Die Genies der Lüfte (eBook)
448 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00068-1 (ISBN)
Jennifer Ackerman ist preisgekrönte Autorin und schreibt seit über 25 Jahren über Wissenschafts- und Naturthemen, u.a. für The New York Times Magazine, Scientific American und National Geographic.
Jennifer Ackerman ist preisgekrönte Autorin und schreibt seit über 25 Jahren über Wissenschafts- und Naturthemen, u.a. für The New York Times Magazine, Scientific American und National Geographic. Christel Dormagen, geboren 1943 in Hamburg, arbeitet seit dem Studium der Anglistik und Germanistik als Journalistin für Rundfunk und Printmedien sowie als Übersetzerin für angloamerikanische Literatur. Sie lebt in Berlin. Hubert Mania, geboren 1954. Studium der Germanistik und Anglistik. Danach selbständiger Konzertveranstalter und Manager eines Kulturzentrums. 1987 erschien bei Rowohlt sein Roman «Scintilla Seelenfunke». Übersetzung populärwissenschaftlicher Bücher, Mitredakteur bei Stephen Hawkings Büchern «Eine kurze Geschichte der Zeit» und «Das Universum in der Nussschale». Hubert Mania lebt als Autor und Übersetzer in Braunschweig. Weitere Bücher bei Rowohlt: «Gauß. Eine Biographie» (2008), «Kettenreaktion. Die Geschichte der Atombombe»(2010).
Eins
Vom Dodo zur Krähe
Ein Vogelhirn wird vermessen
Der Wald ist kühl, dunkel und, bis auf gelegentliche Vogelrufe aus dem dichten Laubdach hoch oben, ein Teppich aus Farbschattierungen von Smaragd- und Avocadogrün bis zum Grün von Flechten und einem dunklen, fast kupfern schillernden Grün. Das ist der typische Gebirgsregenwald von Neukaledonien, einem entlegenen Landfinger im südwestlichen Pazifik, auf halbem Weg zwischen Australien und den Fidschiinseln. Der Parc des Grandes Fougères ist nach dem gigantischen Baumfarn benannt, der bis zu sieben Stockwerke hoch wird und diesem Wald eine wahrhaft urzeitliche Aura verleiht. Der Pfad, dem ich folge, steigt eine Weile an und fällt dann wieder ab zu einem Fluss, wo die Rufe und Lieder der Vögel lauter werden.
Ich bin auf diese Insel gereist, um den wohl schlauesten Vogel der Welt zu sehen, die Geradschnabelkrähe (Corvus moneduloides), ein Mitglied der recht gewöhnlichen, aber ungewöhnlich intelligenten Familie der Rabenvögel. Diese Vogelgattung wurde zunächst durch Betty berühmt, jene Krähe, die vor einigen Jahren anscheinend spontan ein Stück Draht zu einem Haken bog, um an schwer zugängliches Fressen zu kommen. Und dann, vor kürzerem, durch einen Schlauberger von Vogel, der den Spitznamen «007» bekam und 2014 zum Star wurde, nachdem seine schnelle Lösung einer komplizierten Denkaufgabe von der BBC gefilmt worden war.
Die Aufgabe, die aus acht separaten Stufen bestand, wurde von Alex Taylor konstruiert, einem Hochschuldozenten an der Universität von Auckland in Neuseeland. Verschiedene kleine Kästen und «Werkzeugkisten» mit Stöcken und Steinen waren auf einem Tisch aufgebaut. Die einzelnen Teile des Rätsels kannte Vogel 007 schon, aber nicht in dieser speziellen Zusammenstellung. Um an das Stück Fleisch in der letzten Kammer, dem Futterkasten, zu kommen, musste er die Lösungsschritte nacheinander in der richtigen Reihenfolge vornehmen.
In dem Video fliegt ein dunkler, hübscher (mit «007» passend benannter) Vogel ins Bild, landet auf dem Tisch und mustert erst einmal die Situation. Dann flattert er hoch zu einem Zweig, an dem eine Schnur mit einem unten daran festgebundenen Stock hängt – der erste Schritt. Er zieht die lange Schnur mit mehreren Schnabelgriffen zu sich hoch, bis er den Stock aus der Schlinge ziehen kann. Wieder auf dem Tisch, hüpft er zum Futterkasten und versucht, das Fleisch mit dem Stock durch das unten angebrachte Loch zu angeln. Doch der Stock ist zu kurz, worauf er ihn stattdessen dazu benutzt, um aus drei verschiedenen Kästen jeweils den darin befindlichen Stein zu fischen. Die Steine lässt er nacheinander durch ein Loch im Deckel einer Kiste fallen, in der auf einer Wippe ein langer Stock liegt. Mit dem Gewicht des dritten Steins kippt die Wippe in der Kiste und gibt den Stock frei, den der Vogel dann zur Futterkammer trägt, um das Fleisch herauszufischen.
Es ist ein erstaunlicher Vorgang, und der Vogel braucht ganze zweieinhalb Minuten dafür. Der wirklich clevere Teil dabei ist folgender: Für die achtstufige Denkaufgabe muss der Vogel begreifen, dass er ein Werkzeug nicht nur dafür benutzen kann, um direkt an die Nahrung zu kommen, sondern auch, um an ein weiteres Werkzeug zu kommen, mit dessen Hilfe er schließlich ans Ziel gelangt. Dass eine Kreatur sich mit einem Werkzeug spontan einen Gegenstand besorgt, der nicht Nahrung ist, sondern dafür gedacht, an ein anderes Werkzeug zu kommen – ein sogenannter Metawerkzeuggebrauch –, kannte man bis dahin nur bei Menschen und Menschenaffen. «Das legt den Schluss nahe, dass Krähen ein abstraktes Verständnis davon haben, was ein Werkzeug tut», sagt Taylor. Außerdem erfordert die Aufgabe ein aktives Gedächtnis (Arbeitsgedächtnis), d.h. die Fähigkeit, Fakten oder Gedanken zu behalten und sie für kurze Zeit – vielleicht ein paar Sekunden lang – hin und her zu bewegen, während man ein Problem löst. Bei uns Menschen sorgt das Arbeitsgedächtnis dafür, dass wir behalten, was wir gerade suchen, wenn wir zum Beispiel ein Bücherregal nach einem bestimmten Titel durchforsten oder eine Telefonnummer so lange behalten, bis wir einen Zettel zum Notieren gefunden haben. Es ist also ein unerlässlicher Bestandteil von Intelligenz; und Krähe 007 scheint darüber in hohem Maße zu verfügen.
Irgendwo am Flusslauf höre ich schließlich das Wak Wak einer Geradschnabelkrähe oder von zweien, die einander rufen – es klingt nicht viel anders als das Krah Krah einer Amerikanerkrähe, nur eben verkehrt herum. Sehr häufig begegnet man Vögeln auf diese Weise als körperlosen Stimmen. Das leise, klagende Huh Huh in der Ferne könnte das kleine grüne Nebelhorn einer Spaltschwingentaube sein, eines exotischen Harlekins von Vogel mit weißen und dunkelgrünen Schmuckbändern über Rumpf und Flügeln. Aber das Baumkronendach ist so dicht, dass ich überhaupt keine Vögel entdecken kann.
Vor mir taucht eine Lichtung auf. Aber die Sonne verschwindet hinter einer Wolke, und der Wald wird dunkel. Plötzlich höre ich ein eigentümlich fauchendes Zischen. Ich blicke angestrengt zur Lichtung. Das Zischen kommt näher. Dann sehe ich, wie ein großer, bleicher Vogel aus der grünen Finsternis wie ein vom Erdboden losgelöster Geist auf mich zurennt, ein Mischwesen aus Vogel und Gespenst. Er ist reiherähnlich, kniehoch, mit einem Kakadukamm, aber rauchgrau: der flugunfähige Kagu (Rhynochetos jubatus), alleiniger Repräsentant seiner Familie und einer der hundert seltensten Vögel auf der Erde.
Eigentlich hatte ich nach einem auf dieser Insel weit verbreiteten, höchst cleveren Vogel Ausschau gehalten. Und nun stolperte ich über einen absolut seltenen Vogel, einen, der … im Grunde … gar nicht da sein dürfte. Der Kagu steht kurz vorm Aussterben; die Population umfasst nur noch ein paar hundert Exemplare. Kein Wunder, dachte ich. Ein Vogel, der seinem möglichen Jäger in die Arme läuft?
In gewisser Weise ist der Kagu so etwas wie das Gegenstück zur Krähe, ein Abgesandter vom dunklen Ende des Intelligenzspektrums. Wie kann dieses Geschöpf zur selben phylogenetischen Klasse gehören wie die gerissene Krähe? Beide Vögel bewohnen dieselbe abgelegene Insel. Sind die Geradschnabelkrähen eine evolutionäre Anomalie, superintelligente Abweichler, die sich extrem weit von ihren gefiederten Artgenossen entfernt haben? Oder befinden sie sich schlicht am oberen Ende des Genie-Kontinuums der Vögel? Aber ist denn der Kagu wirklich solch ein Dodo?
Natürlich sind nicht alle Vögel gleich klug und in jeder Hinsicht gleich geschickt – zumindest nicht aus heutiger Sicht. Tauben können zum Beispiel nicht abstrahieren, wenn es darum geht, auf eine Reihe ähnlich gelagerter Probleme dieselbe generelle Regel anzuwenden, was Krähen leicht erlernen. Aber die in diesen Belangen unbedarfte Taube ist in anderer Hinsicht durchaus ein Schlaumeier: Sie kann Hunderte verschiedener Objekte über einen langen Zeitraum hinweg im Gedächtnis behalten, zwischen verschiedenen Malstilen unterscheiden und den Weg nach Hause finden, auch wenn sie meilenweit vom heimischen Territorium entfernt ausgesetzt wurde. Watvögel wie Regenpfeifer, Sanderlinge und Wasserläufer scheinen nicht über «Einsichtsfähigkeit» zu verfügen, erkennen also keine Zusammenhänge, die es Vögeln wie der Geradschnabelkrähe erlauben, Werkzeug zu benutzen oder mit menschengemachten Vorrichtungen so umzugehen, dass ihr Einfallsreichtum durch Futter belohnt wird. Aber einer der Watvögel, der Flötenregenpfeifer (oder Gelbfuß-Regenpfeifer) ist ein meisterhafter Komödiant: Er kann Räuber von seinem sehr exponierten Nest mit der Aufführung eines vorgetäuschten «gebrochenen Flügels» weglocken.
Was macht einen Vogel schlauer als einen anderen? Wie messen wir überhaupt die Intelligenz von Vögeln?
Um diese Fragen zu ergründen, habe ich mich an einen Ort begeben, der eine halbe Weltreise entfernt von Neukaledonien liegt: die karibische Insel Barbados, wo Louis Lefebvre vor mehr als einem Jahrzehnt die erste Intelligenzskala für Vögel erfand.
Lefebvre, Biologe und Psychologe an der McGill University, erforscht seit Jahren die Beschaffenheit des Vogelverstands und wie man ihn messen kann. Eines Winters vor noch gar nicht langer Zeit suchte ich ihn und seine Vögel im Bellairs Research Institute auf, wo er seine Untersuchungen durchführt; es handelt sich dabei um eine Ansammlung von vier kleinen Gebäuden in der Nähe von Holetown an der Westküste von Barbados. Das kleine Institut wurde der McGill University 1954 von Commander Carlyon Bellairs vermacht, einem britischen Marineoffizier und Politiker; gedacht war es ursprünglich als Station für Meeresforschung. Inzwischen benutzen außer Lefebvre und seinem Team nur noch wenige Forscher das Institut. Ich kam im Februar, mitten in der Trockenzeit von Barbados; doch häufige monsunartige Regengüsse setzten den Hof des Instituts unter Wasser, und es bildeten sich Pfützen in den Kuhlen und Vertiefungen auf der Terrasse in Seabourne, dem Wohngebäude direkt an der karibischen See, wo Lefebvre untergebracht ist, wenn er seine Forschungen betreibt.
Lefebvre, etwas über sechzig, mit einem unbeschwerten Lächeln und einem lockigen, grau-schwarzen Haarschopf, hat unter dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins gelernt. Anfangs befasste er sich mit der Körperpflege bei Tieren, einem angeborenen, «programmierten» Verhalten; jetzt versucht er, das komplexere Verhalten von Vögeln zu verstehen – wie sie denken, lernen und Neues...
Erscheint lt. Verlag | 19.5.2017 |
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Illustrationen | John Burgoyne |
Mitarbeit |
Assistent: Hubert Mania |
Übersetzer | Christel Dormagen |
Zusatzinfo | Mit 12 s/w Ill. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft | |
Technik | |
Schlagworte | heimische Vögel • Natur • Nature writing • Ornithologie • Reise • Störche • Storchennest • Tiere • Vögel • Vogelarten • Vogelkunde • Vogelwelt • Weißstorch • Wissenschaft • Zugvögel |
ISBN-10 | 3-644-00068-9 / 3644000689 |
ISBN-13 | 978-3-644-00068-1 / 9783644000681 |
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