Das Geschenk der Wildnis (eBook)
272 Seiten
Ludwig Buchverlag
978-3-641-24699-0 (ISBN)
Die Wildnis ist tief in uns verwurzelt: Sie fordert uns, stärkt uns, beruhigt uns und öffnet unser Herz - und sie beschenkt uns jeden Tag aufs Neue. Elli H. Radinger, Naturforscherin und Wolfsexpertin, erzählt spannende und bezaubernde Geschichten, die zeigen, welche Geschenke die Wildnis für uns bereit hält: Abenteuer, Gelassenheit, Staunen, Stille, Dunkelheit, Gemeinschaft, Resilienz, Vertrauen, aber auch Genügsamkeit und Angst gehören unbedingt dazu. Sie nimmt uns mit auf eine inspirierende Reise in die Natur und zu uns selbst und zeigt, wie die Magie der Wildnis unser Leben und Denken verändert.
Elli H. Radinger, Jahrgang 1951, gab vor dreißig Jahren ihren Beruf als Rechtsanwältin auf, um sich ganz dem Schreiben und ihrer Leidenschaft, den Wölfen, zu widmen. Heute ist sie Deutschlands renommierteste Wolfsexpertin und gibt ihr Wissen in Büchern, Seminaren und Vorträgen weiter. Seit einem Vierteljahrhundert verbringt sie einen Großteil des Jahres im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark in Wyoming, um wilde Wölfe zu beobachten. Elli H. Radinger lebt mit ihrer Hündin in Wetzlar, Hessen.
IN DIE WILDNIS
Zion-Nationalpark, Utah, USA
Das Heulen eines Kojoten weckte mich. Es klang, als würde er seinen jubelnden Gruß an die aufgehende Sonne direkt neben meinem Ohr singen. Vorsichtig schälte ich mich aus dem Schlafsack und wischte mit dem Ärmel meiner Fleecejacke das beschlagene Fenster frei. Ich war in der Nacht auf dem Lava Point Campground angekommen und hatte im Auto geschlafen. Früh morgens – noch vor dem Ansturm der Touristen – wollte ich durch die Narrows laufen, einen berühmten Wanderweg inmitten von meterhohen Sandsteinfelsen.
Von meinem singenden Wecker sah ich leider nur noch den Schweif und eine Bewegung im Gebüsch. Ich zog einen warmen Pullover an und machte mir mit dem Gaskocher einen Pulverkaffee.
Als die Sonne über die Klippen stieg und die Felsen erwärmte, spürte ich, wie sich meine Stimmung hob. Mit einer zweiten Tasse Kaffee in der Hand lief ich ein Stück den Virgin River entlang und setzte mich auf einen Stein ans Ufer. Auf der anderen Seite des Wassers sah ein Reh zu mir hin; ich hatte es beim Äsen gestört. Es erstarrte kurz und rannte dann davon. Eine halbe Stunde später beobachtete ich ein Stachelschwein auf einem Ast ausgestreckt, ein Blatt kauend. Dieses einsame, meist nachtaktive Tier schien meine Anwesenheit ebenso wenig zu bemerken wie die aufgehende Sonne.
Ich war mir sicher, es würde ein Tag voller Wunder werden.
In sicherer Entfernung zum noch fressenden Stachelschwein ließ ich mich in das Gras sinken und schaute die Canyonwände hoch, die an einigen Stellen mit einem Hauch Schnee eingepudert waren. Das unschuldige Weiß verwandelte sich im Licht der langsam höher steigenden Sonne nach und nach in Rot, Orange und Gold. Innerhalb weniger Minuten legte sich ein feuriger Schein auf die Felsen. Ich werde nie müde zuzusehen, wie im Südwesten die dunklen Sandsteinfelsen anfangen zu glühen und im Tageslicht immer heller werden.
Es sind diese stillen, einsamen Momente in der Natur, die mich am glücklichsten machen und für die ich vor langer Zeit meine Karriere als Rechtsanwältin aufgegeben habe.
Warum? Warum die Wildnis?, werde ich oft gefragt.
Sir Edmund Hillary bestieg 1953 als erster Mensch den Mount Everest. Als er nach seiner Rückkehr gefragt wurde, warum er überhaupt auf hohe Berge steige, antwortete er ganz lapidar: »Weil sie da sind.«
Ähnlich lautet auch meine Antwort: Ich gehe in die Wildnis, weil sie da ist. Weil sie mir den Atem raubt in all ihrer Schönheit – und Gefährlichkeit. Weil sie mich täglich herausfordert. Weil sie mir so fremd ist wie nichts auf der Welt und ich mich dennoch in ihr wiedererkenne. Die Wildnis schenkt mir Inspiration, Anregungen und einen großen Frieden. So wie an jenem Morgen im Zion-Nationalpark.
»Ich möchte auch so leben wie Sie – frei und in der Natur«, schreiben mir Leser – meist sind es Leserinnen. Sie stellen sich vor, wie sie auf der Bank vor ihrer Blockhütte sitzen, der untergehenden Sonne zuschauen und dabei einen Wolf heulen hören.
Ich frage zurück: »Sind Sie bereit, den Preis für diese Freiheit zu bezahlen? Möchten Sie ohne festes Einkommen und Familie leben? Auf Sicherheit und Rente verzichten?« Das wollen die wenigsten.
Die Wildnis ist kein Hochglanzprospekt. Sie ist hart, schmutzig, nass und kalt. Sie ist gefährlich und sie macht einsam. Das ist die Realität hinter den romantischen Bildern. Die Vorstellungen, die viele Menschen sich davon machen, sind trügerisch.
Wildnis als Paradox: ein Ort des Schreckens und der Sehnsucht, Quelle des Lebens und Verpackung für Träume. Wir scheinen eine Art Hassliebe für sie zu empfinden. Je mehr sie verschwindet, desto größer wird unser Verlangen nach ihr. Wir lesen Bücher über sie, tragen Kleidung mit dem Logo einer Wolfspfote und rüsten uns in Outdoorläden für eine Trekkingtour mit der neuesten Multifunktionskleidung aus. Mit dem SUV fahren wir zum Resort-Hotel oder zum Glamping1 und gönnen uns am abendlichen Lagerfeuer ein Glas Rotwein. Wildnis light!
Gleichzeitig wird rückkehrenden Wölfen und einwandernden Bären der Garaus gemacht, werden die letzten Grünflächen versiegelt und die eingezäunten Vorgärten in Steinwüsten verwandelt.
Wir verbinden in unserem Kopf Wildnis mit unberührter Natur, Dschungel, Einöde und heiler Welt. Wir sind in ihr zu Hause. Unser Verstand hat sich über Millionen von Jahren entwickelt, solange wir noch Jäger und Sammler unter Wildnisbedingungen waren. Erst in den letzten zwei Jahrhunderten wurden wir ins Industriezeitalter katapultiert, in eine Welt der Komplexität.
Heute sind wir überzeugt davon, die Natur kontrollieren zu können, aber sie macht uns einen Strich durch die Rechnung. Das sehen wir immer dann, wenn die Menschen sich aus der Natur zurückziehen. Schauen Sie nur, wie schnell Pflanzen den Asphalt einer verlassenen Straße aufbrechen. Oder wie die Wildtiere während der strikten Ausgangssperre bei der Corona-Pandemie in die Städte zurückkehrten.2
Wir können die Natur nicht kontrollieren, und sie erinnert uns daran, wie weit wir uns von ihr entfernt haben. Sie kommt bestens ohne uns zurecht. Wir hingegen nicht ohne sie, auch wenn wir uns das gerne einreden wollen. Es fühlt sich beruhigender an, die Wahl zu haben: Wildnis auf Zeit mit der Möglichkeit, ihr jederzeit den Rücken kehren zu können, wenn sie uns unbequem, lästig oder anstrengend wird – oder einfach nicht unseren Erwartungen entspricht.
Dabei hat sie uns in Wahrheit stets in ihrer Hand, ob wir wollen oder nicht, weil aus ihr unsere Wurzeln entspringen. Die Wildnis, von der wir so leidenschaftlich träumen, ist nichts anderes als die Sehnsucht, zur eigenen Natur zurückzukehren. Was da nach uns ruft, ist unsere eigene Wildnis.
Ich bin diesem Ruf gefolgt und habe meinen Traum vom Leben in der Wildnis verwirklicht. Wir alle haben das Recht, nach unseren Vorstellungen zu leben und dem zu folgen, was uns die Stimme des Herzens sagt. Haben Sie eine Vision, die immer wiederkehrt, die Sie nicht schlafen lässt und die schmerzhaft in Ihnen brennt? Sind Sie bereit, diesem Traum alles unterzuordnen? Dann folgen Sie ihm. Probieren Sie es aus. Was kann schon passieren? Vielleicht geht es schief und Sie fallen hin. Stehen Sie auf, klopfen sich den Dreck aus der Kleidung, schütteln sich einmal heftig und fangen wieder von vorn an. Geben Sie nicht auf. Sie können stolz auf sich sein, denn im Gegensatz zu Ihren Mitträumern haben Sie es gewagt und damit allein schon gewonnen.
Vielleicht erfüllt sich auch Ihr Traum. Aber das werden Sie erst wissen, wenn Sie es probiert haben. Es ist nie zu spät. Wenn Sie bereit sind, Risiken einzugehen, und Vertrauen haben, können Sie das werden, wozu Sie bestimmt sind.
Um meine eigenen Träume von Freiheit und Wildnis zu leben, habe ich immer wieder neu angefangen, habe das eine Leben aufgegeben und ein anderes ausprobiert. Meist bin ich dabei nur meiner Intuition gefolgt. Manchmal bin ich hingefallen – und wieder aufgestanden in dem Vertrauen darauf, dass alles gut werden wird. Andrà tutto bene haben es die Italiener während der Corona-Krise genannt.
Ich habe gelernt, der Natur zu vertrauen, dem Werdegang des Lebens, darauf, dass alles so geschieht, wie es sein soll. Ich setze meine Hoffnung darauf, dass ich Entscheidungen treffe, die gut für mich sind und mit denen ich leben kann.
Unser Leben wird von Entscheidungen bestimmt und zusammengehalten. Eine nach der anderen, große und kleine, richtige oder falsche. Es spielt keine Rolle. Denn das Leben entwickelt sich weiter. Es wartet nicht auf mich. In der Wildnis bin ich ständig gezwungen, mich zu entscheiden. Welche Abzweigung nehme ich? Suche ich Schutz vor einem herannahenden Unwetter oder laufe ich weiter? Was tue ich, wenn ein Bär auf mich zurennt? Jeder Weg, den ich einschlage, stellt mich vor eine neue Wahl. Und manche Entscheidungen verändern alles.
Bei den wirklich großen Veränderungen meines Lebens bin ich meist meinem Bauchgefühl gefolgt: Weil ich in meinem Job als Rechtsanwältin unglücklich war, bin ich ausgestiegen und habe angefangen zu reisen. Als ich mich in Minnesota in einen Kanubauer verliebte, beschloss ich spontan, zu ihm zu fliegen, um mit ihm in seiner Blockhütte zu leben. Um mehr über Wölfe zu lernen, machte ich ein Verhaltensforschungspraktikum in einem amerikanischen Wolfsgehege und arbeitete anschließend als Freiwillige im Yellowstone-Nationalpark, um dort das Verhalten wilder Wölfe zu erforschen.
Leidenschaftlich und mutig habe ich mich aus ganzem Herzen in jedes Abenteuer gestürzt. Nicht alle Entscheidungen waren richtig und gut. Aber sie alle haben mich gelehrt, geprägt, geformt. Und vor allem: Ich habe mich entschieden. Dadurch habe ich mein Schicksal stets in die eigene Hand genommen. Wann immer ich in einer Situation unglücklich war und das Gefühl bekam, keine Kontrolle mehr über mein Leben zu haben, habe ich einen Neuanfang gewagt.
Während meiner Rechtsanwaltstätigkeit vertrat ich in einem Scheidungsverfahren die Ehefrau. Das Paar lag miteinander im Krieg, und kämpfte schon wochenlang erbittert um jedes kleinste Detail ihres Vermögens. Die entscheidende Verhandlung stand an und mir war übel vor Aufregung, weil ich mich vor den Aggressionen und Anfeindungen beider Seiten fürchtete. Ich erinnere mich genau an den Moment, als ich im Waschraum des Gerichts in den Spiegel schaute und mein kreidebleiches Gesicht sah, das in starkem Kontrast zur schwarzen...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2020 |
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Zusatzinfo | mit Bildteil |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Technik | |
Schlagworte | Abenteuer • Adler • Alaska • Bären • Bisons • Die Weisheit alter Hunde • Die Weisheit der Wölfe • draußen • Dunkelheit • eBooks • Kanada • Kojoten • Lebensweisheiten • Nationalpark • Natur • Outdoor • Peter Wohlleben • Reisen • Sterne • Sternenhimmel • Stille • Tiere • Wale • Wölfe • Yellowstone |
ISBN-10 | 3-641-24699-7 / 3641246997 |
ISBN-13 | 978-3-641-24699-0 / 9783641246990 |
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Größe: 45,6 MB
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