ein ungarischer Philosoph, Literaturwissenschaftler und -kritiker. Reinhard Müller, geb. 1944, Studium der Germanistik, Geschichte und Soziologie, bis 1989 Leiter der Bibliothek und des Archivs der Thälmann-Gedenkstätte in Hamburg, Publikationen zur Geschichte der KPD und des Exils.
Wachsamkeit in Permanenz oder «Schluß mit dem faulen Liberalismus»
Nach dem Beginn des ersten «Moskauer Schauprozesses» wurde in einer sich ständig steigernden und gut orchestrierten Pressekampagne darüber berichtet, daß Kollektivbauern, Arbeiter des Kirow-Werkes, in Moskau lebende österreichische «Schutzbündler» sowie Lehrer in Kasachstan zu einer erhöhten «Wachsamkeit», zur Vernichtung der trotzkistischen «Schädlinge» und zur Entlarvung der «Doppelzüngler» aufgerufen hätten. In Moskauer Betriebsversammlungen wurde von «einem Arbeiter nach dem andern» gefordert: «Dieses Gesindel muß vom Angesicht der Erde getilgt und erschossen werden.» In weiteren Untersuchungen sollten die «Verbindungen» zwischen Tomski–Bucharin–Rykow und Pjatakow–Radek und der «trotzkistisch-sinowjewistischen Bande» aufgedeckt und verfolgt werden.
Auch der sowjetische Schriftstellerverband feierte in einer akklamierenden Versammlung am 21. August die Todesurteile des Prozesses. Als Mitglieder der deutschen Sektion des sowjetischen Schriftstellerverbandes nahmen an dieser Versammlung auch einige deutsche exilierte Schriftsteller teil. Willi Bredel hielt als deren Vertreter eine mehrmals von «großem Beifall» unterbrochene Rede, in der er den «Aufbau des Sozialismus» und das angeblich sorgenfreie Leben der Exilanten in der Sowjetunion pries: «Unter Stalins Führung schritten die Völker der Sowjetunion, ungeachtet aller Sabotageversuche der Parteifeinde, von Sieg zu Sieg, schufen sich eine sozialistische Wirtschaft und alle Voraussetzungen eines freien glücklichen Lebens (…) Unter Stalins Führung gaben sich die Völker der großen Sowjetunion eine Verfassung, die wahrhaft freieste und beste, die die Welt bisher gekannt (…) Unter Stalins Führung marschieren 170 Millionen, ein Bund freier Völker, als erste in der Geschichte der Menschheit einer sozialistischen, klassenlosen Gesellschaft entgegen (…) Wir hier anwesenden deutschen Schriftsteller haben das große Glück, am friedlichen Aufbau des Sozialismus teilnehmen zu können, wir genießen Asylrecht und können vollberechtigte Sowjetbürger werden. Jeder neue Erfolg im sozialistischen Aufbau versetzt uns in Freude. Die sprunghaft ansteigenden Leistungen der Stachanow-Arbeiter, die Fortschritte der Arbeiter des Verkehrswesens, die Heldentaten unserer kühnen Sowjetflieger, die feste beharrliche Friedenspolitik der Sowjetunion, das ganze, von sozialistischem Enthusiasmus erfüllte Sowjetleben reißt uns deutsche Schriftsteller immer wieder mit und spornt uns zu immer weiteren und größeren Leistungen an. Und daß wir unter guten materiellen Bedingungen leben, unter weit besseren, als wir jemals in Deutschland hatten, das danken wir der kommunistischen Partei und unserem Führer, Genossen Stalin» (großer Beifall).
In derselben Rede fordert Bredel darüber hinaus «Untersuchungen» gegen die exilierten deutschen Schriftsteller: «Dieser Arm der deutschen Faschisten, ‹der bis nach Moskau reicht›, wurde jetzt abgeschlagen (Großer Beifall). Die große Freude, die tiefe Genugtuung, die auch besonders wir in der Sowjetunion lebenden deutschen Genossen dabei empfinden, stellt aber eine Frage nur um so eindringlicher vor uns: Haben wir alles getan, um das Eindringen des Feindes in unsere Reihen zu verhindern, wir werden in unserem Kreis die Frage schnell und gewissenhaft stellen und jeden Einzelnen von uns einer Prüfung unterziehen.»
Diese Versammlung hatte für Johannes R. Becher und Hans Günther, die vor dem offiziellen Ende den Saal verlassen hatten, weitreichende Folgen. Beiden wird dieser Bruch der «Parteidisziplin» in den nächtlichen Versammlungen der deutschen kommunistischen Schriftsteller mehrfach vorgeworfen, und beide bekennen reumütig, einen «schweren politischen Fehler» begangen zu haben. Bei dem prominenten Johannes R. Becher wird daraus eine noch 1939 weitertransportierte Eintragung in der «Kaderakte», während bei Hans Günther dieses vorzeitige Verlassen der Versammlung zu seiner nachfolgenden Verhaftung und zur Verurteilung durch das Sondertribunal des NKWD beiträgt.
Die «Säuberung» der deutschsprachigen Schriftsteller wird durch eine weitere Veröffentlichung in der Moskauer Deutschen Zentral-Zeitung publizistisch vorbereitet. Als Verfasser des anonym erschienenen Artikels «Fauler Liberalismus hilft dem Feind» ist der stets wachsame DZZ-Redakteur Hugo Huppert anzunehmen. Hier werden bereits zahlreiche Themen vorgegeben, die in den nächtlichen Sitzungen der deutschen Schriftsteller Anfang September dann verhandelt werden: «Diese toll gewordenen Hunde, die Agenten des Faschismus sind ausgerottet auf Forderung unseres Volkes, von dem jeder einzelne Sohn bereit ist, mit seinem Leben unseren großen Führer Stalin, unsere Partei und unsere Heimat zu schützen. (…) Genosse Stalin hat uns wiederholt darauf hingewiesen, daß mit dem Wachstum und dem Aufblühen der Sowjetunion der Feind immer gemeiner, immer hinterhältiger wird. (…) Deshalb ist es die Pflicht jedes einzelnen Bürgers in unserem Lande, die Weisung unseres Führers – Wachsamkeit und nochmals Wachsamkeit – zu beachten. (…) Theorien, die Kunst und Wissenschaft von der Politik trennen wollen, nützen nur dem Feind, so harmlos sie auch aussehen mögen, und schwächen unsere Wachsamkeit.»
In den nächtlichen Versammlungen der exilierten Schriftsteller werden die folgenden Versatzstücke wieder auftauchen: «Es gibt sogar noch kommunistische Schriftsteller, die meinen, daß Schriftsteller nicht mit dem üblichen Maß gemessen werden dürften, sondern ‹besonders› zu behandeln sind. Gerade von Schriftstellern, die Genosse Stalin als Ingenieure der Menschenseele bezeichnet hat, müssen wir höchste ideologische Klarheit und ein einwandfreies klassenmäßiges Verhalten fordern.»
In diesem DZZ-Artikel wird von Huppert bereits die Kaderpolitik Andor Gabórs angeprangert, und nach einer vorgängigen Veröffentlichung der Literaturnaja gazeta wird Karl Schmückle als «Doppelzüngler» ausgemacht: «Der aus der Partei ausgeschlossene Doppelzüngler Karl Schmückle hat die Partei lange Zeit schamlos betrogen und sein Treiben bis zum heutigen Tage fortgesetzt.»
Als Versammlungsort für das exorzistische Ritual der «Säuberung» dienten wahrscheinlich die Redaktionsräume der Zeitschrift Internationale Literatur in einem Bürogebäude am Moskauer Kusnjezki-Most Nr. 12. Unterbrochen wurden die nächtlichen Zusammenkünfte nur am Sonntag, dem 6. September 1936. Die Sitzungen dauerten am 4. September von 18 Uhr bis 3 Uhr und am 5. September von 17 Uhr bis 3 Uhr, wie Hugo Huppert in seinem Tagebuch vermerkte. Am 7. September wurde die Sitzung um 2 Uhr nachts beendet, wie das Stenogramm vermerkt, und am 8. September um 5 Uhr morgens.
Während der flagellantischen Nachtsitzungen erhoben deren Teilnehmer denunziatorische Beschuldigungen gegen zahlreiche, bereits verhaftete KPD-Mitglieder. Zugleich wurden durch wechselseitige Anklagen die «Begründungen» für nachfolgende Verhaftungen geliefert. Als Vertreter der Komintern genossen Heinrich Meyer (Deckname: Most) ebenso wie der Vertreter der KPD, Heinrich Wiatrek (Deckname: Weber), und der Parteiorganisator Alexander (Sándor) Barta zumindest noch während der Sitzungen jene Immunität, die ihnen ihre Zugehörigkeit zur Parteihierarchie verlieh. Als zunächst noch sakrosankte Anklagevertreter wurden aber sowohl Heinrich Meyer wie Alexander Barta in den nächsten Jahren ebenfalls Opfer des stalinistischen Terrors.
Auch die bereits im März 1936 im Verband der Sowjetschriftsteller geführte «Formalismus-Debatte» besaß nicht nur wegen ihrer siebentägigen Dauer ähnlich inquisitorischen Charakter, wie Sinkó berichtet: «Im Laufe der Diskussion über Formalismus und Naturalismus griff ein Schriftsteller einen anderen mit der Behauptung an, er habe einem Freund, der wegen Trotzkismus nach Sibirien deportiert worden sei, dorthin warme Unterwäsche geschickt. Der (Apostrophierte Pilnjak) erhob sich blaß und ganz außer sich, ging zum Podium, bestritt ‹die Anklage›, denunzierte aber seinen Ankläger aus Rache auf ähnliche Weise.»
Den nächtlichen «Säuberungs-Sitzungen» der deutschen Parteigruppe im Sowjetschriftstellerverband vom 4. bis 9. September 1936 folgen weitere gegenseitige Denunziationen und auch eine weitere «Säuberung», die die exilierte Schriftstellerin Hedda Zinner erst 1989 beschreibt: «Wir erlebten eine Parteisitzung, die uns zutiefst deprimierte. Schriftsteller, Genossen, die sich selbst bezichtigten, falsch, parteifeindlich gehandelt zu haben, die behaupteten, mit diesem oder jenem gesprochen zu haben (…) und dadurch falsche Schlüsse provoziert zu haben. Ich hatte manchmal den Eindruck, Ausbrüche von Hysterikern und Nervenkranken zu erleben. Auch Richtungskämpfe schienen mitunter zum Ausgangspunkt von Denunziationen geworden zu sein, die schlimme Folgen zeitigten. Besonders die Genossen Kurella und Leschnitzer konnten sich nicht genugtun in Selbstanklagen. Das Ganze war unangenehm, dabei bedauerte ich die Genossen, die sich offensichtlich in einem furchtbaren Zustand befanden. Unter den deutschen Emigranten gingen Gerüchte um, daß Alfred Kurella seinen Bruder Heinrich denunziert habe, der daraufhin abgeholt worden sei; von Franz Leschnitzer hieß es, daß er seine Frau...
Erscheint lt. Verlag | 23.3.2018 |
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Co-Autor | Johannes R. Becher, Georg Lukács, Friedrich Wolf |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Exilschriftsteller • Exilschriftstller • Moskau • Schauprozess • Stalin • Wortprotokolle |
ISBN-10 | 3-688-10954-6 / 3688109546 |
ISBN-13 | 978-3-688-10954-8 / 9783688109548 |
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