Dilemma Inklusion (eBook)
127 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61258-1 (ISBN)
Prof. em. Dr. Otto Speck lehrte Sonderpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Prof. em. Dr. Otto Speck lehrte Sonderpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Einleitung
Kaum ein anderer Leitbegriff in der Sozialgeschichte hat die Würde von Menschen mit Behinderungen und deren volle Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft so stark in das öffentliche Bewusstsein und damit in die Verantwortung der Gesellschaft gerückt wie die Metapher „Inklusion“. Sie sei zwar zu einem „Modewort“ geworden, wie es im Leitartikel der Süddeutschen Zeitung vom 16.06.2014 hieß (Prantl 2014, 4), was aber nicht bedeuten solle, dass Inklusion etwas „Modisches“ sei. Im Gegenteil, meinte Prantl voller Enthusiasmus, handele es sich um ein gesellschaftspolitisches Prinzip mit dem „gewaltigen Anspruch“ einer „Realvision“ und dem hochgesteckten Ziel einer „Zeitenwende, die viel Geld kosten werde, aber die Gesellschaft wunderbar verändern“ werde. Für die meisten Menschen sei Inklusion schlicht der spontane Ausdruck des Gefühls der Zusammengehörigkeit aller Menschen.
Erste Anstöße zu diesem sozial-ethischen Bewusstseinswandel hatte es schon seit Ende des vorigen Jahrhunderts gegeben. So berichtete unter anderem der bekannte amerikanische Sozialwissenschaftler Jeremy Rifkin in seinem Buch „Die empathische Zivilisation“ von weltweiten Trends seit den 1970er Jahren, die auf ein Verdrängen ökonomisch-materialistischer Wertedominanz durch eine stärkere Geltendmachung immaterieller Werte hindeuteten: „Wir werden Zeugen der größten empathischen Welle aller Zeiten“ (2010, 334). Er bezog sich dabei ausdrücklich auch auf das veränderte empathische Verhältnis gegenüber Menschen mit Behinderungen und wies dabei auch auf verstärkte Bemühungen von Eltern und Verbänden hin, für Kinder mit Behinderungen die allgemeinen Schulen zugänglich zu machen (337).
Diese Einstellungen und Forderungen waren auch hierzulande verbreitet und zwar unter dem Leitbegriff der „Integration“. Da dieser Begriff aber zunächst im Wesentlichen nur von Betroffenen und Fachleuten diskutiert wurde und teilweise auch migrationspolitisch befrachtet war, spielte er eher eine gesellschaftlich marginale Rolle. Dies änderte sich nahezu schlagartig mit dem ansprechenden Begriff „Inklusion“, der sich wie eine neue Mode rasch ausbreitete. Er führte auf der einen Seite zu einer „Massenproduktion“ und „Banalisierung“ des Neuen (Armstrong 2015, VII). Auf der anderen Seite löste er bei vielen Menschen eine echte sozio-emotionale und politische Resonanz aus. Ein solcher Überschwang bestimmte dann 2008 die Beratung zur UN-Behindertenrechtskonvention im Deutschen Bundestag, bei der allerdings der Sachverstand von Fachleuten über die Förderung von Kindern mit Behinderungen und die Meinung und Erfahrung von Eltern und Betroffenen weniger als eigentlich nötig zur Geltung kamen. Dadurch zeigten sich die mit dem Inklusionsmodell unvermeidbar verknüpften Probleme in ihrer Fülle erst nachträglich.
Eine zentrale Dissonanz bildete sich zwischen der mehr spontan und politisch bedingten Zielvorstellung „Eine Schule für alle!“, d. h. eines Verzichts auf spezielle Schulen, und dem Gegenargument, dass dieser Verzicht zu ernstzunehmenden schulischen Nachteilen für bestimmte Schüler mit Behinderungen führen könnte. Derartige Bedenken aber wurden mit der harten Begründung mehr oder weniger zum Schweigen gebracht, dass Inklusion das „Menschenrecht“ auf gemeinsamen Unterricht sei. Die damit verbundene Schließung von Förderschulen verunsicherte Pädagogen und Eltern von Kindern mit Behinderungen, zumal die neue „inklusive“ Lösung in der Praxis weithin mit erheblichen Unzulänglichkeiten verbunden war. Es verwundert daher nicht, dass die Zahl der Vertreter einer gemäßigten bzw. realistischen Konzeption schulischer Inklusion allmählich wuchs (Ahrbeck 2018), wenn auch deren Stimme in der Öffentlichkeit gegenüber den verbreiteten emotionalen Einstellungen der Vertreter einer Einheitslösung zunächst weithin verhallte. Hinzu kam eine gewisse Verlegenheit der Vertreter der bisherigen „Sonderpädagogik“, die die längste Zeit in Übereinstimmung mit der allgemeinen Schule geradezu „monolithisch Massenproduktion“ betreiben konnte (Armstrong 2015, VII). Kritik war also angebracht und fand auch viele Anhänger.
Die Bilanz der Entwicklung eines inklusiven Schulsystems fällt nach zehn Jahren Praxis ausgesprochen zwiespältig aus. Einerseits wird der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Lern- probleme(n) vielerorts von hohem Idealismus und auch einer beachtlichen pädagogischen Qualität getragen. Anderseits sind Mängel unübersehbar. Sie zeigen sich deutlich in der nahezu unverändert gebliebenen hohen Förderschulquote. Der bekannte Bildungsforscher Klaus Klemm spricht in seinem Lagebericht „Unterwegs zur inklusiven Schule“ 2018, herausgegeben von der Bertelsmann Stiftung, aus bildungsstatistischer Perspektive von einem „mageren“ Ergebnis. Öffentliche Kritik wird vor allem von Seiten der betroffenen Lehrerinnen und Lehrer sowie der Eltern geübt. Sie richtet sich vor allem gegen eine unzulängliche Vorbereitung des neuen Schulsystems und gegen unzureichende Ressourcen. Das Ganze beruhe zwar auf einer guten Idee und habe auch gute Vorbilder, sei aber in der Praxis unausgereift (Klemm 2018).
Der entstandene allgemeine Streit um die schulische Inklusion lähmt die an sich notwendige Diskussion um eine Lösung der entstandenen Probleme, schadet aber auch der guten Idee und setzt unter Umständen die Förderungschancen vieler Kinder mit Behinderungen aufs Spiel.
Auf der anderen Seite kann verzeichnet werden, dass inzwischen 25 Schulen mit dem Jakob Muth-Preis oder dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurden, weil sie das Projekt Inklusion beispielhaft umgesetzt hatten. Allerdings haben z. T. unerwartete Hindernisse zu Umsetzungsschwierigkeiten und Enttäuschungen geführt.
Gründe für die eingetretenen Probleme und Spannungen liegen aber nicht nur in realen Schwierigkeiten der organisatorischen Umsetzung, sondern auch in konzeptionellen Differenzen. Im Weg stehen vor allem falsch eingeschätzte Bedarfe an Ressourcen, aber auch fragwürdige Konsequenzen, die durch inkorrekte Übersetzungen des in englischer Sprache verfassten Textes der UN-BRK bzw. durch Inkompatibilitäten der fachlichen Terminologien mit den jeweils verschiedenen rechtlichen und organisatorischen Strukturen in den einzelnen Ländern entstanden sind.
Es fällt auch auf, dass sich die eingetretenen Verknotungen des Inklusionsprinzips besonders auf den Bildungsbereich beziehen, nicht aber im Sozialbereich virulent sind. Dies dürfte vor allem zwei Gründe haben: Zum einen handelt es sich beim Schulsystem um ein staatlich strikt bis in rechtlich-organisatorische Details des Schulalltags und der Schulpflicht geregeltes System, das sich als schwer beweglich erweist. Zum anderen stellt gerade diese staatliche und gesetzliche Geregeltheit einen Anreiz dar, auf schnellerem und direktem Weg eine Reform durchzusetzen. Gesetze müssen schließlich umgesetzt werden. Dass diese Beschleunigungsmethode zu neuen Problemen führen kann, zeigte sich vergleichsweise nach der Einführung des achtjährigen Gymnasiums in Deutschland. Diese musste inzwischen widerrufen werden. Auffallend ist außerdem, dass der Streit um den Art. 24 der UN-BRK – im Unterschied zu anderen Ländern – in Deutschland besonders heftig ausgetragen wird.
Als lästig kann man schließlich Missverständnisse bezeichnen, die dadurch entstehen, dass in der Diskussion terminologisch zu sehr verallgemeinert wird und z. B. die Unterschiedlichkeit der Lernsituation in Bezug auf verschiedene Behinderungsarten und Bedürfnisse zu wenig beachtet wird. Eine körperliche oder sprachliche Behinderung hat ein anderes Gewicht für das einzelne Kind und für den gemeinsamen Unterricht als eine geistige Behinderung oder eine schwerwiegende sozio-emotionale Entwicklungsstörung. Es genügt auch nicht, beim nötigen Personal nur von „Sonderpädagogen“ zu sprechen, ohne zu differenzieren, dass jeder Sonderpädagoge nur über bestimmte behinderungsbezogene Qualifikationen verfügt.
Dass eine Systemveränderung Anfangsprobleme hervorbringt, ist an sich verständlich. In diesem Falle aber scheinen viele der eingetretenen Probleme über sogenannte Kinderkrankheiten hinauszureichen. Damit steht das gesamte bisher verfolgte Konzept schulischer „Inklusion“ zur Überprüfung an. Ein wichtiger Teil dabei ist seine Ideologielastigkeit. Diese hat u.a. dazu geführt, dass das schulpädagogische Inklusionskonzept in den Rahmen eines totalisierenden Zukunftsbildes, das als einzig erstrebenswert erscheint und eine „inklusive Gesellschaft“ voraussetzt, gestellt wird.
Bei einer derartigen Zielvorstellung werden die Gesamtheit der gesellschaftlichen Zusammenhänge, die Rolle der Einzelnen darin und die in Aussicht gestellte Glückserfüllung von einem einheitlich und autoritär definierten Komplex aus Idee, Normen oder Dogmen her gedeutet (Bauer 2018, 42). Dabei beruhen die Bedingungen für die Verwirklichung der Idee oder des verkündeten neuen Welt- und Menschenbildes im Wesentlichen auf Annahmen. Sie können sogar Formen und die Dynamik eines Glaubenssystems annehmen. Geradezu dogmatisch gilt dann die Abwehr einer Mehrdeutigkeit des Inklusionsbegriffs, z. B. hier die Ablehnung des gleichzeitigen Bestehens spezieller Schulen. Verteidigt wird die „Reinheit“ der Lehre, ihre Eindeutigkeit. Die neue Idee wird mit einem Absolutheitsanspruch als einmalige, unüberholbare und endgültige...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
Technik | |
Schlagworte | Inklusion • inklusiver Unterricht • Inklusive Schule • inklusives Setting |
ISBN-10 | 3-497-61258-8 / 3497612588 |
ISBN-13 | 978-3-497-61258-1 / 9783497612581 |
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