Die Chronistin der Meere (eBook)
256 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-27867-7 (ISBN)
'Der Himmelskörper, den wir den unseren nennen, ist eigentlich ein Planet des Meeres.' Für Patrik Svensson ist die blaue Welt untrennbar mit seiner Mutter verbunden. Sie war es, die ihm einst von rätselhaften Tiefseefischen erzählte und so die Neugier auf das Unerforschte weckte, die sein Schreiben bis heute prägt. Nach ihrem Tod begibt sich Svensson auf die Spuren ihrer gemeinsamen Faszination. Ausgehend von Ebbe und Flut erzählt er von den wundersamen Rhythmen der Natur, er folgt den Routen der alten Seefahrer und lauscht den Unterhaltungen der Pottwale. 'Die Chronistin der Meere' ist eine zutiefst persönliche Geschichte des Meeres und der Neugier - denn für Svensson ist der Blick in die Tiefe zugleich ein Blick in die eigene Vergangenheit.
Patrik Svensson, geboren 1972, ist der Autor des Überraschungsbestsellers Das Evangelium der Aale, das in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurde. Er studierte Sprachen und Literatur und arbeitet als Journalist für die schwedische Tageszeitung Sydsvenskan, wo er über Kultur, soziale Themen, Politik und Naturwissenschaften schreibt. Svensson lebt mit seiner Familie in Malmö.
Der blaue Planet
Ich wurde am späten Nachmittag des 7. Dezember 1972 geboren, ungefähr zur Stunde, zu der die Sonne um diese Jahreszeit ihrem vorherbestimmten Rhythmus folgend hinter dem Horizont verschwindet und das Licht in Dunkelheit übergeht. Ein Kind der Dämmerung, wenn man so will.
Dieser 7. Dezember 1972 war zugleich der Tag, an dem sich die letzten Mondreisenden auf den Weg zu jenem Himmelskörper machten, der mehr als vier Milliarden Jahre zuvor durch einen gewaltigen Zusammenprall zwischen der Erde und einem unbekannten Planeten entstanden ist.
Apollo 17 war dreieinhalb Jahre nach Apollo 11 die sechste und letzte, oder zumindest vorläufig letzte, bemannte Mondlandung. Die Besatzung bestand aus Kommandant Eugene Cernan sowie zwei Piloten, Harrison Schmitt und Ronald Evans. Darüber hinaus waren fünf lebende Mäuse namens Fe, Fi, Fo, Fum und Phooey an Bord. Vier Tage nach dem Start sollten Cernan und Schmitt die Landefähre besteigen und auf die Mondoberfläche hinabsinken, während Evans und die Mäuse in der Umlaufbahn des Himmelskörpers blieben. Ganze fünfundsiebzig Mal würden sie innerhalb der hundertachtundvierzig Stunden, die Cernan und Schmitt auf dem Mond verbrachten, den Erdtrabanten umrunden. Eine gute Woche später würden alle, bis auf Phooey, die die Heimreise nicht überstand, wieder wohlbehalten auf der Erde landen.
Natürlich dienten sie als Repräsentanten einer amerikanischen Großmacht im Siegesrausch, die sich von der Eroberung des Mondes zugleich versprach, auch ihre Großartigkeit auf der Erde zu behaupten. Gleichzeitig repräsentierten sie, zumindest was die drei Astronauten anging, noch etwas anderes, etwas Ursprünglicheres und alle Grenzen Überschreitendes: Sie brachen auf, weil es zutiefst menschlich ist, das zu tun. Weil sie es nicht lassen konnten, weil es in der Natur des Menschen liegt, sich ins Unbekannte zu wagen und diesem uralten Trieb zu folgen, der sich am ehesten als Neugier beschreiben lässt.
Vielleicht trugen die Mondreisenden tief in ihrem Innern dieselbe unerklärliche Sehnsucht wie die Polynesier, als sie sich weit vor unserer Zeitrechnung auf dem Pazifik Richtung Horizont aufmachten. Oder wie Leif Eriksson, als er den Atlantik Richtung Amerika überquerte. Oder Ferdinand Magellan, als er nach Westen segelte, um die Erde zu umrunden und sie als Erster zu einem Ganzen zu verbinden. Es war wie so oft in der menschlichen Entdeckungsgeschichte: Ein paar wenige brachen auf, um die Welt gleichzeitig ein bisschen größer und ein bisschen kleiner zu machen, und auch, um uns anderen die Möglichkeit zu geben, etwas über uns selbst zu erfahren.
In jenem Moment allerdings, am 7. Dezember 1972, waren die drei Mondreisenden vor allem mit Fotografieren beschäftigt. Sie hatten die Abschussrampe in Florida und die Erde gegen Mitternacht verlassen und befanden sich nun vierzigtausend Kilometer von der Erde entfernt. Es war früher Morgen amerikanischer Zeit, also etwa Mittagszeit an dem Ort, an dem meine Mutter lag und mit den Wehen kämpfte, und das Raumschiff schwebte durchs All, und mit der Sonne im Rücken eröffnete sich den Astronauten mit einem Mal ein spektakulärer Blick auf ihren fast vollständig erleuchteten Heimatplaneten. »Ich weiß, dass wir nicht die Ersten sind, die das feststellen«, teilte Kommandant Eugene Cernan seiner Kommandozentrale zu Hause in Houston mit, »aber wir möchten gerne bestätigen, dass die Erde rund ist.«
Anschließend nahm er die Kamera, eine Hasselblad, und die drei Mondreisenden reichten sie herum und knipsten innerhalb kurzer Zeit eine Reihe von Bildern des weit entfernten Globus. Das verstieß eigentlich gegen das Protokoll. Bei Mondflügen waren die Abläufe bis ins kleinste Detail festgelegt, und keiner der Astronauten war beauftragt, zu diesem Zeitpunkt zu fotografieren, es war nicht einmal vorgesehen, dass sie aus dem Fenster schauten. Dennoch taten sie genau das. Und sie sahen etwas absolut Leuchtendes und Besonderes und konnten ihren Blick nicht davon abwenden. Wie so oft bei historischen Ereignissen waren es eher Instinkt und Zufall als Planung, die zu diesem einzigartigen Moment führten.
Wer von ihnen das Bild schoss, das kurz darauf legendär werden sollte, wissen wir nicht; den Richtlinien der NASA folgend, wurde es der gesamten Besatzung zugeschrieben. Einer von ihnen machte jedenfalls ein Foto, das die Erde — den Ort, den wir unsere Heimat nennen und von dem sie sich entfernten — auf eine Weise einfing, wie es weder zuvor noch danach je wieder gelungen ist.
Ich behaupte immer, dies sei das erste Foto von mir gewesen, was natürlich nicht stimmt, weil ich erst einige Stunden später zur Welt kam, dennoch ist es ein Bild, über das ich immer wieder gestaunt habe. Im Zentrum liegt Afrika, wo die Menschheit ihren Ursprung nahm. Ringsherum erkennt man, vollkommen klar, die sphärische Kugel, man erkennt die Eisfelder um die Antarktis, man sieht den Atlantik und den Indischen Ozean, die den afrikanischen Kontinent wie eine schützende Membran umschließen, man sieht am nordöstlichen Horizont Asien, das sich bis zum Pazifik erstreckt. Alles leuchtet lebendig im Schein der Sonne, und gleichzeitig ist alles vollkommen von der dumpfen Finsternis des Alls umgeben, einer Dunkelheit so dicht und satt, dass sie undurchdringlich erscheint. Was man also sieht, ist ein kleiner abgeschlossener Bereich des Lebens, der von einer dünnen Atmosphäre geschützt wird und dabei durch ein scheinbar ewiges und lebloses Nichts fällt.
Der NASA zufolge war Apollo 17 die »produktivste und unproblematischste bemannte Mondfahrt der Geschichte«. Eugene Cernan und Harrison Schmitt blieben länger auf dem Trabanten als irgendjemand vor ihnen. Über fünfunddreißig Kilometer legten sie in dem kleinen Mondmobil auf der Oberfläche des Himmelskörpers zurück, und sie sammelten mehr Steine, Kies und Materie als jede frühere Expedition. Doch das Wichtigste, was sie mit nach Hause brachten, war dieses Foto. Seit es Heiligabend 1972 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, ist es zum meistreproduzierten Foto der Welt geworden. Es ist ein Bild, das Gefühle auslöst, oft solche wie Zärtlichkeit oder Demut. Es ist ein Bild, das ein instinktives Verständnis nicht nur dafür gibt, wie klein wir im Ganzen des Weltraums sind, sondern auch, wie ausgeliefert. Dieser einsame, blau schimmernde Planet, umgeben von der alles verschlingenden Dunkelheit des Alls, wirkt, kurz gesagt, sehr verletzlich.
Was die Menschen in diesem Foto vor allem zu sehen scheinen, ist ebendiese Zerbrechlichkeit. Sie erkennen, dass die Erde verwundbar und endlich ist, und mit ihr auch das Leben. Aus diesem Grund wurde das Bild bald auch zu einem wichtigen Symbol für das ökophilosophische Denken, aus dem sich zur selben Zeit die moderne Umweltschutzbewegung zu entwickeln begann. Es war ein Bild, das sowohl den Blick des Menschen auf die Erde wie auch auf sich selbst veränderte.
Das Bild wird gemeinhin »Blue Marble« genannt, denn genau so sieht die Erde auf diesem Foto aus. Wie eine glänzende tiefblaue Murmel. Fast alles ist blau. Fast alles ist Meer. Und das ist eine weitere Einsicht, die einen trifft, wenn man das Foto zum ersten Mal betrachtet. Es ist das tiefblaue Meer, das der Erde ihre Farbe gibt, das ihr Eigenheit und Schönheit schenkt. Es ist das Meer, das überhaupt erst die Voraussetzung für die Entwicklung des Lebens schafft, von den ersten Einzellern bis in den Weltraum hinaus. Es ist das Meer, das unseren blauen Planeten zu dem gemacht hat, was er ist, und im Meer erkennen wir eine Verletzlichkeit, die auch unsere eigene Verletzlichkeit ist. Der Himmelskörper, den wir den unseren nennen, ist gleichzeitig ein Planet des Meers.
Hier wuchs ich in einem kleinen Ort im Nordwesten Schonens auf. Ein Dorf mit etwa tausend Einwohnern, in allen Richtungen von weiten Feldern umgeben. In der Ferne eine dunkle, bewaldete Hügelkette, die sich wie eine Welle über der Landschaft erhob. Bis zum Meer waren es etwa dreißig Kilometer.
Im Dorf gab es nicht viel, es gab eine Schule und eine kleine Fabrik, einen Fußballverein und eine Kirche, ein Lebensmittelgeschäft und ein Seniorenheim. Vor allem aber gab es eine Bibliothek, eine kleine Dorfbibliothek mit einer Bibliothekarin, die genau wusste, welches Buch in welches Regal gehörte, und die, mittels ordentlich sortierter, ...
Erscheint lt. Verlag | 24.7.2023 |
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Übersetzer | Thomas Altefrohne, Hanna Granz |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Den lodande människan |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Technik | |
Schlagworte | Aale • Abendflüge • Blaue Welt • Blue Marbel • Das Evangelium der Aale • Ebbe • Flut • Helen Macdonald • Meer • Mutter • Mutter-Sohn-Geschichte • Neugier • Pottwale • Rachel Carson • Sohn • Tiefsee • Unterwasserwelt • Wasser |
ISBN-10 | 3-446-27867-2 / 3446278672 |
ISBN-13 | 978-3-446-27867-7 / 9783446278677 |
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