Bewegungsapparat Hund (eBook)
448 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-241814-1 (ISBN)
1 Bewegung ist Leben
1.1 Einleitung
Das Wort „Anatomie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „auseinanderschneiden, zergliedern“. Schon im Altertum wurden Tiere und Menschen seziert, um Einblicke und Erkenntnisse in ihren strukturellen Aufbau zu gewinnen. Die Anatomie wurde unterteilt in die makroskopische (allein durch Betrachtung erfassbare Strukturen) und die mikroskopische Anatomie (Zytologie, Histologie). Zusammenfassend wird sie als sog. deskriptive Anatomie bezeichnet.
Die Analyse des Körpers nach größeren Einheiten wie z. B. Organ-, Blut-, Lymph- und Nervensystem, um nur einige zu nennen, wird als systematische Anatomie bezeichnet. Durch die Entwicklung der systematischen Anatomie sind die Voraussetzungen für die topographische Anatomie, die sich mit dem räumlichen Nebeneinander der verschiedenen Systeme und Organe unter Berücksichtigung der Körperregionen befasst, geschaffen worden. Die vergleichende Anatomie beschäftigt sich mit der stammesgeschichtlichen Entwicklung, der Phylogenese, der verschiedenen Organismen. Die molekulare Anatomie setzt sich mit dem molekularen Aufbau der einzelnen Zellbestandteile auseinander. Durch die neuen Untersuchungstechniken wie den diagnostischen Ultraschall, die Magnetresonanz- und Computertomographie entstand die sog. Schnittanatomie.
Die funktionelle Anatomie ist ein weiteres Teilgebiet der Anatomie, das sich auf die Erforschung der Körperstrukturen und deren funktioneller Bedeutung konzentriert. Sie fragt nach dem „Wie“ und dem „Warum“ der anatomischen Strukturen und ermöglicht so ein grundlegendes Verständnis der Funktion des tierischen Körpers, hier des Hundes. Jede Bewegung des Körpers setzt das ungestörte Zusammenspiel einerseits von passiven Strukturen wie Knochen, Knorpel und Sehnen und andererseits von einem aktiven Bewegungsapparat, der Muskulatur, voraus. Die Muskulatur setzt über Sehnen oder Faszien am Knochen an. Die Knochen wiederum sind über ein oder mehrere Gelenke beweglich bzw. über Synarthrosen elastisch bis fest miteinander verbunden. Die Gelenkform, z. B. das Scharniergelenk oder das Kugelgelenk, geben in Verbindung mit der Bandsicherung die möglichen Bewegungsrichtungen vor. Durch die gelenkübergreifende Muskulatur wird jede Körperstellung im dreidimensionalen Raum stabilisiert.
Die funktionellen Zusammenhänge stehen in diesem Buch im Vordergrund, um das Studium der Anatomie noch anschaulicher und lebensnaher zu gestalten. Allerdings wurde auf die Darstellung der funktionellen Anatomie des Nerven- und Organsystems verzichtet, da dies den Rahmen des Buches sprengen würde.
Die Untersuchungs- und Behandlungstechniken z. B. in der Veterinärmedizin sowie in der Tierphysiotherapie und Osteopathie setzen detaillierte Kenntnisse des Bewegungsapparats voraus. Einige Strukturveränderungen, die z. B. durch die Tierphysiotherapie oder die Osteopathie positiv beeinflusst werden können, kann man zwar nicht diagnostisch darstellen, aber palpatorisch erfassen. Ihre Funktion zu verstehen, ist die Voraussetzung für die Wiederherstellung nach einer Störung eines Gelenks, eines Muskels oder einer Muskelgruppe, eines Organs oder in einem Teilbereich des Bewegungsapparats.
Es soll versucht werden, auf das „Wie“ der Funktion, als auch auf das „Warum“ der Funktion der einzelnen Strukturen des passiven und aktiven Bewegungsapparats einzugehen, Bewegungsabläufe und Verkettungen zu erläutern und damit ein grundlegendes Verständnis der Architektur des tierischen Körpers zu ermöglichen.
Es wird kurz auf die Anatomie des Knochens und seine Veränderlichkeit durch die Bewegung eingegangen, den Schwerpunkt und die Veränderung der Unterstützungsfläche, um dann ausführlich auf die „bewegenden Elemente“ einzugehen. Ohne Statik und Dynamik ist keine Bewegung möglich, die aus diesem Grund hier auch nicht fehlen dürfen.
Die Muskulatur wird zwischenzeitlich von einigen Wissenschaftlern als selbständiges Organ betrachtet, da sie in ihrer Funktion und Arbeitsweise immer komplexer erscheint. Aus diesem Grund wird auch die Muskulatur ausführlicher beschrieben.
Der Muskel wird in der veterinärmedizinischen Anatomie meist als Einzelaktivist dargestellt, so z. B. der M. biceps brachii als Beuger des Ellbogengelenks. Er bewegt das Ellbogengelenk aber nicht alleine. Die funktionelle Anatomie des Hundes steckt zwar noch in den „Kinderschuhen“, aber die Erkenntnisse über die Bewegung des Hundes sind in letzter Zeit exponentiell gewachsen. Es sind die Verknüpfungen und Verkettungen mehrerer Muskeln, die z. B. die Flexion des Ellbogengelenks bewirken. Eines vorweg: Der M. biceps verhindert nach neuesten Erkenntnissen das Überstrecken des Ellbogengelenks, am Ende der Stemmphase, wenn der Hund geht. Der M. biceps brachii beugt das Ellbogengelenk nur, wenn der Hund auf dem Rücken liegt und die Pfote anzieht ▶ [64].
Die Topographie der Muskulatur, ihre Ursprünge und Ansätze sowie ihre Lage zu den sich bewegenden Knochenstrukturen und zur Bewegungsachse sind für das Gesamtverständnis der Funktion notwendig. Aus diesem Grund wird besonderer Wert auf die Darstellung der Muskeln gelegt und detailliert darauf eingegangen.
Die Wirkung und Funktion des einzelnen Muskels wie Beugen, Strecken und Zur-Seite-Neigen wird durch seinen Ursprung und Ansatz festgelegt. Allerdings ist dabei wichtig, dass man nicht einfach von der Muskelfunktion beim Menschen auf das Tier schließen kann. Die tatsächliche Bewegung resultiert zum einen aus dem vierbeinigen Gang des Tieres und zum anderen aus dem Zusammenspiel mehrerer Muskeln. Wirken sie zusammen, so sind sie Synergisten. Wirken sie gegeneinander, so sind es Antagonisten (Gegenspieler). Aber auch hier gibt es keine strikte Trennung zwischen Antagonist und Synergist, denn oft wird die angestrebte Bewegungsrichtung vom Antagonisten eingeleitet, um dann vom Synergisten ausgeführt zu werden.
Eine gut ausgebildete Muskulatur ist Voraussetzung dafür, dass ein Gelenk in jeder beliebigen physiologischen Stellung stabilisiert werden kann, und sie trägt zum Großteil zur Entlastung der Wirbelsäule bei. Außerdem wirkt sie mittelfristig kompensatorisch bei verletzten Band- und Knorpelstrukturen (z. B. bei einer kongenitalen Patellaluxation 1.–2. Grades).
Solide Grundkenntnisse der funktionellen Anatomie und der Biomechanik sind für jeden Tierarzt, Osteopathen und Tierphysiotherapeuten von entscheidender Bedeutung, denn diese Kenntnisse ermöglichen es, ein für den Hund entsprechendes Trainingsprogramm, z. B. im Rahmen der Prävention (HD, ED), oder eine gezielte Therapie während der Rehabilitation (z. B. nach einer Kreuzbandriss- oder Frakturoperation) oder für die Konditionssteigerung im Sport zu erstellen.
Bei alldem sollte man aber nicht die Lebensqualität des Tieres außer Acht lassen und die Freude, die ein gesunder Hund dem Hundebesitzer bereitet. Viel Erfolg beim Lesen, Lernen und Umsetzen des Wissens.
1.2 Evolution der Bewegung
Zu Beginn der Evolution war der Urknall oder „das Wort“, die reine Information und damit der Beginn des Seins, des Lebens. „Es werde Licht …“ – Licht ist nichts anderes als Energie und diese Energie ermöglichte es, dass sich Atome und später Aminosäuren organisierten, daraus organische Strukturen entstanden und sich am Ende zwei Informationsstränge entwickelten, die DNA und RNA, die die Grundlage des Lebens bilden.
Die ersten Bewegungen des Lebens waren primitivste Stoffwechselvorgänge, die sich im Laufe der Evolution immer mehr strukturierten, differenzierten und komplexer wurden, um nach einigen Millionen Jahren die ersten Einzeller entstehen zu lassen.
Ein wichtiges Elixier des Lebens und der Bewegung auf unserem Planeten ist das Wasser. Die Bewegungen des Wassers sind auch in uns noch vorhanden, so sehen wir wellenförmige Bewegungen in der Darmperistaltik. Des Weiteren bewegt sich jedes Organ in uns. Nichts ist starr und fest. Alles fließt „Panta rhei“. Unsere Nieren bewegen sich z. B. mit jedem Atemzug 3 cm nach kranial und wieder nach kaudal und sind dabei nicht einmal Wandernieren. Diese Bewegungen führen sie ca. 16–20-mal pro Minute aus, d. h., im Monat wandern unsere Nieren zwischen 1,9–2,4 km! Mehr als mancher Mensch im Monat.
Unser Herz schlägt im Durchschnitt 75-mal pro Minute, d. h. am Tag 108000-mal.
Die wellenförmigen, rhythmischen Bewegungen spiegeln sich schon in unserer Entwicklung als Embryo wider. Wer länger osteopathisch arbeitet, fühlt die wellenförmigen Bewegungen des primären Atemrhythmus und kann die Bewegung der inneren Organe spüren. Der gesamte Organismus ist ständig in Bewegung, auch in scheinbarer Ruhe.
1.2.1 Definition der Bewegung
Aber wie definiert man nun Bewegung?
Bewegung wird im physikalischen Sinne als Änderung des Ortes eines Beobachtungsobjektes mit der Zeit verstanden. Fortbewegung, auch Lokomotion genannt, wird allgemein als aktive Bewegung biologischer Individuen (Lebewesen) mit Ortsveränderung bezeichnet. Bei der Lokomotion unterscheidet man außerdem die Motorik, also die Bewegungsfähigkeit des Organismus in sich (Lokomotorik), von der Taxis, der Bewegung gewisser Körperachsen. Bewegung ist folglich die Ortsveränderung eines Körpers oder Massepunktes mit entweder gleichbleibender oder veränderlicher Geschwindigkeit. Am...
Erscheint lt. Verlag | 11.4.2018 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Veterinärmedizin ► Klinische Fächer ► Orthopädie |
Veterinärmedizin ► Kleintier | |
Schlagworte | Bewegungsablauf • Bewegungsapparat • Funktionelle Anatomie • Hund • Lahmheit • Manuelle Therapie • Muskelfunktionen • Muskulatur • Osteopathie • Physiotherapie • Unterstützungsfläche |
ISBN-10 | 3-13-241814-5 / 3132418145 |
ISBN-13 | 978-3-13-241814-1 / 9783132418141 |
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