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Stalin und der Genozid (eBook)

eBook Download: EPUB
2010 | 1. Auflage
157 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74440-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stalin und der Genozid - Norman M. Naimark
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Unter Stalin wurden in den 30er Jahren mehr als eine Million Sowjetbürger umgebracht, Millionen andere starben durch Zwangsarbeit, Deportation, Hungersnot, Lagerhaft oder während Folterverhören. Diese Verbrechen galten zu Zeiten des Kalten Krieges nicht als Genozid. Die hohen Ideale für die Stalin angeblich gekämpft hatte, verhinderten eine Auseinandersetzung. Zudem galt diese Verfolgung der eigenen Bevölkerung als Teil der Kriegsvorbereitung; der Ausgang des Zweiten Weltkriegs schien dieses Vorgehen zu rechtfertigen. Auch nach internationalem Recht galt der Mord an sozialen oder politischen Minderheiten nicht als Genozid. Norman Naimark erweitert die Kriterien für den Genozid - die UN-Konventionen von 1948 waren unter großem sowjetischen Einfluss entstanden - und kann so darlegen, daß der von Stalin befohlene Massenmord ein Genozid war. Er erzählt die erschütternden Geschichten der systematischen Vernichtung. Er betrachtet die Unterwerfung und Auslöschung der sogenannten Kulaken, den Holodomor, also die Ermordung durch Hunger in der Ukraine, die Unterdrückung und Ermordung von »Volksfeinden« und die Große Säuberung zwischen 1936 und 1938. Und er kommt zu dem Schluß, daß der Genozid - ähnlich wie der Holocaust - nicht ohne die Figur des charismatischen Diktators möglich war.

<p>Norman M. Naimark ist Professor für Geschichte am Institut für Osteuropäische Studien der Universität Stanford, Kalifornien und Experte für Osteuropäische und Russische Geschichte. Seine Schwerpunkte in der Forschung liegen auf der sowjetischen Politik in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und der vergleichenden Geschichte des Völkermords und der ethnischen Säuberungen im 20. Jahrhundert. Zu seinen Büchern gehören: <em>Die Russen in Deutschland</em> (1996) und <em>Flammender Hass</em> (2004).</p>

Inhalt 8
Einleitung 10
1. Die Diskussion um den Genozid 23
2. Der Werdegang eines Völkermörders 38
3. Die Entkulakisierung 58
4. Der Holodomor 76
5. Der Angriff auf die Völker 85
6. Der »Große Terror« 104
7. Stalins und Hitlers Verbrechen 125
Schlußfolgerungen 135
Danksagung 142
Anmerkungen 145

Einleitung


In diesem schmalen Buch, das eigentlich ein erweiterter Essay ist, soll begründet werden, weshalb Stalins Massenmorde in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts als »Genozid« klassifiziert werden sollten. Das wird dadurch erschwert, daß es im Falle der Sowjetunion keinen einzelnen Akt von Genozid gegeben hat, sondern vielmehr eine Serie miteinander zusammenhängender Aktionen gegen »Klassenfeinde« und »Volksfeinde« – Bezeichnungen für verschiedene angebliche Gegner des Sowjetstaates. Auch fanden die massenhaften Tötungen auf unterschiedlichste Weise statt: Zum einen gab es Massenerschießungen, zum anderen die Verbannung in die »Sondersiedlungen« und in den GULag. Dort fanden Hunderttausende nicht nur wegen der ungewöhnlich harten Haftbedingungen und Verhörmethoden den Tod, sondern kamen auch auf Grund der furchtbaren Transportbedingungen, der Unterbringung, der Ernährung und der Zwangsarbeit ums Leben.

Die sozialen und nationalen Kategorien der angeblichen Feinde der UdSSR änderten sich im Laufe der Zeit; das trifft auch auf die Rechtfertigungen für die Aktionen gegen Bevölkerungsgruppen und Ausländer in der Sowjetunion zu. Stalin und seine Handlanger begründeten die blutigen Taten mit den Lehren des Marxismus-Leninismus-Stalinismus und setzten ihren Willen mit polizeilichen, gerichtlichen und außergerichtlichen Mitteln durch. Sowohl Parteiinstanzen als auch staatliche Behörden waren beteiligt, als Stalin die durch die bolschewistische Revolution geschaffenen Macht- und Kontrollmittel nutzte, um gegen tatsächliche und potentielle Gegner vorzugehen. Dabei spielte es keine Rolle, ob diese real existierten oder nur eingebildet waren. Unter Stalins Herrschaft in den dreißiger und frühen vierziger Jahren starben viele Millionen unschuldiger Menschen, die entweder erschossen wurden, verhungerten oder den Tod in Haft und Verbannung fanden. Es ist höchste Zeit, diesem wichtigen Kapitel seinen Platz in der Geschichte des Genozids einzuräumen.

Es gibt berechtigte wissenschaftliche und sogar moralische Bedenken gegen eine solche Erörterung. Nicht nur Historiker und Journalisten sehen in dem Begriff »Genozid« einen Ausdruck, der hauptsächlich dazu dient, den Holocaust – also den Massenmord der Nationalsozialisten an den Juden – zu bezeichnen, der nicht vermengt werden sollte mit dem Mord an Sowjetbürgern in den dreißiger Jahren. Vor allem deutsche und jüdische Wissenschaftler werden wohl darauf beharren, daß die Ermordung von fast sechs Millionen Juden durch das NS-Regime ein historisch einmaliges Verbrechen war, das mit anderen Massenmorden in der Neuzeit nicht vergleichbar ist. Dieses Verbrechen, eine Kombination aus Hitlers Rassenwahn und traditionellen christlichen antisemitischen Motiven, war in den Augen vieler Wissenschaftler ein beispielloser Völkermord.1 Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht auch die Morde an Zigeunern (Roma und Sinti), Homosexuellen und geistig Behinderten Züge eines Genozids trugen – ganz zu schweigen vom Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen, Polen und anderen.

Das Problem liegt in der im Dezember 1948 angenommenen »Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide« (Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes) der Vereinten Nationen (UN), die den Mord an ethnischen, nationalen, rassischen und religiösen Gruppen in den Mittelpunkt rückt und, wenn auch nicht explizit, soziale und politische Gruppen ausschließt – und damit die Hauptopfer der blutigen Kampagnen Stalins. Einige Wissenschaftler betrachten den ukrainischen Hungertod in den Jahren 1932/33 oder die Deportation der sogenannten »bestraften Völker« im Jahre 1944 isoliert, um Stalin des Genozids bezichtigen zu können. Andere bezeichnen das »Massaker von Katyn«, bei dem 22 000 polnische Offiziere und Staatsbeamte im Frühjahr 1940 hingemetzelt wurden, als einen typischen Genozid Stalins. Aber wenn diese einzelnen blutigen Ereignisse als Völkermord eingestuft und andere nicht berücksichtigt werden, besteht die Gefahr, daß der genozidale (meint »genozidähnliche«) Charakter des sowjetischen Systems, in dem in den dreißiger Jahren eher systematisch als sporadisch gemordet wurde, verschleiert wird.

Ein weiterer Einwand gegen die Bezeichnung der stalinistischen Massenmorde als Genozid ergibt sich aus dem speziellen Charakter einer ethnischen und nationalen Identität. Die Menschheit besteht aus erstaunlich vielen Völkern, von denen jedes einen eigenen Charakter hat – sogar wenn dieser »erfunden« ist, wie Benedict Anderson es formuliert hat. Dieser Charakter verdient einen besonderen Schutz. Die Entwicklung des Begriffs »Genozid« hing eng mit dieser Idee zusammen. Trotzdem schützt die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen auch religiöse Gruppen, obwohl diese anders – man könnte sagen: »schwächer« – wahrgenommen werden als ethnische oder nationale Gruppen. So wurden Juden und Armenier als »Völker« umgebracht, nicht als religiöse Gruppen, obgleich ihre Religion wie eine Volkszugehörigkeit gesehen wurde, wie es zum Teil auch bei den serbischen Angriffen auf die bosnischen Muslime in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts geschah. Aber der Schutz ethnischer und nationaler Gruppen sollte den von politischen oder sozialen Gruppen vor demselben furchtbaren Verbrechen nicht überflüssig machen. Die Opfer und ihre Nachkommen würden schwerlich die moralischen, ethischen und rechtlichen Unterschiede zwischen der einen Form von Massenmord und der anderen begreifen, geschweige denn die historischen.

Zugleich meinen viele Beobachter, wenn die potentiellen Opferkategorien des Genozidbegriffs erweitert und soziale und politische Gruppen mit einbezogen würden, verlöre dieser seine historische und rechtliche Bedeutung. Gewiß wird der Begriff von verschiedenen, manchmal nur lose definierten Gruppen von Menschen, die sich als Opfer eines Genozids sehen, ungenau und unverantwortlich verwendet. Aber gerade das ungeheure Ausmaß des systematischen Massenmordes – den die politische Führung eines Staates absichtlich an einer Zielgruppe innerhalb oder außerhalb der Grenzen dieses Staates begeht – reicht aus, um einen Genozid von verwandten Formen wie Pogromen, Massakern und terroristischen Bombenanschlägen zu unterscheiden. Wird die Massenvernichtung sozialer und politischer Gruppen beim Genozid berücksichtigt, kann dies zu einem tieferen Verständnis dieses Phänomens führen; es verringert nicht seine historische Bedeutung. Beim Genozid – besonders im Falle des ukrainischen Hungertodes in den Jahren 1932/33 – überlappen sich häufig die sozialen, nationalen und ethnischen Kategorien. Manchmal werden, wie im Falle des sowjetischen Angriffs auf die sogenannten Kulaken, die sozialen und politischen Kategorien der Opfer »ethnisiert«. Dies geschieht, um der Gesellschaft den Angriff plausibler zu machen. Über Genozid als ein Produkt kommunistischer Staaten – von Stalins Sowjetunion über Maos China bis Pol Pots Kambodscha –, in denen Millionen von Bürgern in Massenmordkampagnen getötet wurden, kann und sollte neben analogen Fällen von Völkermord, der an Minoritäten verübt wurde, gründlich nachgedacht werden.

Jahrzehntelang verhinderte die Politik des Kalten Krieges (also die Politik gegen den Kalten Krieg) eine offene Diskussion in der akademischen Welt über die Frage des Genozids im Zusammenhang mit Stalin und dem Stalinismus. Dies ist auch für unser heutiges Verständnis der Sowjetunion von Bedeutung. Weil Stalin im Namen der hohen Ideale des Sozialismus und des menschlichen Fortschritts mordete, könne dies, so wird argumentiert, nicht mit den Motiven anderer Völkermörder im 20. Jahrhundert gleichgesetzt werden. Diese mordeten aus keinem anderen Grund als dem wahrgenommenen »Anderssein« ethnischer oder religiöser Gruppen oder – wie in Hitlers Fall – wegen einer Rassentheorie, die nur wenigen, außer den »arischen« Deutschen, gefallen konnte. Wenn es um Stalins Motive für die massenhafte Vernichtung vieler Millionen Menschen in den dreißiger Jahren geht, scheinen Historiker manchmal bestrebt zu sein, einen plausiblen Grund für die Taten finden zu wollen. War es das riskante Programm der Modernisierung des Landes oder die Notwendigkeit, Kapital für die Schwerindustrie zu beschaffen und die Landwirtschaft technisch zu modernisieren; war es der Schutz der Sowjetunion gegen einen künftigen Angriff von außen, vor allem durch Polen, Deutschland und Japan oder die Existenz möglicher Terroristen in der Bevölkerung, die darauf aus waren, Stalin und seine Mitstreiter zu töten; oder war es der schädliche Einfluß Trotzkis und seiner »Vierten Internationale« auf die sowjetische Elite?

In der neueren Literatur über Stalins Verbrechen werden häufig Wjatscheslaw Molotows Erinnerungen zitiert, um die Säuberungsaktionen und Morde zu erklären. Dessen Gespräche mit dem Schriftsteller Felix Tschujew wurden etwa 35 Jahre nach den Ereignissen aufgezeichnet:

1937 war notwendig. Geht man davon aus, daß wir nach der Revolution nach rechts und nach links droschen, so siegten wir, aber es gab weiterhin Überreste von Feinden verschiedener Richtungen, und angesichts der drohenden Gefahr einer faschistischen Aggression bestand die Möglichkeit, daß sie sich vereinigen. Wir waren 1937 gezwungen, dafür zu sorgen, daß wir im Kriege keine fünfte Kolonne hatten. [...] Natürlich ist das sehr bedauerlich, und solche Leute [die unschuldig waren] tun einem leid, aber ich glaube, daß...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2010
Übersetzer Kurt Baudisch
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Geschichte • Ideologie • Sowjetunion • Sowjetunion, Geschichte • Stalinismus • Völkermord
ISBN-10 3-518-74440-2 / 3518744402
ISBN-13 978-3-518-74440-6 / 9783518744406
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