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Rückkehr nach Lemberg (eBook)

Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
592 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490456-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rückkehr nach Lemberg -  Philippe Sands
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»Kein Roman kann sich mit einem solch wichtigen Werk der Wahrheit messen.« Antony Beevor Als der bekannte Anwalt für Menschenrechte Philippe Sands eine Einladung nach Lemberg erhält, ahnt er noch nicht, dass dies der Anfang einer erstaunlichen Reise ist, die ihn um die halbe Welt führen wird. Er kommt einem bewegenden Familiengeheimnis auf die Spur, und stößt auf die Geschichte zweier Männer, die angesichts der ungeheuren NS-Verbrechen alles daran setzten, diese juristisch zu fassen. Sie prägten die zentralen Begriffe, mit denen seitdem der Schrecken benannt und geahndet werden kann: »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und »Genozid«. Meisterhaft verwebt Philippe Sands die Geschichte von Tätern und Anklägern, von Strafe und Völkerrecht zu einer kraftvollen Erzählung darüber, wie Verbrechen und Schuld über Generationen fortwirken. »Ein Buch wie kein anderes, das ich gelesen habe - man kann es nicht weglegen und vergessen.« Orlando Figes »Über die Geburtsstunde der internationalen Menschenrechte und zugleich ein zartes Familienporträt ... bewegend und fesselnd.« Adam Thirlwell »Erstaunlich und wichtig.« Louis Begley »Überwältigend, erschütternd ... ?Rückkehr nach Lemberg? ist eines der außergewöhnlichsten Bücher, das ich je gelesen habe.« Antonia Fraser »Ein schönes und notwendiges Buch.« A. L. Kennedy

Philippe Sands, geboren 1960, ist Anwalt und Professor für Internationales Recht und Direktor des Centre for International Courts and Tribunals am University College London. Leidenschaftlich setzt er sich für humanitäre Ziele und das Völkerrecht ein. Er formulierte u. a. die Anklage gegen den chilenischen Diktator Pinochet. 2020 erschien von ihm »Die Rattenlinie - ein Nazi auf der Flucht«, 2017 »Rückkehr nach Lemberg«, das mit dem renommierten Baillie Gifford Prize und dem Wingate Literaturpreis 2016 ausgezeichnet und Buch des Jahres bei den British Book Awards 2017 wurde. 

Philippe Sands, geboren 1960, ist Anwalt und Professor für Internationales Recht und Direktor des Centre for International Courts and Tribunals am University College London. Leidenschaftlich setzt er sich für humanitäre Ziele und das Völkerrecht ein. Er formulierte u. a. die Anklage gegen den chilenischen Diktator Pinochet. 2020 erschien von ihm »Die Rattenlinie – ein Nazi auf der Flucht«, 2017 »Rückkehr nach Lemberg«, das mit dem renommierten Baillie Gifford Prize und dem Wingate Literaturpreis 2016 ausgezeichnet und Buch des Jahres bei den British Book Awards 2017 wurde.  Reinhild Böhnke wurde 1944 in Bautzen geboren und ist als literarische Übersetzerin in Leipzig tätig. Sie ist Mitbegründerin des sächsischen Übersetzervereins. Seit 1998 überträgt sie die Werke J. M. Coetzees ins Deutsche, außerdem hat sie u.a. Werke von Margaret Atwood, Nuruddin Farah, D.H. Lawrence und Mark Twain ins Deutsche übertragen.

Wenn man in diesem Winter nur für ein einziges Buch Zeit hätte, müsste man dieses lesen. Es ist brillant nüchtern erzählt, in einer berückenden Klarheit.

ein großartiges Werk. Es ist ein glänzend und unterhaltsam geschriebenes Buch, erzählt, wie ein Roman, eine Darstellung, die sich aber an die Fakten hält

Insgesamt ein unentwirrbares Gemenge aus grosser und kleiner Geschichte, ein Beispiel meisterlicher Recherche

eines der spannendsten, lesbarsten, klügsten, bewegendsten - schlicht besten ›Sachbücher‹ [...] Mit anderen Worten: große Literatur.

Die meisterhaft verwobene Erzählung von Familiengeschichte und Rechtsgeschichte erstreckt sich über mehr als 100 Jahre. [...] Sands' persönlicher, ja intimer Ansatz berührt.

Wie Sands in seinem Buch familien­- und rechtshistorische Linien verwebt, […] macht aus dem Kernstoff – der Familienrecherche – ein Dokument grosser emotionaler und politischer Kraft.

Ein faszinierendes Buch, das auf ganz beiläufige Weise die Grundfragen unserer Existenz aufwirft.

Mit den Biografien dieser Menschen verwebt Philippe Sands die Geschichte eines Jahrhunderts. Er erzählt, wie Geschichte entsteht.

Donnerstag, 16. Oktober 2014,
Justizpalast in Nürnberg


Achtundsechzig Jahre später besuchte ich den Gerichtssaal 600 in Begleitung von Hans Franks Sohn Niklas, der ein kleiner Junge gewesen war, als sein Vater ihm dieses Versprechen gegeben hatte.

Niklas und ich begannen unseren Besuch in dem trostlosen, leeren Flügel des nicht mehr genutzten Gefängnisses hinter dem Justizpalast, dem einzigen der vier Flügel, der noch stand. Wir saßen gemeinsam in einer kleinen Zelle, ähnlich der, in der sein Vater fast ein Jahr verbracht hatte. Zum letzten Mal war Niklas im September 1946 in diesem Gebäudeteil gewesen. »Es ist der einzige Raum auf der Welt, wo ich meinem Vater ein klein wenig näher bin«, sagte er zu mir, »wenn ich hier sitze und an ihn denke, wie er ungefähr ein Jahr lang hier drinnen gewesen ist, mit einer offenen Toilette, einem kleinen Tisch und Bett und sonst nichts.« Die Zelle war gnadenlos, und das war auch Niklas im Hinblick auf die Taten seines Vaters. »Mein Vater war Rechtsanwalt; er wusste, was er tat.«

Der Gerichtssaal 600, der immer noch benutzt wird, hatte sich seit der Zeit des Prozesses nicht wesentlich verändert. Damals im Jahr 1946 musste jeder der einundzwanzig Angeklagten auf dem Weg von den Zellen in den Gerichtssaal einen engen Fahrstuhl benutzen, eine Vorrichtung, die Niklas und ich sehen wollten. Sie war noch vorhanden, hinter der Bank, auf der die Angeklagten saßen. Man betrat den Fahrstuhl durch eine alte Holztür, die sich so geräuschlos wie je öffnete. »Auf, zu[3], auf, zu«, schrieb R.W. Cooper von The Times, London, der frühere Tennisreporter, der täglich über den Prozess berichtete. Niklas ließ die Tür aufgleiten, betrat den engen Raum und schloss dann die Tür hinter sich.

Als er wieder herauskam, ging er zu dem Platz, auf dem sein Vater während des Prozesses gesessen hatte, in dem er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozids angeklagt worden war. Niklas setzte sich und stützte sich vorn auf das Holzgeländer. Er sah mich an, blickte sich im Saal um und seufzte dann. Ich hatte mir oft Gedanken gemacht über den Augenblick, als sein Vater das letzte Mal durch die Tür des Aufzugs getreten und zur Anklagebank gegangen war. Es existiert kein Filmmaterial, denn am letzten Nachmittag des Prozesses, am Dienstag, dem 1. Oktober 1946, durfte nicht gefilmt werden. Das geschah, um die Würde der Angeklagten zu wahren.

Niklas’ Stimme unterbrach meine Gedanken. Er sprach leise und bestimmt: »Das ist ein glücklicher Raum[4], für mich und für die Welt.«

 

Dass Niklas und ich uns gemeinsam im Gerichtssaal 600 befanden, verdankte sich einer überraschenden Einladung, die ich einige Jahre zuvor erhalten hatte. Sie stammte von der juristischen Fakultät der Universität jener Stadt, die heute unter dem Namen Lwiw bekannt ist. Man lud mich ein, einen öffentlichen Vortrag über meine Arbeit zu halten, die sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid dreht. Die Fakultät bat mich, über die Fälle zu berichten, an denen ich beteiligt gewesen war, sowie über meine Forschungen zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozess und dessen Folgen für unsere heutige Welt.

Mich hatten der Prozess und der Mythos von Nürnberg seit langem fasziniert als der Moment, der als die Geburtsstunde unserer modernen internationalen Gerichtsbarkeit gilt. Ich war gebannt von den seltsamen Details, die man in den umfangreichen Protokollen finden konnte, und von den grauenhaften Beweisen, mich interessierten die vielen Bücher, Lebenserinnerungen und Tagebücher, die in forensischer Genauigkeit die Zeugenaussagen vor Gericht wiedergaben. Mich fesselten die Bilder, Fotos, Wochenschauen und Filme wie Judgment at Nuremberg (Das Urteil von Nürnberg), der 1962 den Oscar gewann und durch sein Thema und durch Spencer Tracys Flirt mit Marlene Dietrich unvergesslich blieb. Ein praktischer Grund für mein Interesse war, dass der Prozess nachhaltigen Einfluss auf meine Arbeit gehabt hatte: Denn der Urteilsspruch von Nürnberg verschaffte der aufkeimenden Menschenrechtsbewegung kräftigen Auftrieb. Ja, es gab einen starken Beigeschmack von »Siegerjustiz«, doch hatte der Fall zweifellos eine katalytische Wirkung, weil er erstmals die Möglichkeit eröffnete, den Führern eines Landes vor einem internationalen Gerichtshof den Prozess zu machen.

Sehr wahrscheinlich hatte ich die Einladung aus Lwiw eher meiner Arbeit als Anwalt zu verdanken als meinen Büchern. Im Sommer 1998 war ich am Rande an den Verhandlungen in Rom beteiligt, die zur Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes (ISTGH) führten, und einige Monate später arbeitete ich am Pinochet-Fall in London mit. Der frühere Präsident Chiles, der von einem spanischen Staatsanwalt wegen Genozids und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt worden war, hatte sich vor britischen Gerichten auf Immunität berufen und war gescheitert. In den Jahren danach sorgten andere Fälle dafür, dass sich die Pforten der internationalen Strafjustiz nach einer Periode des Stillstands während des Kalten Krieges, der auf den Nürnberger Prozess folgte, allmählich wieder öffneten.

Fälle aus dem früheren Jugoslawien und aus Ruanda landeten bald auf meinem Schreibtisch in London. Es folgten Fälle aus dem Kongo, aus Libyen, Afghanistan und Tschetschenien, aus dem Iran, Syrien und dem Libanon, aus Sierra Leone, Guantánamo und dem Irak. Die lange, traurige Liste zeigte deutlich, dass die guten Absichten aus dem Gerichtssaal 600 in Nürnberg erfolglos geblieben waren.

Ich bekam es mit mehreren Fällen von Massenmord zu tun. Einige wurden als Verbrechen gegen die Menschlichkeit – die Tötung einzelner Menschen im großen Maßstab – behandelt, und andere führten zur Anklage wegen Genozids – der gezielten Vernichtung von nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Bevölkerungsgruppen. Diese zwei unterschiedlichen Straftatbestände, mit ihren jeweiligen Schwerpunkten auf dem Individuum und der Gruppe, entwickelten sich parallel, doch im Laufe der Zeit erschien vielen Menschen der Genozid als das Verbrechen aller Verbrechen. Ganz so, als gäbe es eine interne Rangfolge und als wäre es weniger schrecklich, eine große Anzahl von Individuen zu töten. Gelegentlich erhielt ich Hinweise auf die Herkunft und den Zweck der beiden Begriffe sowie auf ihren Zusammenhang mit den Verhandlungen im Gerichtssaal 600. Doch stellte ich nie allzu gründliche Nachforschungen darüber an, was in Nürnberg geschehen war. Ich wusste, wie diese neuen Straftatbestände entstanden waren und wie sie sich später entwickelt hatten, doch ich wusste wenig über die damit verbundenen persönlichen Geschichten oder wie es dazu kam, dass die beiden Verbrechen im Strafverfahren gegen Hans Frank zur Anklage kamen. Auch über die persönlichen Umstände, unter denen Hersch Lauterpacht und Raphael Lemkin ihre unterschiedlichen Ideen entwickelten, wusste ich nichts.

Die Einladung aus Lwiw bot eine Chance, diese Geschichte zu erforschen.

 

Ich ergriff sie aus noch einem anderen Grund: Mein Großvater Leon Buchholz wurde dort geboren. Ich kannte den Vater meiner Mutter viele Jahre lang – er starb 1997 in Paris, einer Stadt, die er liebte und Heimat nannte –, doch ich wusste wenig über die Jahre vor 1945, weil er nicht über sie sprechen wollte. Sein Leben umspannte das gesamte 20. Jahrhundert, und als ich ihn kennenlernte, war seine einstmals große Familie zusammengeschrumpft. Das begriff ich, aber nicht in welchem Ausmaß oder unter welchen Umständen. Eine Reise nach Lwiw bot die Möglichkeit, mehr über jene schmerzlichen Jahre zu erfahren.

Ein paar wenige Informationen hatte er preisgegeben, doch zum größten Teil hatte Leon die erste Hälfte seines Lebens in einer Gruft verschlossen. Die damaligen Ereignisse mussten in den Nachkriegsjahren große Auswirkungen auf meine Mutter gehabt haben, doch sie waren auch für mich wichtig, hatten sie doch folgenreiche Spuren und viele unbeantwortete Fragen hinterlassen. Warum hatte ich mich für eine juristische Laufbahn entschieden? Und warum für ein juristisches Gebiet, das offenbar mit einer unausgesprochenen Familiengeschichte verbunden war? »Nicht die Gestorbenen[5] sind es, die uns heimsuchen, sondern die Lücken, die aufgrund von Geheimnissen anderer in uns zurückgeblieben sind«, schrieb der Psychoanalytiker Nicolas Abraham über die Beziehung zwischen Enkeln und Großeltern. Die Einladung nach Lwiw war eine Möglichkeit, diese verstörenden Lücken zu erkunden. Ich nahm sie an und brachte dann einen Sommer damit zu, den Vortrag zu verfassen.

 

Eine Karte zeigte Lwiw genau in der Mitte Europas; die von London aus nicht leicht zu erreichende Stadt lag am Schnittpunkt gedachter Linien, die Riga mit Athen verbanden, Prag mit Kiew, Moskau mit Venedig. Hier kreuzten sich die Verwerfungslinien, die den Osten vom Westen und den Norden vom Süden trennen.

Einen Sommer lang vertiefte ich mich in die Literatur über Lwiw. In Bücher, Karten, Fotos[6], Wochenschauen, Gedichte, Lieder – eigentlich alles, was ich über die Stadt der »verwischten Grenzen«, wie Joseph Roth sie nannte, finden konnte. Mich interessierten besonders[7] die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts, als Leon in dieser Stadt der »polyglotten Farbigkeit« lebte, dem...

Erscheint lt. Verlag 25.1.2018
Übersetzer Reinhild Böhnke
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 20. Jahrhundert • Baltikum • Hans Frank • Hersch Lauterpacht • Holocaust • Internationales Strafrecht • Jüdische Geschichte • Kriegsverbrechen • Litauen • Nationalsozialismus • Nürnberger Prozesse • Polen • Raphael Lemkin • Sowjetunion • Ukraine • Verbrechen gegen die Menschlichkeit • Völkermord • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-10-490456-1 / 3104904561
ISBN-13 978-3-10-490456-6 / 9783104904566
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