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Frau an der Front (eBook)

Ein Bericht

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
231 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78340-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frau an der Front - Alaine Polcz
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Klausenburg/Siebenbürgen, März 1944. Die Stadt, die seit kurzem wieder ungarisch Kolozsvár heißt, ist von den Deutschen besetzt, Deportationen sind in vollem Gang. Alaine, Kind aus einer ungarisch-protestantischen Familie, versucht, jüdischen Bekannten zu helfen. Sie ist ein offenes, unerschrockenes junges Mädchen, verliebt in János, mit dem sie sich im Herbst, als die Front naht, zur Flucht entschließt. Westlich von Budapest gerät die kleine Flüchtlingsgruppe mitten in die ungarisch-deutsch-russischen Kriegshandlungen hinein. János wird von Rotarmisten abgeführt, Alaine fällt der systematischen Vergewaltigung zum Opfer. Was ihr widerfuhr und wie sie überlebt hat, darüber kann sie erst Jahrzehnte später sprechen. Als das Buch 1991 erschien, löste es ungläubiges Entsetzen aus. In elf Sprachen übersetzt, zählt es heute zu den bedeutendsten Lebenszeugnissen von Frauen aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs in Mitteleuropa.

<p>Alaine Polcz, 1922 in Klausenburg/Koloszv&aacute;r/heute Cluj geboren, 2007 in Budapest gestorben, Psychologin und Thanatologin, schrieb B&uuml;cher zum Umgang von Kindern mit dem Thema Tod und begr&uuml;ndete 1991 die ungarische Hospizbewegung. Sie war mit dem Schriftsteller Mikl&oacute;s M&eacute;sz&ouml;ly verheiratet.</p>

Cover 1
Impressum 5
Die Hochzeitsreise 11
Flüchtlingsidyll 51
Die Front 79
Der Frieden 192
Epilog 228
Anmerkungen des Übersetzers 231
Biographische Notiz 233
Inhalt 234

Die Hochzeitsreise


János und ich haben uns am 27. März 1944 trauen lassen (im vierten Kriegsjahr), in der Kirche an der Farkas-Straße.

Kennst du diese gewaltige, fünfhundert Jahre alte gotische Kirche mit ihrem streng puritanischen Innenraum? Nebenan bin ich zur Schule gegangen, aufs reformierte Mädchengymnasium, hier bin ich konfirmiert worden, und hier habe ich an den wichtigeren Feiertagen Gedichte aufgesagt.

Getraut hat uns der Bischof; an der Zeremonie nahmen auch János Székely, der Religionslehrer, ebenfalls im Talar, und mein Patenonkel teil, Ferenc Deák, ein evangelischer Pastor aus Hídelve. Auch meine Lehrer waren gekommen, und die Klassenkameraden, alle in Schuluniform, standen Spalier.

Vor der Hochzeit hatten sie mich damit aufgezogen, daß ich, wenn es erst soweit sei, das Gelübde auf Latein sprechen müsse, noch dazu unter dem strengen Blick von Erzsike Kovács, der Lateinlehrerin. Doch Erzsike Kovács umarmte mich nach der Zeremonie, beglückwünschte mich und flüsterte mir ins Ohr: »Von nun an können wir uns duzen.«

Das sind meine schönen Erinnerungen an die Hochzeit.

Aber die vielen Menschen! Wie die Schleppe halten, den Schleier, den Blumenstrauß und gleichzeitig den Arm meines Bräutigams? Kleid und Schleppe würden am Kokosteppich hängenbleiben und mich beim Gehen stören, wenn ich sie nicht hochhielt. Auf dem Weg zur Kirche, im Auto, machte mir der Trauzeuge, den János ausgewählt hatte, wie wild den Hof; ich verstand ihn nicht gleich, und er gab mir den Rat: »In der ersten Nacht dürft ihr nichts machen, Kinder, ihr seid zu müde, verderbt es euch bloß nicht gleich.«

Die Rede des Bischofs zog sich gnadenlos in die Länge, ich war außerstande, ihm zu folgen, das Stehen ermüdete mich, in einem fort blitzte Magnesiumlicht (es wurde fotografiert), und jedes Mal zuckte ich zusammen.

János streckte gelangweilt ein Bein aus (was dem Bischof nicht entging und mich peinlich berührte). Dann war es vorbei. Ich wartete auf eine Geste, auf ein Wort von ihm, doch nein, er sah mich nicht mal an. Da fühlte ich mich plötzlich leer; ob wir auf dem Nachhauseweg überhaupt miteinander gesprochen haben, weiß ich nicht mehr, wir waren wie betäubt und kamen kaum zu unserem Auto durch ? so viele Menschen, die uns bedrängten.

Am Abend dann das Hochzeitsdinner: Braut und Bräutigam am Kopf der Tafel. Wurde den Gästen auf Porzellantellern serviert, reichte man uns Silbergeschirr. Folgte für sie der nächste Gang in Silber, kredenzte man ihn uns in Gold. Jedesmal landeten die Schüsseln zuerst bei mir, ich tat »meinem Mann« auf, dann mir selbst. (Danach war der Bischof an der Reihe und nach ihm meine Mutter.) Erzsi, unser Dienstmädchen aus dem Széklerland – wir hatten uns gemeinsam verlobt und gemeinsam auf die Briefe von der Front gewartet, wo ihr Mann dann gefallen war –, flüsterte mir, rot im Gesicht, ins Ohr: »Nehmen Sie nicht so viel!« Später richtig zornig: »Auch Ihre gnädige Frau Mutter sagt, Sie sollen nicht so maßlos sein.« Erst als das Abendessen vorbei war, begriff ich, daß es sich für eine Braut nicht gehörte, so viel zu nehmen. Schade, daß ich nie danach gefragt habe, weshalb eigentlich.

Meine Schwester, meine Brüder und meine Freunde saßen am Katzentisch und amüsierten sich. Bei uns am großen Tisch herrschte entsetzliche Langeweile, doch meine Mutter gestattete mir nicht, mich rüberzusetzen, ich glaube, die anderen litten genauso wie ich.

Oder haben sie sich wohl gefühlt? Was weiß ich!

Seit dem Morgen traf eine Flut von Telegrammen, Blumen und Geschenken ein. Mein Vater war Bezirksoberstaatsanwalt, man rechnete mit seiner baldigen Beförderung zum Richter, und wie üblich gaben sich alle furchtbar viel Mühe.

Ich hasse es, mit vollem Bauch am Tisch zu sitzen. Doch endlich, nach einer Ewigkeit, durften wir aufstehen. Ein starker Kaffee machte mich wieder munter, ich gesellte mich zu meinen Freunden, und da war auch meine Katze, die ich zu meinem tiefen Bedauern hierlassen sollte, denn János lehnte es ab, sie in unsere neue Wohnung mitzunehmen.

Ich hätte mich gern an der Universität eingeschrieben, ich wollte Ärztin werden, doch er war dagegen. Ich fand mich damit ab, denn ich liebte ihn sehr. Als wir uns kennenlernten, war ich vierzehn, er war meine erste Liebe und auch der erste, der mich geküßt hat. Er bat mich, Maschineschreiben zu lernen, damit ich seine Manuskripte ins reine schrieb. (Er studierte Volkswirtschaft, wollte aber eigentlich Schriftsteller werden. Er war vier Jahre an der Front, während ich das Gymnasium besuchte und Abitur machte.) Ich habe das Maschineschreiben erlernt, es aber zutiefst verabscheut, eine dumpfe Beklemmung überkam mich, wenn ich blind mit zehn Fingern herumklimpern mußte.

Gerade hatte ich mich ein bißchen erholt, da führten sie mich in mein Mädchenzimmer; János nahm mir Schleier und Kranz ab, übergab beides meiner Mutter und dankte ihr ? für mich oder für das Dinner oder für die ganze Hochzeit. Meine Mutter überließ mich ihm, bat ihn, gut auf mich aufzupassen, dann gingen wir. Erst Jahre später erfuhr ich, daß Mutter in Tränen ausgebrochen war und gar nicht mehr aufhören konnte zu weinen, ihr war elend, und sie kehrte nicht mehr zu den Gästen zurück.

Meine neue Wohnung war gegenüber dem Haus und dem Garten meiner Eltern, im Hochparterre einer Villa. Man mußte nur die schmale, kopfsteingepflasterte Straße überqueren, die den Berg hinaufführte. Hätte ich es gern gehabt, daß er mich auf den Armen über die Schwelle trug? Vielleicht hat er es auch getan, und ich erinnere mich bloß nicht mehr daran? Wie war es, als wir hineingingen? Was hat er gesagt? Hat er mich ausgezogen, oder zog ich mich selber aus? Ich kann es nicht mehr beschwören. Ich habe einfach nicht mehr die geringste Erinnerung an die erste Nacht. (Wenn wir Freud glauben wollen, so hatte ich Grund genug, sie zu vergessen.) An eine Winzigkeit erinnere ich mich aber doch. Wie er da neben mir lag, in der Nacht oder gegen Morgen, legte János sein angewinkeltes Bein über mich, und das mochte ich sehr. Jeder kennt diese Bewegung, so kuscheln Kinder sich an ihre Mutter.

Du kannst dir denken, daß ich heute, anders als früher, allem Sexuellen gegenüber keinerlei Hemmungen mehr empfinde. Ich könnte dir in medizinischer oder psychologischer Terminologie oder auch mit Spott, Häme und Frivolität von unserer ersten Nacht erzählen, aber es gibt nichts darüber zu sagen. Es hat weh getan. Selbst das Sitzen tat mir noch tagelang weh.

Ich war schläfrig und müde. Am Morgen wunderte ich mich, daß ich nicht von allein darauf gekommen war, daß man die Beine breit machen muß. Jetzt weiß ich, man »muß« nicht, es ist bloß so üblich, doch damals dachte ich, daß das, was ich in der Hochzeitsnacht gelernt habe, so sein muß und gar nicht anders sein kann.

Mir scheint, daß ich damals einen enormen Appetit hatte, denn gleich nach dem Aufwachen war ich sehr hungrig; ich schlüpfte rasch in ein schönes, bodenlanges Negligé, das passende Hochzeitsgeschenk, und rannte über die Straße nach Hause, um uns Frühstück zu holen. Verdutzte Gesichter: »Was kommst du? Geh sofort wieder rüber, die Erzsi bringt euch gleich was.«

Eile war geboten, wir wollten in die Stadt, um uns anzumelden, ich mit meinem neuen Namen, und um noch den Schnellzug nach Budapest zu erwischen. János war schon aus dem Haus, er konnte einfach nicht warten, bis ich mich angezogen hatte.

Als ich mich in die Badewanne setzte, ging plötzlich die Dusche los, und meine Haare wurden klatschnaß. Ich sputete János hinterher, wollte mich aber vorher noch von meinen Eltern verabschieden. Wieder empfingen sie mich ganz bestürzt. Wahrscheinlich muß man nach der Hochzeitsnacht verschämt und rot im Gesicht verschwinden, aber das paßt nun mal nicht zu mir, oder weiß der Himmel, warum sie sich aufregten. Auch wegen meiner nassen Haare waren sie pikiert.

Im Bus konnte ich keine Fahrkarte lösen, ich hatte keinen Groschen in der Tasche. (Neben den üblichen Hochzeitsgeschenken hatte ich auch tausend Forint »Brautgeld« bekommen, aber die wollte ich nicht anrühren, sondern für besondere Anlässe aufheben, ich hatte sie János anvertraut und war deshalb ohne jedes Geld, doch es wäre mir unangenehm gewesen, meine Eltern um welches zu bitten.)

Das mit der Fahrkarte war mir peinlich, doch der Schaffner lächelte mich an und sagte, ich solle sie als sein persönliches Hochzeitsgeschenk nehmen – er habe gehört, daß ich frisch verheiratet sei. Da war ich sehr froh. Doch als ich aus dem Bus stieg, wurde ich von János wüst beschimpft.

Er war mir böse wegen der Haare, der Koffer und ich weiß nicht weshalb noch. Seine graugrünen Augen wurden dunkel vor Zorn; János hatte einen sehr starken Bart, selbst unmittelbar nach der Rasur schimmerte seine Gesichtshaut bläulich dunkel.

Wir fuhren erster Klasse in das wundervolle, ferne Budapest! (Lustig, nicht? Doch du weißt nicht, was Budapest und Ungarn in Kolozsvár bedeuten. Ein bißchen ahnst du es vielleicht schon.) Von dieser Reise ist mir absolut nichts in Erinnerung geblieben. Als ich in Budapest zwischen den Gleisen stand, ich weiß gar nicht mehr, an welchem Bahnhof, wurde mir auf einmal schwer ums Herz, ganz banal, plötzlich war ich traurig.

Da tauchte der Trauzeuge auf, jener, der mir damals im Auto den Hof gemacht hatte, und sagte, ich sei wunderschön, mein Reisekostüm sei entzückend, er habe gewußt, daß wir im selben Zug reisen würden, er habe uns nur nicht stören wollen. Dann erging er sich in irgendwelchen Zweideutigkeiten und überschüttete mich mit weiteren...

Erscheint lt. Verlag 2.4.2012
Übersetzer Laszlo Kornitzer
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Asszony a fronton
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 2. Weltkrieg • Asszony a fronton deutsch • Berichte • Erinner • Erinnerungen • Flucht • Osteuropa • Rumänien • Vergewaltigung
ISBN-10 3-518-78340-8 / 3518783408
ISBN-13 978-3-518-78340-5 / 9783518783405
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