Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944 (eBook)
160 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30829-7 (ISBN)
The Bodleian Library, University of Oxford
The Bodleian Library, University of Oxford Klaus Modick, geboren 1951, studierte in Hamburg Germanistik, Geschichte und Pädagogik, promovierte mit einer Arbeit über Lion Feuchtwanger. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt nach diversen Auslandsaufenthalten und Dozenturen wieder in seiner Geburtsstadt Oldenburg. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Nicolas-Born-Preis, dem Bettina-von-Arnim-Preis, dem Rheingau Literatur Preis und zuletzt dem Hannelore-Greve-Preis. Zudem war er Stipendiat der Villa Massimo sowie der Villa Aurora. Zu seinen erfolgreichsten Romanen zählen »Der kretische Gast« (2003), »Sunset« (2011), »Konzert ohne Dichter« (2015) und »Keyserlings Geheimnis« (2018). Zuletzt erschien »Leonard Cohen« (2020) und der Roman »Fahrtwind« (2021) sowie (mit Bernd Eilert) »Nachlese. Hundert Bücher – Ein Jahrhundert« (2024).
Einleitung
Neuneinhalb Monate nach D-Day überschritten dreißigtausend britische Soldaten als Teil des alliierten Angriffs auf Deutschland den Rhein. Bereits im Mai 1943 war vorgeschlagen worden, die Truppen mit einer Art schriftlicher Anleitung auszustatten, wie mit den Ansichten der Deutschen, mit denen sie als Mitglieder einer Besatzungsarmee konfrontiert werden würden, umzugehen sei, und das Ergebnis eingehender Beratungen war diese Broschüre.
Wie schon bei dem früheren Leitfaden für britische Soldaten in Frankreich (von der Bodleian Library ebenfalls neu herausgegeben) bestand die Absicht darin, die Soldaten über eine Reihe von Themen zu informieren, unter anderem deutsche Geschichte, den Nationalcharakter, Politik, Kultur, Essen, Trinken, Währung und Sprache, aber auch die aktuelle Situation zu erklären – einschließlich der Auswirkungen des Kriegs auf Deutschland und das Verhalten der Deutschen gegenüber Engländern. Allerdings gab es einen entscheidenden Unterschied. Während die eigentliche Absicht der früheren Broschüre darin bestanden hatte, zwei Alliierte zusammenzubringen, die, obwohl ihr Verhältnis während des Kriegs nicht ganz einfach gewesen ist, viele gemeinsame Ziele und Wertvorstellungen teilten, bestand das wesentliche Ziel diesmal darin, die Truppen gegen den Einfluss deutscher Propaganda zu immunisieren und die Kontakte zwischen den Besatzern und den Besetzten auf ein Minimum zu reduzieren.
Den Verfassern war schmerzlich bewusst, dass es einer früheren britischen Besatzungsmacht in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg nicht gelungen war, das zu zerstören, was man in der deutschen Geschichte für die vorherrschenden Tendenzen in Sachen Militarismus und Expansionsdrang hielt. Man war sich auch des Einflusses bewusst, den die Nazi-Propaganda auf die deutsche Bevölkerung hatte, und war entschlossen, den britischen Truppen zu erklären, wie sie sich dagegen wehren konnten. Dies führte zu drei prinzipiellen Schlussfolgerungen: dass nämlich alle Deutschen, egal, ob Mitglieder der Nazipartei oder nicht, für den Krieg verantwortlich zu machen seien, dass die Deutschen gründlich umlernen mussten und dass es zwischen Besatzern und Besetzten keine Fraternisierungen geben sollte. Laut Broschüre vertrat man die Ansicht, dass „eine britische Besatzung nicht von Brutalität, aber auch nicht von Nachgiebigkeit oder Sentimentalität geprägt sein darf“. Diesen Satz ließ Feldmarschall Montgomery in seiner Botschaft an die Truppen anklingen, als er sagte: „Der besiegte Feind muss in die Lage versetzt werden, sein Haus in Ordnung zu bringen … Er muss aber auch für den Krieg, den er angezettelt hat, bezahlen … Wir müssen versuchen, uns als kluge Eroberer zu erweisen. So stark, wie wir in der Schlacht waren, so gerecht werden wir im Frieden sein.“ Demnach ist von Anfang an klar, dass der in dieser Broschüre angeschlagene Ton sich bemerkenswert von dem unterscheiden würde, der in den vorherigen Publikationen dieser Reihe angeklungen war. Diese wurden erstellt, um alliierte Soldaten mit befreundeten Ländern vertraut zu machen, und obwohl sie eine ernste Absicht verfolgten, waren sie doch im Ton recht unbeschwert.
Der Ton, der diese Broschüre prägt, kommt am deutlichsten im Sicherheitshinweis am Ende zum Ausdruck: „Deutsche müssen noch so lange als gefährliche Feinde betrachtet werden, bis die endgültige Friedensvereinbarung verabschiedet und die Besetzung Deutschlands beendet sein wird.“ Der größte Teil des Textes diente deshalb dem Zweck, Soldaten vor Mitgefühl mit den Deutschen zu warnen. Dieses Thema wird schon im ersten Absatz des Vorworts behandelt:
„Sie werden in Deutschland viel Leid und viel Mitleiderregendes erleben. Sie werden auch merken, dass viele Deutsche zumindest an der Oberfläche durchaus angenehm zu sein scheinen und sogar versuchen werden, Sie als Freunde willkommen zu heißen.
Das alles mag Sie auf den Gedanken bringen, dass sie ihre Lektion gelernt haben und keine weiteren Belehrungen mehr brauchen. Aber denken Sie immer daran … die Deutschen müssen gründlich umlernen.
Sie müssen auch gründlich Abbitte leisten.“
Die Broschüre vertritt dann den Standpunkt, dass „sich das deutsche Volk als Ganzes einem Großteil der Verantwortung nicht entziehen kann“ und dass nicht einmal das Attentat auf Hitler eine Auflehnung gegen „die Barbarei von Hitlers Methoden, sondern eher gegen deren Erfolglosigkeit“ war. Fraternisierung zwischen den britischen Truppen und den deutschen Zivilisten wurde vom alliierten Oberkommando anfangs untersagt, obwohl es, wie die Broschüre ausführt, „wahrscheinlich zu Situationen kommt, bei denen Sie mit ihnen umgehen müssen, und deshalb ist es notwendig, zu erfahren, um was für einen Menschenschlag es sich handelt“. Die Regeln wurden später etwas gelockert: Anfangs wurden nur Unterhaltungen auf der Straße zugelassen, später wurden Sozialkontakte in einem weit größeren Ausmaß erlaubt, obwohl es den Truppen offiziell verboten blieb, deutsche Frauen zu heiraten.
Es ist interessant, diese Broschüre mit einem Schulungsfilm zu vergleichen, der unter dem Titel „Deine Aufgabe in Deutschland“ etwa zur gleichen Zeit veröffentlicht wurde. Er war von der US- Armee produziert worden, wurde jedoch auch britischen und anderen alliierten Truppen gezeigt, die nach Deutschland einrücken sollten. Vor allem wird im Film eine schärfere Gangart gegenüber der deutschen Bevölkerung vertreten, egal, ob es sich um Zivilisten handelt oder nicht. Ein ähnlicher Schwerpunkt wird beispielsweise auf die deutsche Geschichte gelegt. Einmal heißt es im Kommentar: „Sie werden wunderschöne Landschaften sehen. Lassen Sie sich nicht täuschen. Sie sind in Feindesland. Seien Sie allem und jedem gegenüber wachsam und misstrauisch. Gehen Sie keine Risiken ein. Sie haben es mit mehr zu tun als mit Touristenattraktionen. Sie haben es mit deutscher Geschichte zu tun. Und die ist durchaus schlecht.“
Der Film nimmt Bezug auf deutsche Aggressionen in den Jahren 1870, 1914 und 1939 und stellt dann fest: „Die deutschen Expansionsgelüste sind nicht tot. Sie verstecken sich lediglich … Es kann wieder passieren. Besetzen Sie also Deutschland, um den nächsten Krieg unmöglich zu machen.“ Und die Truppen wurden wiederum vor Fraternisierung gewarnt, indem der Film ihnen erklärte: „Fraternisierung heißt Freundschaft schließen. Das deutsche Volk ist nicht unser Freund. Sie werden sich nicht mit deutschen Männern, Frauen oder Kindern abgeben.“ Während eines kurzen Zeitraums, etwa im Dezember 1944, konnten alliierte Soldaten sogar mit der nicht unbeträchtlichen Summe von £16 bestraft werden, wenn sie mit dem Feind fraternisierten.
Mehr als sechzig Jahre später und nach langer Friedenszeit in Europa, in der Deutschland und Großbritannien zu Alliierten und Partnern in der NATO und der Europäischen Union geworden sind, klingen diese Mahnungen höchst sonderbar, und man könnte meinen, dass auf lange Sicht viel mehr dadurch hätte gewonnen werden können, wenn man Fraternisierungen zwischen den Truppen und der deutschen Zivilbevölkerung gefördert hätte, statt vor ihnen zu warnen. Es gibt in der Tat Beweise, dass damals viele der britischen zivilen und militärischen Führer nicht glücklich über die Regelung waren. Churchills berühmtes Epigraf am Ende seiner Geschichte des Zweiten Weltkriegs – „Im Krieg Entschlossenheit; in der Niederlage Trotz; im Sieg Großherzigkeit; im Frieden Gutwilligkeit“ – zeigt, dass er eine weitere und humanere Vision der Zukunft hatte als die Verfasser dieses Leitfadens. Und trotz der strengen Sätze in seiner Botschaft an die Truppen im September 1945 schrieb Feldmarschall Montgomery später in seinen Memoiren: „Wenn wir jemals die deutsche Bevölkerung umzuerziehen hätten, wäre es eine gute Sache, sich frei mit ihr zu verbinden und ihr unsere Vorstellungen von Freiheit und persönlicher Verantwortung beizubringen.“
Die Ansichten der normalen britischen Soldaten kamen sehr schön in einem Cartoon von Giles zum Ausdruck, publiziert im Daily Express am 22. Juli 1945. Die Zeichnung zeigt eine Gruppe deutscher Frauen, die zwei britischen Soldaten durch einen Wald folgt, während zwei andere Mädchen einen Stolperdraht über den Pfad vor ihnen spannen. Darunter steht: „Schwer für uns Jungs, die wir nicht fraternisieren wollen, nicht wahr?“
Die Truppen konnten ihre Ansichten über Deutschland und die Deutschen auch in den Leserbriefspalten der British Zone Review ausbreiten, eine zweimal im Monat erscheinende Zeitung, die zwischen 1945 und 1949 von der Information Services Division der Kontrollkommission für Deutschland produziert wurde. Bereits in der zweiten Ausgabe wurde ein Brief abgedruckt, aus dem, zumindest für einen Teil der Bevölkerung, Mitleid sprach. Lucia Lawson, eine Subalternoffizierin im A.T.S.[1], schrieb:
„Nachdem wir eben erst sechs Jahre eines Krieges, den wir nicht verschuldet haben, überstanden haben, fällt es schwer zu glauben, dass man Mitleid mit den Menschen haben könnte, die den Krieg verursacht haben, aber ich wette, dass jeder Durchschnittsmann und jede Durchschnittsfrau, die eine Woche in Berlin verbringen, zumindest ein bescheidenes Maß an Mitleid für einige Berliner empfinden werden.“
Dieser Brief führte in der British Zone Review zu einem regen Leserbriefaufkommen sowie einem Leitartikel, der unmissverständlich klar machte, dass „wir zuerst und vor allem standhaft sein müssen“. Die Truppen...
Erscheint lt. Verlag | 14.8.2014 |
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Übersetzer | Klaus Modick |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | 1944 • Benehmen • Briten • Britisch • Deutsch • Deutsche • deutsch-englisch • Deutschland • Deutschland-Eigenheiten • Eigenheiten • England • Englisch • Gebräuche • Handbuch • Instructions for British Servicemen in Germany • Instructions for British Servicemen in Germany 1944 • Kultur • Kultur-Unterschiede • Leitfaden • Ratgeber • Ratgeber-Handbuch • Sitten • Sitten-Gebräuche • Soldaten • Soldaten-Anleitung • Sprache • The Bodleian Library • University of Oxford • Unterschiede • Volk • Zeitzeugnis • Zeit-Zeugnis • Zweisprachig |
ISBN-10 | 3-462-30829-7 / 3462308297 |
ISBN-13 | 978-3-462-30829-7 / 9783462308297 |
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