Überwachung in der Gegenwart (eBook)
513 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-098869-7 (ISBN)
Seit den Enthüllungen Edward Snowdens ahnt die Öffentlichkeit das Ausmaß geheim- und nachrichtendienstlicher Massenüberwachung. Neben dem Staat üben in einer digitalen Gesellschaft auch (Technologie-) Konzerne und jede:r Einzelne Formen der (Selbst-)Überwachung aus. Die Strukturen der Überwachung im 21. Jahrhundert sind aufgrund zahlreicher Systeme heterogener und vernetzter als im 20. Jahrhundert. Wie sehr die Überwachungsdiskurse der Gegenwart im Zwischenraum zwischen Fiktion und Wirklichkeit angesiedelt sind, verdeutlicht dieses Buch.
Die Studie betrachtet Romane und andere literarische Texte der Gegenwartsliteratur und stellt ihnen eine Untersuchung faktualer Texte gegenüber. In der Konfrontation von Fiktion und Realität werden Vorstellungen, Narrative und ihre Vermittlungsstrukturen gegenwärtige Überwachung deutlich, die Aufschluss über die der Gemeinschaft zur Verfügung stehenden Interpretationsmuster geben können. Die literarischen wie faktualen Textbeispiele entspringen denjenigen Kontexten von Überwachung und Privatheit, mit denen Individuen in ihrer Alltagswelt Berührungspunkte haben: Terror- und Sicherheitspolitik, Videoüberwachung im öffentlichen Raum, Gesundheitspolitik und -prävention, Praktiken der Selbstüberwachung in sozialen Netzwerken, etwa mithilfe von Tracker-Technologien. Die Fiktion erlaubt es, alternative Verläufe zu erproben, und imaginiert Chancen, Risiken und Gefahren gegenwärtiger Überwachungsphänomene oder -praktiken.
Das Textkorpus besteht aus den literarischen Werken (2009-2017) von Juli Zeh sowie den Romanen 1WTC (2011) von Friedrich von Borries und Follower (2016) von Eugen Ruge. Im Bereich der faktualen Texte werden Beispiele aus der Politik und der Werbung untersucht, die konkrete Überwachungsmaßnahmen, -ereignisse oder -produkte vermitteln. Es handelt sich um die politischen Sprech- und Erzählweisen der Innenminister nach Terrorwarnungen sowie des RKI am Beginn der Covid-19-Pandemie wie um Werbekampagnen zum autonomen Fahren, zu Fitnesstrackern und Smart Watches sowie zu sozialen Netzwerken.
In der Gesamtschau zeigen die Lektüren nicht nur Vorstellungswelten und Narrative sowie deren Implikaturen, sondern es werden vor allem literarische und faktuale Erzählverfahren wie die Perspektivierung gegenwärtige Überwachungserzählungen analytisch erarbeitet und nach der Rolle von Erzählungen und Fiktion im Diskurs befragt.
Sabrina Huber, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf.
1 Überwachung erzählen. Fiktionen. Narrative. Perspektiven — Eine Einleitung
6. Juni 2013. An jenem Junimorgen titelte der Guardian: „NSA collecting phone records of millions of Verizon customers daily.“1 Edward Snowden hatte zuvor der Zeitung Dokumente übergeben, die eine Massenüberwachung der Welt durch Geheimdienste belegen. Der Öffentlichkeit wurde plötzlich gewahr, dass sie einem ‚Verhör ohne Ende‘ inmitten ihrer Privaträume ausgesetzt war. Auf die Frage, warum er das mit der Publikation der Dokumente verbundene Risiko eines Freiheitsverlusts oder Exils auf sich nehme, sagt Snowden: „The public needs to decide whether these programmes and policies are right or wrong […]. I don’t want to live in […] a world where everything I do and say is recorded.“2 Snowden stellt dem Öffentlichen nicht das Private entgegen, sondern das potentiell unrechtmäßige Staatsgeheimnis: ein umfassendes Überwachungssystem, in dem verdachtsunabhängig alle Bürger:innen ‚abgehört‘ werden. So wird Snowden zum Verräter und die Bürger:innen zu Mitwissenden um ihre Überwachtheit, aber auch um ihre eigene Beteiligung daran. Die Enthüllungen markieren den Anfang der öffentlichen Wirklichkeitserzählung3 über Überwachung: Das Emplotment der Wirklichkeit um eine gegenwärtige (staatlich-)systematische Massenüberwachung beginnt hier.
Dieses Ereignis aktiviert zunächst Erinnerungen des kollektiven Gedächtnisses an Überwachungsstaaten. Doch der Öffentlichkeit wurden nicht nur die Aktivitäten der NSA und ihrer Partner bekannt, sondern ebenso die Nutzergeneriertheit der Daten, deren Quellen auch Produkte von Technologiekonzernen sind, die jede:r mit Verhaltensdaten versorgt. Kulturelle Vorstellungen, die zur Verfügung stehende Narrative und die zutage tretenden Überwachungspraxen divergieren. Wenn Überwachung nahezu alle Alltagspraktiken durchdringt, deutet das auf gelebte ‚Kulturen der Überwachung‘.4 „Surveillance is not merely something exercised on us as workers, citizens or travellers, it is a set of processes in which we are all involved, both as watched and as watchers.“5 Heute trägt jede:r wissentlich und willentlich einen Teil zur Überwachungskultur bei und überwacht selbst – weil Alternativen fehlen, Vorteile genossen oder Techniken und Technologien Grundbedürfnisse erfüllen: Kommunikation, Neugier, Lust und Sicherheit. Diese Studie interessiert sich für Darstellungsformen dieser gegenwärtigen Überwachung, die seit dem NSA-Skandals besonders diskutiert werden: Nachgespürt wird narrativen Verarbeitungen von Big-Data-Überwachung und kulturellen Formen der Selbstüberwachung.6 In der Folge verlangen die Entwicklungen der letzten Jahre, dass Überwachungserzählungen komplexer werden – faktuale wie fiktionale.
Das gilt zumal, da im Überwachungsdiskurs fiktionale und faktuale Rede kollidieren: Einerseits dienen Erzählungen und Narrative dazu, gegenwärtige Überwachungssituationen und ihre kulturellen Implikationen wahrzunehmen und zu verarbeiten, indem erörtert wird, welche ethischen, sozialen oder kulturellen Fragen Überwachungspraktiken aufwerfen. Traditionell übernimmt diese Rolle in der Gesellschaft auch die Literatur. Andererseits legitimieren sich Überwachungsmaßnahmen oder -praktiken nur, da sie auf manifesten Narrativen und Wirklichkeitserzählungen fußen, beispielsweise solchen, die eine (Un-)Sicherheit, eine Gefahr oder ein Risiko artikulieren und Überwachung als Lösung auf deren Konflikte erscheinen lassen. Ihre Anwesenheit ist Bedingung. Zu diesem Zweck muss Überwachung selbst erzählend präsent sein. Das bedarf einen weiten Begriff des Erzählens.7 Diesem Phänomen spürt die Arbeit nach und fragt, welche Rolle Erzählungen, Narrative und Fiktionen spielen: Wie wird von Überwachung erzählt? Welche Perspektiven nehmen die Texte ein, welche bieten sie an? Dazu werden Texte der Gegenwartsliteratur befragt und ihre Darstellungen sowie die in ihnen bereitgestellten Vorstellungen mit denen aus faktualen, politischen und ökonomischen Erzählungen der (Selbst-)Überwachung konfrontiert.
Die Erzählgemeinschaft teilt bereits vor dem NSA-Skandal Narrationen, die womöglich in der Lage sind, Aspekte gegenwärtiger Situationen zu illustrieren. So wurde auf der Suche nach Wahrnehmungsschemata beispielweise an das DDR-Bespitzelungssystem gedacht: Für den Stasi-Apparat hat die Erzählgemeinschaft das Narrativ des Überwachungsstaates, in dem die Privatheit von Bürger:innen bis ins Detail überwacht wird. „Nur keine Angst. In jener anderen Sprache, die ich im Ohr, noch nicht auf der Zunge habe, werde ich eines Tages auch darüber reden.“8 So beginnt Christa Wolfs Roman Was bleibt (1990), der seinerzeit eine Sprache für die erfahrene Stasi-Überwachung sucht. In Wolfs Erzählung verwendet man „Codewörter“ und schreibt „Als-ob-Briefe […], als ob niemand mitläse, als ob ich unbefangen, als ob ich vertraulich schriebe“ (WB, 62). Der Text illustriert die psychosomatischen Folgen einer systematischen Überwachung: „Konnte ich darüber noch Bedauern empfinden? Entsetzen? War es mir nicht selbstverständlich geworden?“ (WB, 48) Doch es gibt Unterschiede zu heutigen Überwachungssituationen, die gerade eine Lektüre von Was bleibt offenlegen: „Jetzt wußte ich wieder, was ich damals plötzlich begriff: Sie hatten ihn in der Hand. Und ich erinnerte mich, daß mein Hochmut […] mich hinriß, ihn leise zu fragen: Warum steigst du nicht aus. Und wie er […] stocknüchtern drei Worte sagte: Ich – habe – Angst.“ (WB, 48) Die Überwachten sind sich, das illustrieren Wolfs Codewörter, die Als-ob-Briefe und die durchdringende Fokalisierung der Erzählung, der Allgegenwart der Bespitzelung durch Staat, Stasi, Nachbar:innen bewusst. Überwachung ist offenkundiger und erfahrener Teil des Systems, dessen Macht sich auf deren Sichtbarkeit stützt. Überwachungsstaaten haben panoptische Strukturen. Sie können ihre Sichtachsen zwar in die Gesellschaft verlängern, etwa durch ‚Spitzel‘, haben aber ein Machtzentrum. Ferner haben diejenigen, die bei der Bespitzelung aktiv mitmachen, in Wolfs Roman etwa Freund Jürgen M., Angst auszusteigen. Und es wird zu anderen Zwecken auf das Innere gezielt als heute:
Jetzt denkst du wie sie. […] Die wollen, daß ich ihnen gleich werde, denn das ist die einzige Freude, die ihrem armen Leben geblieben ist: Andere sich gleich zu machen. Denkst du, ich spüre nicht, wie sie an mir herumtasten, bis sie den schwachen Punkt gefunden haben, durch den sie in mich eindringen können? Ich kenne diesen Punkt. Doch den sag ich niemand […]. (WB, 69 f.)
Mittels Überwachung wird in diesem Kontext versucht, eine Übernahme der (parteilichen) Ideologie sicherzustellen und aus Individuen eine gleichförmige Masse zu formen. Im Privaten wird der Widerstand vermutet und daher versucht, Andersdenkende zu identifizieren. Zugleich gehen die Überwachten davon aus, ihren eigenen „schwachen Punkt“ zu kennen, nach dem gesucht wird und ihn ein Stück weit zu kontrollieren. Dieses Narrativ des Überwachungsstaats prägt das Alltagswissen9 und das ‚kollektive Gedächtnis‘10 um Überwachung. Durch dystopische Narrationen wie George Orwells 1984 (1949) verfestigte sich die Vorstellung eines panoptischen Blickregimes,11 das Individualkörper disziplinierend überwacht und bei dem Überwachung unterdrückend erfahren wird. Heute lässt sie sich nicht mehr ausschließlich so begreifen. Haggerty und Erikson betonen mit dem Begriff der ‚surveillance assemblage‘ daher die rhizomatische Vielheit von Überwachung. Ein Zentrum der Überwachung gibt es – anders als noch in der Logik des Romans von Christa Wolf – nicht mehr. Überwachung lässt sich als Assemblage, als Gefüge aus heterogenen, funktional und temporär miteinander verbundenen Praktiken, Akteur:innen und Instanzen, Techniken und Diskursen verstehen. Ein solches Gefüge ist emergent und instabil, es kann sich stetig neu oder anders zusammenfinden. Wo heute auf den Individualkörper zugegriffen wird, so die Autoren, wird er nicht mehr als zu formende Einheit angesehen, sondern in eine Reihe von Zeichen zerlegt und diese Informationen durch das Zusammenwirken verschiedener Ströme als virtuelles ‚Daten-Double‘ wieder zusammengesetzt. Das Konzept betont außerdem das fortschreitende ‚Verschwinden des Verschwindens‘. Jede:r ist beteiligt, niemand kann sich entziehen.12 In den meisten Kontexten ist die ‚Big Brother‘-Metapher daher mittlerweile eine zwar weiterhin beliebte, aber ungeeignete Chiffre für die digitale (Selbst-)Überwachung geworden.13 Als Chiffre für die Bedrohung einer demokratischen und humanen Gesellschaft durch Überwachung wirkt Orwells Roman aber berechtigterweise kulturell stark fort.14 Gleichwohl: In den letzten Jahren wurden vermehrt Texte von Franz Kafka, allen voran Der Proceß (1925), herangezogen, um Überwachungsphänomene der Gegenwart zu beschreiben. Forscher:innen interessieren sich für die Undurchsichtigkeit der im Hintergrund agierenden Mächte und K.s Verstrickungen in die Sphäre der Macht.15 Auch Aldous Huxleys Brave New World (1932) und Friedrich Dürrenmatts Der Auftrag (1986) brechen das panoptische Schema auf, doch wird auf sie weniger verwiesen, womöglich, da beide keine...
Erscheint lt. Verlag | 22.5.2023 |
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Reihe/Serie | Gegenwartsliteratur |
Gegenwartsliteratur | |
ISSN | ISSN |
Zusatzinfo | 1 b/w and 14 col. ill. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Narratologie • Privatsphäre • Selbstüberwachung • Sicherheit • Überwachung • Zukunftsfiktion |
ISBN-10 | 3-11-098869-0 / 3110988690 |
ISBN-13 | 978-3-11-098869-7 / 9783110988697 |
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