Wolfsspur (eBook)
320 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45641-5 (ISBN)
Ulrike Strerath-Bolz übersetzt seit mehr als 30 Jahren Sachbücher und Romane aus dem Englischen, Französischen und den skandinavischen Sprachen. Zu Autor*innen gehören u. a. Richard Rohr, Terry Eagleton und Mike Wiking, aber auch Barbara Erskine und Mary Higgins Clark.
Ulrike Strerath-Bolz übersetzt seit mehr als 30 Jahren Sachbücher und Romane aus dem Englischen, Französischen und den skandinavischen Sprachen. Zu Autor*innen gehören u. a. Richard Rohr, Terry Eagleton und Mike Wiking, aber auch Barbara Erskine und Mary Higgins Clark.
Es werde Wald
Shutterstock.com / © Artic_photo
Diese Tour wird anders verlaufen, denke ich an diesem eiskalten Wintertag, während Oslo hinter mir verschwindet, mit seinen Wohnblocks, seinem Asphalt und seinen Abgasen. Und schon nach zehn Minuten Fahrt kommt er auf mich zu: der Wald. Nicht wie bei einer Autoreise durch Europa, so hell und bruchstückhaft, grüne Flecken zwischen Wiesen und Äckern, sondern dunkel und massiv.
Wenn das mein Plan gewesen wäre, hätte ich jetzt sechstausend Kilometer nach Osten immer nur durch Wald fahren können. Denn wenn wir uns das Satellitenbild ansehen, finden wir darauf einen ungeheuer langen grünen Gürtel von Nadelwald: die Taiga, die sich von Norwegen im Westen bis zum Pazifik im Osten erstreckt. Eine grüne Schärpe, die sich um die Erde legt.
Es gibt heute auf unserem Planeten, zumindest auf der Landfläche, kein größeres zusammenhängendes Ökosystem oder Biom. Viele halten den Wald für eine Selbstverständlichkeit, aber das Leben auf der Erde wäre nicht dasselbe ohne ihn. Er ist nicht nur Lebensraum für Millionen von Arten, er dient auch als riesiger Regulator der Temperatur. Er kühlt die Erde, bringt Feuchtigkeit und verhindert Dürre, und er bindet klimaschädliche Gase. Er fängt Überschwemmungen ab und hält das Erdreich fest. Eine Erde ohne Wald wäre eine fremde Erde, ein Planet, den wir nicht wiedererkennen würden, ein Planet, der nur aus Wüsten, Savannen, Prärien, Äckern und Tundra bestünde.
Die Autobahn zieht sich wie eine breite Schneise durch den Wald. Während ich mich Ski nähere, wird der Wald brüchig, verdrängt von Ackerflächen, Wohngebieten, Industrieanlagen und Bauernhöfen. Nur noch kleine Waldstücke mit Nadelbäumen und Birken liegen wie Flecken in der Landschaft zwischen schneebedeckten Feldern und Wiesen an der E18. Eine große, offene Hochebene mit Baumstümpfen und Haufen von Ästen grinst mich an und erinnert mich daran, dass das Holz der Wälder uns Baumaterial für unsere Behausungen und Brennmaterial zum Heizen geliefert hat, außerdem Material für Fahrzeuge, Werkzeug und Papier. Holz war eine Voraussetzung für unsere Zivilisation, wie der römische Philosoph Lukrez bereits vor zweitausend Jahren betonte. Das griechische und das römische Wort für Holz, hulae beziehungsweise materia, sind beides Wörter mit der Bedeutung »Element«, »Grundstoff«.[1] Nach vielen Tausend Jahren der Zivilisation haben wir Menschen es immer noch nicht geschafft, ein Baumaterial zu produzieren, das ähnlich stark, flexibel und beständig ist wie Holz.
Weiter östlich fahre ich an Hobøl und Askim vorbei. Die Nadelwälder liegen wie große, lang gestreckte grüne Schiffe in einem Meer aus weiß verhüllter Erde und Weideland. In tieferen Schluchten klammern sich Laubwald und vereinzelte Nadelbäume fest, außerhalb der Reichweite der Rodungsmaschinen. Gleich hinter Mysen fahre ich von der Autobahn ab und bewege mich auf das Ziel meiner Reise zu, den Svarverudskogen, wo der Hof von Mats liegt. Mats ist mein Freund seit Teenagertagen. Nachdem ich ein Stück einen holprigen Feldweg entlanggefahren bin, vorbei an einem schmalen Keil Weideland, Moor und Wasser, taucht endlich das weiße Wohnhaus von Svarverud auf. Dahinter erstreckt sich ein scheinbar endloser Wald von Ost nach West, so weit das Auge reicht.
Jeder Mensch hat, bewusst oder unbewusst, eine Beziehung zum Wald. Aber was bedeutet er uns eigentlich? Etwas, was eben da ist, fast wie ein Dekostück? Eine Ansammlung von Bäumen, an denen wir auf unseren Wanderungen vorbeikommen? Einen Ort, an dem wir Stille und Ruhe finden, wo wir den unverkennbaren Duft einsaugen und zusehen, wie das Sonnenlicht sich seinen Weg durch die Wipfel sucht? Oder ist der Wald für uns ein Ort für Jagd, Fischerei und Beerenernte? Die meisten von uns würden bei der einen oder anderen dieser Möglichkeiten wohl nicken. Aber ich frage weiter: Wie gut kennen wir eigentlich den Wald und seinen verschlungenen Entwicklungsweg bis heute, da er ein lebenswichtiges Ökosystem geworden ist, in dem Vögel, Kriechtiere, Säugetiere, Insekten und Amphibien ein Zuhause finden? Wissen wir, wie der Wald von uns Menschen geformt und interpretiert wurde und wird?
Diese und andere Fragen hatte ich mir gestellt. Obwohl ich ganz in der Nähe des Krokskogen in Bærum aufgewachsen bin, lief ich jahrelang durch den Wald, ohne zu wissen, warum er sich im Herbst verfärbt. Wenn ich eine Spur im Schnee sah, hatte ich keine Ahnung, von welchem Tier sie stammte. Kaum dass ich die verschiedenen Baumarten voneinander unterscheiden konnte. Obwohl ich Geologe bin, war mir die tiefere Geschichte des Waldes dunkel und fern. Hat der Wald an der Schnellstraße in Østfold immer schon so ausgesehen wie heute? Und wenn nein, wie hat er sich verändert? Für mich als Norweger fühlte es sich ein bisschen so an, als hätte ich keine Ahnung von Harald Schönhaar, 1814 und dem 9. April.[2] Der Wald war wie eine Kulisse, die ich nicht richtig verstand, ein Mysterium aus Zellulose und Lignin, das auf mich wartete, damit ich es erforschte.
Der Drang, in den Wald zu gehen und ihn kennenzulernen – dieser Drang, der mich dazu veranlasst hat, mir an diesem Wintertag freizunehmen –, kam nicht von heute auf morgen, sondern entstand ganz allmählich. Schon als ich mein erstes Buch schrieb, hatte ich mich in Moore versenkt, Pollendiagramme studiert und mich mit der jüngeren Geschichte des Waldes nach der Eiszeit beschäftigt. Und im Sommer 2018 habe ich mit meiner Tochter an einem Baumprojekt gearbeitet. Sie hatte keine große Lust dazu, aber mit einem Vater, der sich immer mehr mit dem Thema Wald beschäftigte, blieb ihr keine andere Wahl. Wir haben Blätter gesammelt und in Büchern gepresst, sodass wir ein kleines Herbarium anlegen konnten. Das Ziel war, so viele Baumarten wie möglich zu finden. Endlich lernte ich, wie eine Weide aussieht, und konnte eine Ulme von einer Esche unterscheiden. Und als mir klar wurde, dass der seltsame Baum bei unserer Hütte eine Linde war, konnte ich meine Tochter mit dem frisch erworbenen Wissen beeindrucken, dass der Botaniker Linné (und Linnea) wie auch die Berliner Prachtstraße Unter den Linden ihre Namen diesem Baum verdanken. Später im gleichen Sommer unternahm ich noch eine Forschungsreise ins kahle Svalbard (Spitzbergen), hackte Blattfossilien, versteinerte Holz- und Kohlestücke aus dem Boden, spürte längst verschwundene Wälder auf – und betrachtete sie voller Ehrfurcht und Neugier. Einer meiner Funde, ein 150 Millionen Jahre altes versteinertes Holzstück, sah fast so aus, als stammte es aus dem Holzregal bei mir zu Hause. Als ich es hochhielt und betrachtete, ockergelb und mit deutlich sichtbaren Jahresringen, kam es mir so vor, als wäre die Zeit zwischen uns weggewischt. Aber was für eine Geschichte dieser Fund erzählen konnte, war mir überhaupt nicht klar.
Obwohl ich schon seit längerer Zeit vom Wald fasziniert war, hatte ich erst vor ein paar Wochen beschlossen, mich systematischer und nicht nur mit halbem Herzen seiner Erforschung zu widmen. Angesichts meiner unverzeihlich großen Wissenslücken in Botanik und Zoologie fing ich an, mich in das Thema Wald einzulesen. Und als mir klar wurde, auf was für ein unglaublich umfassendes Gebiet ich mich da eingelassen hatte – ein Gebiet, von dem ich spürte, dass ich mich ihm nur oberflächlich und bruchstückhaft nähern konnte –, rief ich Mats an. Er wohnt im Wald, ist Biologe, Waldbesitzer und Wissenschaftler, und er weiß mehr über den Wald und sein Leben als irgendjemand sonst, den ich kenne. Ich schlug Mats vor, zusammen eine Mini-Expedition in seine Wildnis zu unternehmen. So oft war ich auf Svarverud gewesen, wir hatten zusammen gefeiert, Pilze und Beeren gesammelt, den Kindern die Tiere auf dem Hof gezeigt oder waren einfach nur draußen unterwegs gewesen. Doch wenn Mats uns dabei vom Wald erzählt hatte – von seiner Nutzung, vom Holzmachen, der Jagd und dem Elchbestand –, war ich immer nur mit halbem Ohr dabei gewesen. So richtig zugehört hatte ich nicht. Diese Tour wird anders verlaufen. Diesmal wollen wir den Wald zusammen erforschen.
Als ich auf den Hof fahre und das Auto abstelle, kommt Mats schon heraus. Er trägt einen blauen Goretex-Anorak, grüne Trekkinghosen und kräftige, hohe Jägerstiefel aus Leder. Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, hat er seinen Bart wachsen lassen. Die Haare trägt er kurz geschnitten – die wild gelockte Mähne von früher ist verschwunden. Die Hauswiese wird von dem stattlichen weißen Jugendstilwohnhaus, einem etwas windschiefen gelben Hühnerhaus und einer roten Scheune in Blockbauweise eingerahmt. Nach Westen hin wird sie von einer dichten Fichtenhecke abgeschirmt. Normalerweise wimmelt es hier geradezu von Tieren – Gänse, Katzen, Hunde, Hühner, Schweine und Ziegen. Aber heute ist es so kalt, dass nicht mal die Tiere hinauswollen.
Seit sechs Generationen gehört dieses Haus Mats’ Familie. Sein Urururgroßvater Christian Andersen Haneborg, den man auch den »Wachtmeister« nannte, hat das Anwesen im Jahr 1858 gekauft. »Ein großes Glück für den Hof und den Besitz, dass sie dieser vermögenden, angesehenen Familie zufielen«, steht in einem kleinen Buch über den Hof zu lesen. Damals hatte es eine ganz andere Bedeutung, Waldbesitzer zu sein. Immerhin lieferte der Wald fast die Hälfte der Exporteinnahmen unseres Landes. Auf Svarverud war eine ganze kleine Gemeinde mit dem Wald verbunden. Heute reicht die Nutzung des Waldes kaum aus, um die Kreditraten zu bezahlen. Mats muss auf sein Einkommen aus Berufstätigkeit...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2019 |
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Übersetzer | Dr. Ulrike Strerath-Bolz |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Technik | |
Schlagworte | Baum • Die Weisheit der Wölfe • Elli H. Radinger • Erzählendes Sachbuch • Evolution • geschenk tierfans • Geschenk Tierfreund • Geschenk Tier-Freunde • Geschenk Tier-Liebhaber • Jäger • Klimawandel • Kulturgeschichte • Märchen • Mythen • Naturgeschichte • Naturschutz • Ökologie • Ökosystem • Ökosystem Wald • Pflanzen im Wald • Radinger • Rudel • SACHBUCH NATUR • Sachbuch Wald • Skandinavien • Spurensuche • Tier im Wald • Wald • Waldbaden • Waldpflanzen • Waldtiere • Wildnis • Wildtier • Wolf • Wölfe • Wölfe Buch • Wolf und Mensch |
ISBN-10 | 3-426-45641-9 / 3426456419 |
ISBN-13 | 978-3-426-45641-5 / 9783426456415 |
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