Tagebuch eines jungen Naturforschers (eBook)
240 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99949-6 (ISBN)
Dara McAnulty, 2004 geboren, ist ein Naturforscher, Umweltschützer und Aktivist aus Nordirland. Für seine Naturschutzarbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem von »BBC Springwatch«, vom »Daily Mirror« und vom »Birdwatch Magazine«. Er hat zahlreiche naturkundliche Beiträge für die BBC geschrieben und aufgenommen, wurde Botschafter für die Kampagne iWill und das Jane Goodall Institute. Dara McAnulty ist der bisher jüngste Empfänger der RSPB-Medaille für Naturschutz. Er lebt mit seiner Familie und der Greyhoundhündin Rosie im County Down. Daras Geschwister und seine Mutter sind Autisten wie er. »Tagebuch eines jungen Naturforschers« ist Dara McAnultys erstes Buch. Als Sechzehnjähriger erhielt er 2020 als jüngster Preisträger den renommierten Wainwright Prize for Nature Writing. Er wurde mit zahlreichen weiteren Preisen wie dem British Book Award prämiert.
Dara McAnulty ist ein 16-jähriger Naturforscher, Umweltschützer und Aktivist aus Nordirland. Für seine Naturschutzarbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem von "BBC Springwatch", vom "Daily Mirror" und vom "Birdwatch Magazine". Er hat zahlreiche naturkundliche Beiträge für das BBC Radio und Fernsehen geschrieben und aufgenommen, wurde Botschafter für die RSPCA, die Kampagne iWill und für das Jane Goodall Institute. Dara ist der bisher jüngste Empfänger der RSPB-Medaille für Naturschutz. Er lebt zusammen mit seiner Familie und der Windhündin Rosie im County Down. "Tagebuch eines jungen Naturforschers" ist sein erstes Buch. Als jüngster Preisträger erhielt er im September 2020 den renommierten Wainwright Prize for Nature Writing.
SOMMER
Ich liege auf dem Boden und schaue hinauf in die Zweige einer Eiche. Gesprenkeltes Licht scheint durch das Blätterdach, die Blätter flüstern alte Beschwörungsformeln. Dieser Baum in seiner Lebensstufe schlug Wurzeln in einer Welt, von der ich nichts mehr sehen und hören kann, erlebte Auslöschung und Krieg, Liebe und Verlust. Ich wünschte, wir könnten die Sprache von Bäumen übersetzen – ihre Stimmen hören, ihre Geschichten erfahren. Sie beherbergen so eine große Menge an Leben – Tausende Arten leben in, an oder unter dem mächtigen Riesen. Und ich glaube, Bäume sind wie wir, beziehungsweise beflügeln sie die besseren Teile der Menschennatur. Könnten wir uns bloß so mit unserer Umwelt verbinden, wie diese Eiche mit ihrem Ökosystem verbunden ist.
Ich male mir oft aus, ich hätte ein Blätterdach über meinem Kopf, das mich vor der Welt schützt. Meistens funktioniert das allerdings nicht. Aus Erniedrigungen entsteht Hoffnungslosigkeit. Ich bin vollkommen erschöpft vom ständigen Tief-Durchatmen, Hinweghören über Kommentare und Wegstecken von Schlägen. Zur Sommersonnenwende im Juni fühle ich mich schließlich wie Vogelscheuche auf dem Weg zu Oz mit vollkommen ausgehöhltem Strohkörper. Das Gefühl von Leere wird kurzzeitig überlagert von Verwirrung: Wie können Menschen so grausam sein? Menschen in meinem Alter. Meine Generation. Wie können sie schlagen, boxen, beleidigen? Wer bringt Kindern bei, so brutal zu sein? Warum lästern und verhöhnen sie? Woher kommt all der Hass?
Der Schmerz ist allerdings weniger geworden. Sie können mir nichts mehr anhaben. Sie haben keine Macht über mich, nicht mehr. Ich sehe nur die Schönheit in der Welt, zumindest versuche ich das, so gut ich kann. Das Leben um uns herum ist so faszinierend, bezaubernd. Durch meinen Autismus spüre ich alles intensiver: Ich habe keinen Freude-Filter. Wer anders ist, wer sich überschwänglich freut, wer wohlgelaunt über die Hänge des Alltags surft, wird von vielen Menschen einfach nicht gemocht. Sie mögen mich nicht. Aber ich will meine Begeisterung nicht einschränken. Warum sollte ich?
Während ich gegen die Leere ankämpfe, blüht und gedeiht alles unter der Eiche, und der Wald von Castle Archdale ist voller Leben. Ich freue mich auf Ende Juni, wenn die Schule vorbei ist und ich wieder in Sicherheit bin – zu Hause bei meiner Familie. Die Noten sind immer fast perfekt, das ist der leichtere Teil. Während alle anderen Nummern austauschen und sich für Treffen in den Ferien verabreden, stehe ich dumm rum, gucke verwirrt, betreten in die Gegend. Ich hasse zwar die Idee von Zugehörigkeit, würde aber gerne dazugehören. Stattdessen werde ich den Sommer zu Hause verbringen, werde jeden schönen Tag draußen sein. Es gibt immer Projekte: über Bestäubung, das Mittelalter, die Legende von Beowulf, Lyrik, Musik: Mum ist entschlossen, uns das zu geben, was sie als Kind nicht hatte. Und wir lieben es, vor allem die Ausflüge. Das Reisen. Die Bewegung. Nie gibt es Stillstand, anders als in der Schule.
Wir waren nicht immer so mobil. Vor ein paar Jahren noch hielt sich am besten niemand in meiner Nähe auf. Ich hatte schwere Ausraster, am schlimmsten mit ungefähr sieben, und wenn wir Zeit mit anderen Familien verbrachten – anderen Eltern, anderen Kindern –, war es die Hölle.
Das Licht lässt den Boden unter der Eiche schillern. Und als ich ins glitzernde Gras schaue, steigt in der Wärme eine Erinnerung in mir auf. Es muss vor mindestes zehn Jahren gewesen sein, in Belfast. Es war ein warmer Sommertag wie heute, und wir kamen mit einigen Freunden gerade aus der Buchhandlung in der Ormeau Road. Ich sehe eine Dohlenfeder auf dem Boden, also hebe ich sie auf und schenke sie einem Mädchen, das neben mir steht, meiner »Freundin«. Ich habe sie schon öfter mit meinen Aktionen verwirrt, und heute war es nicht anders: Sie schaut angeekelt auf die Feder, und ihre Mum greift schnell danach und wirft sie weg. »Bäh«, sagt sie. »Schmutzig.«
Ich kann noch immer spüren, wie es in mir hochkochte wie eine Partikelsuppe, die knallend explodiert. Ich konnte mein zorniges Brüllen nicht kontrollieren. Ich brüllte so laut und so lang, dass mein Bruder Lorcan anfing zu weinen. Mum verstand, wie sehr ich verletzt war, das wusste ich, aber was konnte sie tun?
Ich frage mich immer noch, wie die Szene für sie
gewesen sein muss, als Mutter und als Freundin und als Passantin auf der Straße. Ich erinnere mich, wie sie mich hochnahm, ganz sanft, ohne Vorwurf.
Es war nicht das erste Naturgeschenk, mit dem ich jemanden erfreuen wollte, aber es war das letzte. Ich beschloss, dass niemand, sofern er nicht zur Familie gehörte, etwas so Schönes wie eine Feder verdiente. Die Leute fanden Wildnis und Natur eher aus einiger Entfernung schön; Kirschblüten und Herbstblätter waren schön an Bäumen, wo sie hingehörten, aber nicht so schön, wenn sie wie feuchte Fetzen Leder auf den Boden fielen, auf Rasenflächen oder Schulhöfe. Schnecken waren eine Abscheulichkeit. Füchse waren schädlich, Dachse gefährlich. All diese seltsamen Ideen umwickelten mich wie ein Spinnennetz, bis ich ganz gefangen war. Ich war die lästige Fliege, und sie hatten die Kontrolle. Sie kontrollierten die Wildnis und kontrollierten mich. Doch steckt Freude in den Dingen, die man liebt, Kraft, die ich nutzte, um mich zu wehren, redlich und erbittert, und die Kontrolle zurückzuerlangen. Wie ich so unter der Eiche liege, spüre ich sie im Erdreich wogen, ihre Wurzeln mich umwickeln, und eine rege Energie gibt mir Stärke.
Donnerstag, 21. Juni
Die Sommersonnenwende beginnt um drei Uhr in der Frühe. Die Nacht liegt schwer, die Luft ist klar und still, als wir den Wagen packen und nach Belfast zum Fähranleger fahren. Teenager schwelgen immer noch in ihren Prüfungsergebnissen, torkeln, helfen einander durch die Dunkelheit nach Hause. Mum und ich reisen zusammen mit Dr. Eimear Rooney und Dr. Kendrew Colhoun, zwei Ornitholog*innen, die mit auf unsere Expedition nach Callander in Schottland kommen. Eine Reise. Ein Abenteuer. Richtige Feldforschung – mit Habichten! Im Auto muss ich ein Kichern unterdrücken, da es sich alles ein wenig so anfühlt wie Michael Rosens Wir gehen auf Bärenjagd.
Wir erreichen den Fährhafen rechtzeitig, ohne Probleme. Wenn wir einmal das Flugzeug nehmen, gibt es immer irgendwelche: Verspätungen, schmale, enge Sitze. Solche Nähe zu anderen Menschen ist für mich nervenaufreibend. Hier ist das anders. Während sich die Erwachsenen Kaffee holen, lege ich mich für ein Nickerchen in einen der bequemen Ruhesessel. Ich weiß, dass Mum sich nicht ausruhen wird, und als ich im Liegen kurz zur Seite schaue, ist sie da und liest, während Eimear und Kendrew neben ihr schlummern. Sie lächelt mich an. »Ich genieße die Stille«, sagt sie. »So ruhig ist es sonst nie.«
Ich döse wieder weg, und als Mum mich weckt, sind wir schon nahe der Küste. Wir gehen auf eines der Aussichtsdecks, beobachten die Möwen und schauen, was sonst noch zu sehen ist. Die Wolken lichten sich, das Blau bricht durch. Ich fühle mich bestens, voller Vorfreude. Dann merke ich, wie meine Freude in Panik umschlägt. Was wird der Tag alles bringen? Werde ich mich blamieren? Werde ich etwas Nützliches beitragen? Ist mein Vortrag zu lang, zu langweilig? Ein Heruntergeleiere von Habicht-Fakten? Und was, wenn ich körperlich nicht in der Lage bin mitzuarbeiten? Mum spürt meinen beschleunigten Puls. Sie lehnt ihre Schulter an meine und sagt, auch sie mache sich Sorgen, aber es werde schon alles klappen, »Wir sind unter Gleichgesinnten.« Vogelliebhabern. Mitfühlenden Menschen. Sie hat recht, es wird großartig sein.
Die Fahrt ist eindrucksvoll und befremdlich: Auf der einen Seite majestätische Meeresansichten, auf der anderen farblose, leuchtende Felder, eins nach dem anderen, frei von Leben, nur Monokulturen. Die Anbauweise ist industrieller als zu Hause, und der Anblick macht mich schwermütig. Ich frage mich, welche Leben diese grünen Felder verwehren.
Die Erwachsenen klingen alle munter, sie plaudern, aber ich bin nachdenklicher, mache mir Gedanken über das, was vor uns liegt. Ich versuche, mir alle Möglichkeiten auszumalen: den Lebensraum, wie man am besten Habichte zu Gesicht bekommt, wie man am besten über die Waldböden geht oder vielmehr durch den Matsch hüpft. Wir sind mit Fachleuten unterwegs (und werden noch mehr treffen), die alles wissen, doch das hält mich nicht davon ab, den eigenen Grips zu bemühen und planvoll darüber nachzudenken, wie ich die Leute am besten ansprechen soll. Ich probe, was ich sagen werde, wie ich höflich bin, engagiert aussehe. Mein Kopf fängt an zu rauschen: Es ist harte Arbeit, sich all die Details des Tages vorzustellen, bevor sie passieren. Aber ich möchte unbedingt einen guten Eindruck machen.
Meine frühe Faszination für Greifvögel hat sich zu einer Leidenschaft entwickelt, die sie schützen hilft. Vor ein paar Monaten sind Mum und ich durch den Matsch der Cuilcagh Mountains gestapft und gewandert, fünfzig Kilometer durch eine spektakuläre Landschaft, um Geld für die Markierung von Habichten mit Satellitensendern zu sammeln – das erste Programm dieser Art in Nordirland. Das Markieren ist knifflig, wirkt geheimnistuerisch und bedeutet, dass Raubvögel nachverfolgt und überwacht werden, damit Ökologen mehr darüber erfahren, wie sich Vögel bewegen, wo sie nisten, wie ihre Flug- und Verhaltensmuster aussehen. Ziel unserer Reise nach Schottland ist, dass wir uns fortbilden und von den Wissenschaftlern in Callander lernen. Es geht auch darum, den Vogelschutz in der Praxis zu sehen, daran teilzuhaben.
Nachdem...
Erscheint lt. Verlag | 30.9.2021 |
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Übersetzer | Andreas Jandl |
Zusatzinfo | Mit zehn Schwarz-Weiß-Fotos und einer farbigen Karte |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturführer | |
Technik | |
Schlagworte | Arten-Reichtum • Arten-Schutz • Arten-Vielfalt • Asperger • Asperger-Syndrom • Autismus • Autistisch • Bienen • Biodiversität • Einklang mit der Natur • Fische • Fridays For Future • Geschenk für Jugendliche • Greta Thunberg • Insekten • Irland • Irland buch • Irlandfan • Klima • Klima und Umweltschutz • Küste • Landschaft • Meer • Memoir • Mikroabenteuer • Muscheln • Natur • nature memoir • Naturerfahrung • Nature writing • Naturschutz • Nordirland • Pflanzen • Teenager • Teenagergehirn • Teenager Geschenk • Umweltaktivist • Vögel |
ISBN-10 | 3-492-99949-2 / 3492999492 |
ISBN-13 | 978-3-492-99949-6 / 9783492999496 |
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