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Ich wußte nie, was mit Vater ist (eBook)

Das Trauma des Krieges
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10518-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich wußte nie, was mit Vater ist -  Wolfgang Schmidbauer
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Die seelischen Folgelasten in den Kriegs- und Nachkriegsgenerationen sind das Thema des prominenten Gesellschafts- und Psychoanalytikers Wolfgang Schmidbauer. Im geschützten Raum der Therapie hört und beobachtet er den Nachhall jener verheerenden Gewaltexplosionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, an denen Millionen von Menschen gelitten haben. An ihren Folgen tragen auch ihre Kinder und Enkel noch heute. Auf extreme Belastungen - an der Front, auf der Flucht, im KZ - reagieren Erwachsene durch «psychische Zentralisation». Mit diesem Begriff faßt Schmidbauer die seelischen Folgen für Menschen, deren normaler Reizschutz längere Zeit überfordert wird. Ihre Phantasie- und Gefühlstätigkeit wird eingeschränkt auf das lebensnotwendige Minimum. Die Anstrengungsbereitschaft und das Interesse für alles, was nicht mit dem unmittelbaren physischen Überleben zu tun hat, nehmen ab. Vergangenheit und Zukunft werden belanglos. Im Krieg ist chronische Traumatisierung die Regel. Posttraumatisch führt die Zentralisation zu seelischen Verhärtungen, die verhindern sollen, daß schmerzhafte Erlebnisse das Ich erneut überschwemmen. Wolfgang Schmidbauer beginnt mit zwei erschütternden Fallgeschichten aus seiner Praxis. Er diskutiert daran die verschiedenen psychischen Deformationen durch Traumatisierung im Krieg und ihre oft rätselhaft verschlüsselten Folgen für die Nachkommen.

Wolfgang Schmidbauer wurde 1941 geboren. 1966 promovierte er im Fach Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München über «Mythos und Psychologie». Er lebt in München und Dießen am Ammersee, hat drei erwachsene Töchter und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis. Neben Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, hat er auch eine Reihe von Erzählungen, Romanen und Berichten über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben. Er ist Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften. Außerdem ist er Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.

Wolfgang Schmidbauer wurde 1941 geboren. 1966 promovierte er im Fach Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München über «Mythos und Psychologie». Er lebt in München und Dießen am Ammersee, hat drei erwachsene Töchter und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis. Neben Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, hat er auch eine Reihe von Erzählungen, Romanen und Berichten über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben. Er ist Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften. Außerdem ist er Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.

1 Einleitung: Traumatisierte Eltern und die «zweite Generation»


Der Krieg ist der Vater

aller Dinge.

Heraklit (550–480)

Als Gymnasiast lernte ich einen griechischen Satz kennen, ein Beispiel für die Aussagen der Vorsokratiker, die nach der Wurzel des Seins suchten und Ur-Elemente beschrieben: das Wasser, die Erde, das Feuer. Heraklit nannte den Krieg. Es schien mir übertrieben und doch eindrucksvoll, die Kraft der Zerstörung als Zeugungsmacht anzusehen, und es ist ein Zeichen für die Beharrlichkeit dieser früh erworbenen Fragmente, daß ich jetzt diesen Satz einer Untersuchung voranstelle, die sich mit der Verarbeitung von Geschichte im Alltag befaßt.

Vielleicht prägte sich mir die Verbindung von Vater und Krieg ein, weil mein eigener Vater als Soldat gefallen war. Ich nahm das als kleines Kind ohne bewußte Trauer zur Kenntnis, mit jenem Respekt vor Tatsachen, den Kinder haben. Die Fotografie eines lächelnden Mannes mit schmalen Lippen und Achselstücken stand immer auf dem Schrank im Wohnzimmer. Das war mein Vater, und ich bemühte mich manchmal, durch angestrengtes Starren auf das Bild eine mimische Reaktion zu erhalten, wie mein Bruder und ich es vor dem Einschlafen bei der Goethebüste auf dem Bücherschrank versucht hatten, die bald grämlich, bald heiter auf uns herabzublicken schien.

Wir waren in München ausgebombt worden. Seit 1944 standen unsere Gitterbetten – meines und das eines zwei Jahre älteren, 1939 geborenen Bruders – in der Bibliothek des Großvaters in Passau. Die Goethebüste aus weißem Alabaster hob sich von den bronzenen Nachgüssen etruskischer Krüge ab, die auf einem schwarzen Schrank gruppiert waren.

Wir sagten «He, Kröte-Goethe», und er verzog voller Vorwurf den Mund. Solches Sakrileg hätten wir bei unserem Vater nicht gewagt. Es gab keinen Schatten, der auf ihn fiel. Mit einer verworrenen Klugheit überlegte ich öfter, daß ein wirklicher Vater, gemessen an diesem idealen, doch auch Nachteile gehabt hätte, denn es war gewiß schwerer, mit zweien dieser uneinsichtigen Erwachsenen umzugehen als mit nur einer, meiner Mutter, die ich rasch als letzte Instanz in allen Dingen erkannt hatte.

Meine eigene Erfahrung mit den Folgen des Krieges auf die nächste Generation ist eine des Verlustes, der Idealisierung und einer heftigen Angst vor Entwertung. Sie mag typisch sein für die Gruppe der Kriegs(halb)waisen. Sicherlich habe ich als kaum Zweijähriger in einer vorbewußten Weise mitbekommen, daß mein Vater gefallen, die Familie unvollständig geworden war. Als ich zu meiner Ausbildung selbst eine Psychoanalyse absolvieren sollte, suchte ich mir einen Mann, der vom Alter mein Vater hätte sein können und den Krieg in Rußland ebenso wie dieser kennengelernt, aber überlebt hatte. Wir dachten darüber nach, inwieweit eine heftige Trauerreaktion meiner Mutter verantwortlich sein könnte für Angstzustände, die bei mir im Zusammenhang mit Situationen auftraten, in denen ich mich zugleich ohnmächtig und verantwortlich fühlte, mich weder entziehen noch das Chaos um mich ordnen konnte. Später vermutete ich noch, daß meine schon früh bemerkbare Leidenschaft für das Schreiben damit zusammenhing, daß auf diese Weise, wenn schon nicht die Dinge, so doch die Wörter geordnet werden können.

Damit hörten die Folgen des Krieges auf, mich zu beschäftigen. Ich nahm sie zur Kenntnis, wenn ich davon hörte. Zuhören wurde schließlich neben dem Schreiben mein Beruf. Aber ich fragte nicht weiter nach und erschloß mir keine Zusammenhänge, wie ich es bei den Themen tat, die mich fesselten, den narzißtischen Störungen der beruflichen Helfer etwa oder der Nähe-Angst. Ich erinnere mich noch an einen Klienten, einen Arzt, der wegen seiner Depressionen und Kontaktprobleme in die Therapie kam. Er litte sehr darunter und konnte doch nicht anders, als sich tagelang gekränkt aus seiner Ehe zurückzuziehen, wenn seine Frau ein falsches Wort sagte. Immer noch schien er mit seinem Vater zu hadern, der – wie er berichtete – «verroht aus dem Kriege zurückkam». Das Wort «verroht» fiel mir auf, aber es dauerte noch einige Jahre, ehe sich solche Eindrücke allmählich zu einem Bild kondensierten.

Andere Eindrücke kamen hinzu. Einer war das Gespräch mit einem Landarbeiter, der den Olivenhain meines Nachbarn in der Toscana pflegte. Er faßte sein Leben in den melancholischen Satz: «La guerra mi ha rubato la gioventù.» Der Krieg in Abessinien, Libyen und vor allem die Gefangenschaft hatten ihm die Jugend gestohlen. Er war als Achtzehnjähriger ausgezogen, kam als Fünfundzwanzigjähriger zurück, von Verwundungen gezeichnet, erschöpft. Er hatte nichts gelernt, als zu überleben. Das Leben sollte jetzt beginnen, aber es schien ihm immer schwer, sich zu freuen. «Im Krieg habe ich das Lachen verlernt», pflegte ein anderer dieser Heimkehrer zu sagen, den ich nicht persönlich, sondern aus den Berichten seines Sohnes kennenlernte, in denen sich Furcht, Haß und eine verschüttete Verehrung mischten.

In einer der Fallgeschichten zur Nähe-Angst griff ich das Thema der psychologischen Folgen solcher Traumatisierungen der Väter für die Töchter auf. Ich beschrieb unter dem Titel «Kriegskind und Friedensschwester» Zweitgeborene, die von Heimkehrern gezeugt worden waren. Die Mutter hatte sich während der Trennung vom Ehemann eng an ihre erstgeborene Tochter gebunden. Als der heimgekehrte Vater eine zweite Tochter zeugte, hatte die Mutter dieses scheinbar begünstigte Friedenskind aus Pflichtgefühl angenommen und versorgt. Der Vater aber begegnete ihm in einer brisanten Mischung aus überhitzter Aufmerksamkeit und verborgenem Sadismus.

Das Kind stand anscheinend für die ihm geraubte Jugend. Es verköperte sie, solange es genau so war, wie er es sich wünschte. Aber es wurde zum Räuber, zum Dieb, wenn es anders war, als er es sich vorstellte. Zärtlichkeit und Zynismus, Verführung zu großer Nähe und brutale Kränkung, Bewunderung und bösartige Kritik wechselten in verwirrender, für die Töchter undurchschaubarer Folge. Ich habe solche Beziehungen zwischen Kriegsheimkehrern und ihrer Tochter inzwischen mehrfach untersuchen können. Es gab eine charakteristische Abfolge von früher Verehrung und späterem Haß, der sich manchmal wieder milderte, oft aber bis zur Psychoanalyse oder bis zum Tod des Vaters die Beziehung bestimmte.

Immer tauchte die Begeisterung, mit der sich der Vater dem kleinen Mädchen zuwandte, das auf seinen Schultern reiten und den Schaum von seinem Bier trinken durfte, in der Analyse erst nach geraumer Zeit auf. Viel prägender war die Roheit geworden, mit der er den autonomen Strebungen des Kindes begegnete. Dieser Vater konnte nicht ertragen, daß ein Kind heranwuchs und seine Lebensaufgabe nicht darin sah, ihn für die verlorene Jugend zu entschädigen, sondern die eigene Jugend auszuleben.

Daher war vom Beginn der Pubertät an bei diesen Töchtern die einst zärtliche Vaterbeziehung in einen Kampf mit sadomasochistischen Zügen entgleist; der Vater strafte eine Tochter, deren Lebenslust ihn provozierte; die Tochter verknüpfte in ihren Provokationen den Wunsch nach Eigenständigkeit mit einem geheimen Schuldgefühl. Es schien, als könne sie sich nur von dem bösen, nicht aber von dem guten Vater lösen. Dahinter stand eine instabile Identifizierung mit der Mutter, die wohl den frühen Störungen dieser Beziehung geschuldet war.

Weil sich das kleine Mädchen geweigert hatte, den stummen Vorbehalt der Mutter gegen den roh aus dem Krieg heimgekehrten Mann zu unterstützen, konnte die heranwachsende Frau jetzt in ihr keine Vertraute finden, die ihr half, sich vom Vater abzulösen. Sie stürzte sich in eine verfrühte Selbständigkeit. Die Identität, die sie aufbaute, war eher intellektuell, den eigenen Gefühlen entfremdet, von einer Überanpassung an Leistungsforderungen gestützt. Das ebnete ihre berufliche Karriere, erschwerte jedoch Liebesbeziehungen. Es schien, als ob diese Frauen mit den Partnern ihrer intimen Beziehungen immer neu inszenieren würden, was sie von ihren Vätern erlitten hatten. Sie bewunderten kurz und kritisierten bald erbarmungslos, was sie bewundert hatten.

Der Krieg wird vor allem von den Männern in den Frieden getragen. In der Kindheitssituation der meisten Menschen spielen Frauen aber eine größere Rolle. Der traumatisierte Soldat prägt das Familienklima nicht allein. Die Mutter kann seine Wirkungen neutralisieren, auffangen, zumindest eine Gegenposition beziehen. Sein Einfluß bleibt groß, denn eine vom Vater im Stich gelassene oder gar mißhandelte Mutter kann den Kindern nur noch wenig Halt geben, selbst wenn sie sich darum bemüht und sich nicht ihrerseits an sie als Ersatzpartner und narzißtische Stützen klammert. Darüber hinaus können Kriegsfolgen wie Vertreibung, Vergewaltigung, Verlust naher Angehöriger auch die Mütter in einer Weise belasten, die unter den sicheren Lebensumständen der letzten fünfzig Jahre kaum mehr denkbar erscheint.

Erst als ich viele einschlägige Szenen aus der Kindheit meiner Analysandinnen und Analysanden gesammelt hatte, entdeckte ich, daß auch ich als Kind Zeuge einer Familiengeschichte wurde, die von einem Kriegstrauma bestimmt war. Es verwirrte mich, das Naheliegende übersehen zu haben, und erschien mir doch vertraut, denn auch meinen Patienten war es kaum je spontan eingefallen, Merkwürdigkeiten ihrer Väter mit deren Kriegserlebnissen zu verbinden.

Als meine Mutter mit ihren beiden Söhnen ausgebombt wurde und in den Haushalt der Passauer Großeltern zurückzog, kam ich in eine Familie, die unter den Traumatisierungen des Ersten Weltkriegs litt. Meine Großmutter war eine energische, in einem Lyzeum erzogene Dame, die französisch sprach und nach jedem...

Erscheint lt. Verlag 22.9.2017
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Erster Weltkrieg • Flucht • Flüchtlinge • Front • Krieg • Kriegsgeneration • Kriegstrauma • Kriegswitwen • Nachkriegsgeneration • Nachkriegszeit • Posttraumatische Belastungsstörung • Soldaten • Therapie • Trauma • Traumatisierung • Weltkrieg • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-688-10518-4 / 3688105184
ISBN-13 978-3-688-10518-2 / 9783688105182
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