Die Stammheim-Protokolle (eBook)
432 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-505-7 (ISBN)
Der Prozess gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe zählt zu den großen Strafverfahren des 20. Jahrhunderts. Die Hauptverhandlung fand von 1975 bis 1977 vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim statt. Belegt der Prozess, dass die Bundesrepublik der Herausforderung durch den Terrorismus standhielt? Oder kann von einem fairen Verfahren keine Rede sein? Bis heute gehen die Einschätzungen darüber auseinander. Hier wird zum ersten Mal eine umfassende Auswahl der unveröffentlichten Gerichtsprotokolle präsentiert. Zahlreiche Anmerkungen erläutern das Prozessgeschehen und ordnen es ein. Das Buch gewährt damit einen unmittelbaren Einblick in einen spektakulären Prozess, in dem der Rechtsstaat mehr als einmal auf die Probe gestellt wurde
Was hier stattfindet in diesem Verfahren, das kann man nicht anders benennen als die systematische Zerstörung aller rechtsstaatlichen Garantien.
Rechtsanwalt Otto Schily, 185. Verhandlungstag
EINFÜHRUNG
Die Entstehung der RAF
Die Rote Armee Fraktion ging aus der Protestbewegung von Studierenden, Hochschullehrer*innen und Intellektuellen hervor, die sich in den 1960er Jahren formiert hatte. Ihren Ausgang nahm die Studentenbewegung in West-Berlin, breitete sich jedoch rasch auch in andere westdeutsche Städte aus. Sie richtete sich zunächst gegen die Hochschulstrukturen, mit dem unmittelbaren Ziel einer Hochschulreform, und gegen die unterbliebene Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Schon bald wandte sich der Protest auch gegen die geplante Notstandsgesetzgebung und ab 1966/67 zunehmend gegen die deutsche Beteiligung am Vietnam-Krieg. Innerhalb der Bewegung entwickelte sich der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) zu einer einflussreichen Gruppierung. Da die 1966 gebildete Große Koalition aus SPD und CDU/CSU im Bundestag einer nahezu machtlosen Opposition (FDP) gegenüberstand, rief der Vorsitzende des SDS, Rudi Dutschke, alle Bewegungen, die politisch links von der SPD standen, zur Gründung einer Außerparlamentarischen Opposition (APO) auf. In der Folge kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrant*innen. Die Presse, allen voran die Blätter des Springerkonzerns, heizte die Stimmung weiter an. Am 2. Juni 1967 erreichte die Polizeigewalt bei einer Demonstration in Berlin gegen den Besuch des Schahs von Persien mit der Erschießung des 26-jährigen Studenten Benno Ohnesorg durch einen Polizeibeamten einen Höhepunkt.
Insbesondere die Kritik am Vietnam-Krieg führte zu einer zunehmenden Politisierung, aber auch Radikalisierung innerhalb der Bewegung. Über den konkreten Konflikt hinaus bildete sie den Ausgangspunkt für eine grundlegende Imperialismus- und Kapitalismuskritik und die Solidarisierung mit revolutionären Befreiungsbewegungen.
In der Nacht des 3. April 1968 legten Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Horst Söhnlein und Thorwald Proll in zwei großen Frankfurter Kaufhäusern Feuer. Diese Aktion fand in den Reihen der APO nicht überall Unterstützung. Ulrike Meinhof, Beobachterin im anschließenden Strafprozess, interpretierte die Brandstiftung in ihrer Kolumne (Konkret Nr. 14, 1968) als »Angriff auf die kapitalistische Konsumwelt« und stellte nüchtern fest, dass diese Konsumwelt durch den Warenhausbrand nicht verletzt worden sei; zudem, so Meinhof, spreche gegen Brandstiftung im Allgemeinen, dass dadurch »Personen gefährdet sein könnten, die nicht gefährdet sein sollen.« Ensslin hingegen, die mit ihren Komplizen rasch gefasst worden war, erklärte in Frankfurt a. M. vor Gericht, es sei ihnen nur um die Beschädigung von Sachen gegangen, niemand habe gefährdet werden sollen. Sie hätten aus Protest gegen die Gleichgültigkeit gehandelt, mit der die Menschen dem Völkermord in Vietnam zusähen.
Ensslin, Baader, Söhnlein und Proll wurden zu Freiheitsstrafen von je drei Jahren verurteilt. Nach 14 Monaten wurde ihnen zunächst Haftverschonung gewährt. Nachdem ihre Revision im November 1969 vom Bundesgerichtshof verworfen worden war, stand die Vollstreckung der Reststrafe von 22 Monaten an. Daraufhin setzten sich Baader und Ensslin zunächst nach Paris und Rom, später nach West-Berlin ab, um sich der Haft zu entziehen. Erst im April 1970 konnte Baader bei einer Verkehrskontrolle in Berlin erneut verhaftet werden.
Am 14. Mai 1970 gelang Baader die Flucht aus dem Strafvollzug. Im Rahmen der bewaffneten Befreiungsaktion, an der unter anderem Ulrike Meinhof beteiligt war, wurden mehrere Personen verletzt, eine davon lebensgefährlich. Die Befreiung Baaders gilt heute als Geburtsstunde der RAF. Nicht nur Baader und Ensslin, sondern auch Meinhof, die nun wegen der Beteiligung an einem versuchten Mord gesucht wurde, lebten von da an im Untergrund. Nachdem die drei sich mit anderen im Juni 1970 in einem palästinensischen Ausbildungslager in Jordanien in den Techniken des Guerillakampfes hatten unterweisen lassen, trat die Gruppe ab September 1970 mit Banküberfällen, Autodiebstählen und Einbrüchen in Rathäuser und Meldeämter zur Besschaffung von Pässen und weiteren Papieren in Erscheinung. Im April 1971 veröffentlichte die nun als Rote Armee Fraktion auftretende Gruppe die Schrift »Das Konzept Stadtguerilla«, in der aus ideologischer Sicht die Notwendigkeit entwickelt wurde, bewaffneten Widerstand zu organisieren. Die RAF verstand sich als Teil einer »revolutionären Weltarmee«, die gegen die Gesellschaft der noch jungen Bundesrepublik, welche als Fortsetzung des nationalsozialistischen Deutschlands begriffen wurde, gegen das kapitalistisch-imperialistische System, gegen die USA und den Krieg in Vietnam kämpfte.
Am 11. Mai 1972 kam es zum ersten von insgesamt sechs Sprengstoffanschlägen innerhalb von zwei Wochen: Im I.G.-Farben-Haus in Frankfurt a. M., dem Hauptquartier des 5. US-Korps, detonierten drei Sprengkörper, wobei eine Person getötet wurde. Am 12. Mai folgten Anschläge in München auf dem Parkplatz des Bayerischen Landeskriminalamts und in der Polizeidirektion Augsburg. Am 15. Mai explodierte eine Sprengvorrichtung unter dem Auto des Richters am BGH Buddenberg; seine Frau, die allein im Wagen saß, wurde schwer verletzt. Am 19. Mai detonierten zwei Sprengkörper im Verlagshaus Springer in Hamburg; drei weitere nichtdetonierte Sprengkörper wurden später im Gebäude gefunden. Am 24. Mai explodierten schließlich zwei Pkw auf dem Gelände des Hauptquartiers der 7. US-Armee und der US-Landstreitkräfte in Europa (USAREUR) in Heidelberg, wobei drei weitere Personen getötet wurden. Die Bilanz dieser »Mai-Offensive«: vier Tote, zahlreiche Verletzte und erheblicher Sachschaden. In sogenannten Kommando-Erklärungen bekannte sich die RAF zu allen Anschlägen.
Stammheim
Im Juni 1972 wurden zunächst Baader und Raspe zusammen mit Holger Meins, dann Ensslin und schließlich Meinhof festgenommen. Der vor dem Oberlandesgericht Stuttgart erhobene Anklagevorwurf gegen alle lautete Mord, versuchter Mord, Bildung bzw. Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Herbeiführen von Sprengstoffexplosionen sowie schwerer Raub, davon in einem Fall mit Todesfolge, und Verabredung zum Raub. Hinzu kam der Vorwurf schweren Diebstahls gegenüber Baader, Ensslin und Meinhof sowie des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte gegen Baader, Ensslin und Raspe. Die Anklagepunkte betrafen die genannten sechs Sprengstoffanschläge, die in der Zeit vom 11. bis 24. Mai 1972 verübt worden waren (»Mai-Offensive«), diverse Raub- und Diebstahlsdelikte zwischen September 1970 und Januar 1972, Straftaten im Zusammenhang mit der Festnahme der Angeklagten und schließlich die Gründung und Beteiligung als Rädelsführer (Baader, Ensslin, Meinhof) und als Mitglied (Raspe, Meins) an einer kriminellen Vereinigung.
Am 21. Mai 1975 begann die Hauptverhandlung vor dem 2. Strafsenat. In der schwäbischen Provinz, in Stammheim, prallte die ganze Normalität und Verstaubtheit der Nachkriegsbundesrepublik auf die Schroffheit einer selbsternannten Welt-Guerilla, die sich im globalen Klassenkampf gegen den Imperialismus des internationalen Kapitals Seite an Seite mit den sozialrevolutionären Befreiungsbewegungen im sogenannten Trikont wähnte. Dieses politische Selbstverständnis fand seinen juristischen Ausdruck in den Versuchen der Angeklagten und ihrer Verteidigung, ein völkerrechtliches Widerstandsrecht und das strafrechtliche Nothilferecht in Stellung zu bringen. Sämtliche Beweisanträge der Verteidigung, die in diesem Zusammenhang standen, wurden durch den Strafsenat abgewiesen. Daneben konzentrierte sich die Verteidigung vor allem auf drei Themenfelder: die Frage der Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten, die Rechte der Verteidigung und die Frage der Befangenheit des Gerichts.
Kritische Aufmerksamkeit fand der Prozess nicht nur nur in den Rechts- und Sozialwissenschaften, sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit. DER SPIEGEL schrieb: »Selten genug rückte ins Blickfeld des Verfahrens, ob und was der Prozeß an neuen Erkenntnissen für oder gegen die Schuld der Angeklagten erbrachte – fast immer verdrängt von den grellen Effekten einer verbissen ausgetragenen Fehde, die die Fronten zwischen den Prozeßbeteiligten versteinerte, der Wahrheitsfindung nicht dienen konnte und sich am Ende nur noch darauf zuspitzte, wer die meisten Federn ließ«.1
Der Hochsicherheitstrakt im 7. Stock der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim. Hier waren die Angeklagten inhaftiert. Aufnahme aus dem Oktober 2002.Nicht ohne Wirkung blieb der Stammheim-Prozess auf die RAF selbst. Die vielfach als überzogen empfundene Reaktion des Staates auf terroristische Gewalt wurde fortan selbst zum Bezugspunkt terroristischer Aktion: Versuche der Freipressung von Gefangenen und die Mobilisierung von »Sympathisanten« durch das Anprangern der Haftbedingungen (»Isolationsfolter«) überlagerten seit Beginn des Stammheim-Prozesses das »Welt-Guerilla«-Narrativ der RAF.
Nachdem die RAF 1992 mitgeteilt hatte, »Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat vorerst...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Technik ► Architektur | |
Schlagworte | Andreas Baader • Gudrun Ensslin • Haftbedingungen • Jan-Carl Raspe • Otto Schily • Politische Strafjustiz • Rechtsstaat • Rote Armee Fraktion • Rupert von Plottnitz • Stammheim-Prozess • Strafprozessordnung • Ulrike Meinhof • Verteidigerrechte |
ISBN-10 | 3-86284-505-2 / 3862845052 |
ISBN-13 | 978-3-86284-505-7 / 9783862845057 |
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