Von Spinnen und Menschen (eBook)
256 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28092-2 (ISBN)
Nützliche Mitbewohnerinnen, Ekelobjekte oder verblüffende Wesen? An Spinnen scheiden sich die Geister. Von manchen bewundert für ihre kunstvollen Netze und das Archaische ihrer Erscheinung, von anderen gefürchtet. Aber warum ist das so? Dieses Buch dringt tief in das Beziehungsgeflecht von Spinnen und Menschen vor. Es zeigt den Einfluss der Spinnen auf unsere Sprache, Wissen, Träume und Geschichte. Warum verglich man Napoleon mit einer Spinne? Wie prägte die christliche Symbolik die Abneigung gegenüber Spinnen? Und wieso wurden gleich drei Weltraummissionen von Spinnen begleitet? Jan Mohnhaupt lockt die Spinne kulturhistorisch aus ihrer dunklen Ecke und zeigt die vielen Verbindungen zwischen Spinne und Mensch. Eine arachnologische Apologie, wie es sie bisher nicht gab.
Jan Mohnhaupt, 1983 im Ruhrgebiet geboren, studierte Geographie und Geschichte in Berlin und Wien. Er ist als freier Journalist und Autor für verschiedene Magazine und Zeitungen wie Spiegel Online, Der Freitag und P.M. History tätig. 2017 erschien im Hanser Verlag sein Buch Der Zoo der Anderen sowie 2020 Tiere im Nationalsozialismus, beide wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Er lebt und arbeitet in Magdeburg.
Alphas Ende
»Das Unerlangbare an Tieren: wie sie einen sehen.«
Elias Canetti
An einem Tag im Sommer 2021 ist mein Kindheitstraum erfroren. Sie war zusehends schwächer geworden. Seit Wochen hatte sie nichts mehr gefressen, ihr Leib war eingefallen. Ihre einst gespannte Haltung — stets zum Sprung bereit — war einem Lungern gewichen. Ihre Beine glichen Gebälk, das allmählich unter der eigenen Last nachgibt. Schlaff saß sie da — nur manchmal zuckte eines ihrer Beine, bewegte sich langsam auf und ab, ein zweites tat es ihm gleich. Tattrig trat sie so auf der Stelle, bis alle Bewegung wieder in Schwäche erstarrte. Ob sie litt, lässt sich schwer sagen. Tiere wie sie, die in der Lage sind, verlorene Gliedmaßen zu ersetzen und ganze Organe zu erneuern, nehmen Schmerzen wohl anders wahr als Warmblüter wie wir. Sie würde sterben, das war klar. Aber es konnte noch eine ganze Weile dauern, wenn ich nichts unternahm. Doch ich tat nichts, sah nur zu. Ich scheute mich, ihr Leben zu beenden.
Fast ein Vierteljahrhundert lebte sie schon bei mir, so lange wie kein anderes Wesen. Als ich sie bekommen habe, war ich noch keine vierzehn Jahre und sie erst wenige Wochen alt. Sie war ein Überbleibsel auf einer Börse, wo Menschen wie ich Tiere wie sie kaufen können. Kurz vor Toresschluss hielt mir eine Frau eine Plastikdose hin, wie wir sie von der Fleischtheke im Supermarkt oder vom Olivenstand am Wochenmarkt kennen. Anstatt Weinblättern oder Wurstsalat befand sich darin eine dünne Schicht Erde. Und darauf saß sie, eine junge Vogelspinne der Art Aphonopelma seemanni. Sie war gerade mal so groß wie der Kopf einer Reißzwecke und strahlte in hellem Blau.
Mit jeder Häutung wurde ihr Körper grauer, ihre Beine wurden dunkler, nur auf ihren Knien und Unterschenkeln zeichneten sich weiße Streifen ab. Sie wuchs langsam, aber stetig, bis sie nach mehreren Jahren die Spannweite eines Bierdeckels erreicht hatte.
Je älter und größer sie wurde, desto weniger ließ sie sich auch gefallen. Anfangs lief sie noch davon, wenn ich sie vorsichtig mit einem Finger berührte, doch das änderte sich mit der Zeit. Fühlte sie sich dann in die Enge getrieben, bäumte sie sich drohend auf und schlug mit dem vordersten ihrer vier Beinpaare. Als ich sie vor rund zehn Jahren wieder einmal mit einer Plastikdose einfangen wollte, um sie in ein größeres Terrarium zu setzen, schlug sie so plötzlich und heftig nach dem Deckel, dass dieser in meiner Hand vibrierte. Den Schlag hatte ich nicht einmal kommen sehen.
Vor einigen Jahren musste ich sie erneut umsetzen. Wieder schlug sie zu, nur widerwillig ließ sie sich mithilfe eines Pinsels aus der Dose ins Terrarium drängen. Dort verharrte sie aufrecht drohend. Es dauerte mehrere Stunden, bis sie wieder ihre gewohnte hockende Haltung einnahm.
Hocken beschreibt es jedoch nur im Ansatz. Denn das menschliche Hocken hat nichts mit dem ihrigen zu tun. Es ähnelt vielmehr dem Lauern eines Sprinters im Startblock. Mit dem Unterschied, dass sie stundenlang innehalten konnte, ohne zu erlahmen. Die meiste Zeit hockte sie reglos in einer Ecke und wartete. Ihre Beute ließ sie stets so nah herankommen, bis diese sie beinah berührte. Und manchmal, wenn ich schon dachte, sie sei satt, drehte sie sich blitzschnell in Richtung des Insekts, packte es mit ihren Beinen und schlug ihre Chelizeren, zwei sichelförmige Beißklauen, ins Fleisch.
Ungezählte Grillen und Heuschrecken hat sie so überwältigt. Sie war eine Meisterin der Effizienz, machte keine Bewegung zu viel und verfehlte ihr Ziel fast nie. Ihr Gift war vergleichbar mit dem der Bienen und Wespen; sie brauchte es vor allem zum Verdauen. Für die Jagd war es nicht entscheidend. Seit Jahrmillionen töten ihre Artgenossinnen allein mit der Kraft ihrer Klauen.
Trotz der langen Zeit, die sie bei mir lebte, war unsere Beziehung nie besonders innig, geschweige denn gegenseitig. Von einem Austausch wie mit anderen Heimtieren — ob Hunden, Katzen, Vögeln oder auch Fischen — kann keine Rede sein. Trotz ihrer acht Augen konnte sie nur schlecht sehen, bestenfalls Umrisse erkennen, und auch nur dann, wenn die Lichtverhältnisse günstig waren. Dennoch bemerkte sie mich. Spürte jeden Luftzug meiner Stimme und jede Erschütterung durch meine Schritte.
Sie nach all den Jahren so schwach zu sehen tat mir leid. Zu ahnen, dass sie nach all der Zeit verschwinden würde, machte mich traurig. Ausgerechnet sie, die so langsam gewachsen war, weil ich sie bei Zimmertemperatur hielt und nur mäßig fütterte. Je wärmer man sie hält und je mehr man sie füttert, desto schneller wachsen sie und desto schneller altern sie auch. Weibchen ihrer Art werden in der Regel rund 15 Jahre alt — sie war bereits 24. Doch bald würde auch sie ihre Beine unter den Körper ziehen, wie es Tiere wie sie meistens tun, wenn sie sterben. Ähnlich einer altersschwachen Menschenhand, der jede Kraft fehlt, sich noch zur Faust zu ballen.
Es kommt mir makaber vor, über ihr Sterben zu schreiben. Denn sie war nicht bloß irgendein Tier. Nicht für mich. Seit ich ein Kind war, wollte ich eine wie sie haben. Ich mochte auch ihre Verwandten in der Hecke im Garten und in den Kellerecken. Diese ästhetischen Jägerinnen, die sich so elegant auf ihren acht Beinen durch ihre Netze und Gespinste bewegten und darin den Insekten nachstellten, zogen mich magisch an: Ich lauschte dem Summen der Stubenfliegen, wenn sie sich im Fadengewirr verfingen, schaute zu, wie die Jägerinnen ohne Hektik herbeikamen, die Beute mit ihren Beinen packten und drehend einsponnen, um sie dann mit einem Biss zu töten. Jäh erstarb das Summen und bald darauf auch das letzte Zucken der Fliegenbeine. Gespannt sah ich ihnen beim Fressen zu; es hatte nichts Gieriges, sondern etwas geradezu Gesittetes. Sie ließen sich Zeit, wickelten alles in feinste, glänzende Seide und schienen bedächtig zu kauen. Es war eine andere Welt, so nah und doch so fremd. Es gebe »keine Brücken von ihrer Gesellschaft zur unsrigen«, schrieb der Journalist Horst Stern 1975 in seinem Buch Leben am seidenen Faden:
»Weder kann der Mensch Spinnen vermenschlichen, wie er es oft mit höher organisierten Tieren tut, noch kann, umgekehrt, eine Spinne den Menschen vertierlichen, ihn zum sozialen Kumpan machen, wie dies bei vielen Säugetieren im Umgang mit uns zu beobachten ist. Spinnen sind exklusiv, von uraltem erdgeschichtlichen Adel.«1
Dies vollkommen Andere und Fremde war es wohl, das mich von Beginn an begeisterte. Alles an ihnen schien ungewöhnlich, ihr Körper, ihre Bewegungen, ihr Verhalten, ihr Leben. Keine Tiere zum Anfassen, sondern bloß zum Bewundern. Schon bald hatten sie mich in ihren Bann gezogen. Ich fing einige von ihnen, setzte sie in durchsichtige Plastikkästen, in die ich Sand gefüllt und Zweige oder Pflanzenbüschel gesteckt hatte, damit sie dazwischen ihre Netze spinnen konnten, und fütterte sie mit Fliegen. In einer dieser Behausungen baute eine Hauswinkelspinne (Tegenaria domestica) einen erbsengroßen Kokon, aus dem schließlich Dutzende winziger Spinnen schlüpften, die ich wieder ins Freie entließ.
Sechs Jahre Warten
Mit meiner Begeisterung bin ich nicht alleine. Die schottische Schriftstellerin Esther Woolfson schreibt, sie habe schon immer eine »freundschaftliche Beziehung zu Spinnen« gehabt …
»[…] wenn denn ›Beziehung‹ das richtige Wort ist. Ich akzeptiere voll und ganz, dass es einseitig ist, dass ihre einzige Anforderung darin besteht, dass ich mich so weit wie möglich von ihnen fernhalte, aber ich mag und bewundere sie, so wie ich alles bewundern würde, was als ›klein auf der Welt, aber überaus weise‹ beschrieben wird. […] Ich denke, dass man leichter auf der Welt leben kann, wenn man Spinnen...
Erscheint lt. Verlag | 19.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Technik | |
Schlagworte | Anna Bartz • Arachne • Arachnologie • Der Zoo der Anderen • Emine Sevgi Özdamar • Kulturgeschichte der Spinne • Maman • Maria Sibylla Merian • Mythen • Napoleon • Peter Jäger • Schwarze Witwe • Spinne im Weltall • Spinnenangst • Vogelspinne • Wieviele Spinnen verschluckt man? |
ISBN-10 | 3-446-28092-8 / 3446280928 |
ISBN-13 | 978-3-446-28092-2 / 9783446280922 |
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