Geteilte und verteilte Welten (eBook)
218 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8591-4 (ISBN)
Brinkmann, Malte, Dr. phil., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin.
‚Die Krise ist nicht für alle die gleiche‘.
Geteilte und verteilte Welten
Phries Künstler, Melanie Schmidt und Daniel Wrana
Am Beginn der nachfolgenden Überlegungen steht eine Annahme, die ebenso unmittelbar plausibel erscheint, wie sie im Weiteren zu befragen ist: Die Welt der Gegenwart ist in einer Weise und in einem Ausmaß von Krisen gezeichnet, durch die sich das, was in den letzten Dekaden als selbstverständlich und sicher erschien, grundlegend verändert. Finanzkrisen, Krisen parlamentarischer Demokratien, die (wohl treffender als Katastrophe zu bezeichnende) Klimakrise, die Corona-Krise, der Krieg in der Ukraine, etc. – Wir haben es offenbar mit einer allgemeinen Zuspitzung der Lage zu tun, mit einer Verschränkung multipler Krisen, wodurch bestehende Normalitätsvorstellungen grundsätzlich infrage gestellt werden (vgl. Brocchi 2022).
Der Rekurs auf Krise(n) ist für die Pädagogik allerdings nicht neu. Zum einen hat die erziehungswissenschaftliche Reflexion sich immer auch an Zeitdiagnosen, etwa einer reflexiven Modernisierung (z.B. Wittpoth 2001), einer neoliberalen Gouvernementalität (z.B. Pongratz 2013) oder einer spätkapitalistischen Formation (z.B. Bünger/Sanders/Schenk 2018) orientiert und für diese Diagnosen ist es ein gängiges Argumentationsmuster, auf Krisen und deren Bewältigung zu rekurrieren. Zum anderen wurde pädagogisches Wissen seit der Aufklärung oft als eine Antwort auf Krisen (der mangelnden menschlichen Moral, der zerbrechenden Sozialität, der selbstverschuldeten Unmündigkeit usw.) konzipiert und als Instrument zu deren Bewältigung entwickelt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich die Gegenwart mit ihren sich zuspitzenden Krisen mit derselben, fortgeschriebenen Denkweise von Krise und Bewältigung angemessen verstehen lässt. Oder noch weitergehender formuliert: Inwiefern eignet sich der Topos der „Krise“ überhaupt für eine Diagnostik der Gegenwart oder wäre es möglich oder sinnvoll, diesen Topos beiseitezulassen?
Im Folgenden möchten wir zunächst den Begriff ‚Krise‘ problematisieren und argumentieren, dass er so eng mit der Moderne und der Konstitution der Pädagogik verbunden ist, dass das etablierte Muster von Krisendiagnose und pädagogischer Krisenbewältigung angesichts der gegenwärtigen Lage seine analytische Kraft einbüßt (Abschnitt 1). Wir möchten dann den Potenzialen des Begriffs der ‚Welt(en)‘ nachgehen, den wir für eine weitergehende Reflexion für tragfähig halten. Insbesondere im Anschluss an feministische Epistemologien möchten wir verschiedene Dimensionen von Welt(en) erkunden, Themenfelder umreißen und zur Diskussion einladen. Mit Hannah Arendt wollen wir hierfür zunächst den Begriff ‚Welt‘ als einen von Pluralität geprägten zwischenmenschlichen und -dinglichen Raum aufrufen und anhand der Arendt-Lektüre Juliane Rebentischs zeigen, wie sich dieser Raum im Modus von Differenzierungen strukturiert (Abschnitt 2). Ausgehend vom Topos der Verletzlichkeit wollen wir daraufhin Judith Butler und weitere feministische Autor:innen zu Fragen von Teilhabe an und Verteilung von (un-)geteilter Welt zu Wort kommen lassen (Abschnitt 3). Ausgehend von den philosophischen Interventionen zum Anthropozän von Anna L. Tsing und Donna J. Haraway wird der klassische Begriff der ‚Welt‘ als beherrschbar gemachte Umwelt um den Menschen reflexiv und anhand der Motive der Sympoiesis und der Konnektivität reformuliert (Abschnitt 4). Abschließend zeigt sich, dass erziehungswissenschaftliche Grundlagenreflexion, wenn dieser Problemhorizont ernst genommen wird, die auf das Individuum zentrierte Rede von Selbst-, Welt- und Anderen-Verhältnissen kritisch befragen muss.
1.Krisen, Krisendiagnosen, Krisen von Krisen
Wer gegenwärtig die medialen Präsentationen des Weltgeschehens verfolgt, wird mit nicht endenden Krisendiagnosen konfrontiert. Auch wenn Krisen in modernen Gesellschaften allgegenwärtig sind, lassen sich mindestens drei Gründe anführen, warum sich die gegenwärtige Situation dennoch als Zuspitzung und Verdichtung darstellt:
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Bereits seit einiger Zeit wird (nicht nur) durch postmarxistische Autor:innen argumentiert, dass innerhalb der Gegenwart mehrere und immer mehr Krisen zeitgleich miteinander auftreten. Diese multiplen Krisen bzw. Vielfachkrisen stehen nicht nur nebeneinander, sondern potenzieren sich wechselseitig (vgl. Bader et al. 2011; Atzmüller et al. 2013; aber auch Leggewie/Welzer 2011).
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Dazu kommt, dass die gegenwärtigen Krisen tiefer und grundsätzlicher zu irritieren scheinen. So hat die Corona-Krise die Weise der Menschen, sozial und in Institutionen präsent zu sein, tiefgreifend unterbrochen (vgl. Krause et al. 2021; Andresen et al. 2022). Die russische Invasion in der Ukraine stellt die nach dem Kalten Krieg in Europa etablierte Ordnung grundlegender infrage als bisherige Krisen.
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Nicht zuletzt spricht für eine Zuspitzung, dass bestehende Krisen eskalieren. Dies gilt etwa für die Klimakrise angesichts der Prognose, dass fünf der klimarelevanten Tipping Points noch vor 2030 eintreten könnten (vgl. McKay et al. 2022), aber auch für die sich immer weiter zuspitzende „Krise sozialer Reproduktion“ (Winker 2015, S. 91 ff.).
Nun lässt sich gegen die These der Zuspitzung aber nicht nur einwenden, dass es Krisen immer schon gegeben habe, sondern auch, dass diese diskursiv inszeniert werden, wie es etwa Janet Roitmann in ihrem Buch ‚Anti-Crisis‘ (2013) darlegt. Die Inszenierung und Dramatisierung von Krisen folgt, so arbeitet Roitmann heraus, immer Machtverhältnissen und Interessen und lässt sich dahingehend dekonstruieren. Aber auch wenn dieser Einwand zutrifft, lässt sich aus der Beobachtung, dass und wie Krisen dramatisiert werden, nicht schließen, dass diese Krisen weniger dramatisch wären als ihre Inszenierung oder gar, dass es sie nicht gebe.
Jenseits der Frage, wie dramatisch die Lage zu einem Zeitpunkt nun sei, zeigt sich grundlagentheoretisch, dass Krise und menschliches Handeln in der Moderne nicht situativ, sondern systematisch aufeinander bezogen sind. Der Begriff der ‚Krise‘ formiert sich im Ausgang der frühen Neuzeit (vgl. Koselleck 1982). Die permanente Krise dient als eine diskursive Figur, mit der die Dynamisierung des Bestehenden und damit die Neu-Gestaltung und Transformation der Verhältnisse denkbar wird. Ohne Krisen – so der konzeptionelle Clou der Krisenfigur – ist ein In-Bewegung-Kommen aus dem Tradierten heraus gar nicht denkbar. Das liberale Fortschrittsdenken der Moderne kann als eine der Varianten dieser Figur, die marxistische Revolutionstheorie als eine weitere betrachtet werden und auch Bildungstheorien basieren auf der Vorstellung, dass das In-die-Krise-Kommen von Denk- und Handlungsmustern zu deren Transformation führt (z.B. Koller 2016). Es ist daher nicht erstaunlich, dass das erste Auftreten des Begriffs Krise im modernen Sinn in einem pädagogischen Werk auszumachen ist: in Rousseaus „Emile“ (vgl. Koselleck 1982, S. 628). Rousseau verknüpft mit dem von ihm pointierten Begriff der Krise interessanterweise den kriseninduzierten Handlungsdruck mit der Frage nach der Begründung pädagogischer Normativität: Im Kontext der Diskussion, auf welche Gesellschaft hin die Erziehung ausgerichtet sein solle, argumentiert Rousseau, dass die Pädagogik dies nicht feststellen müsse, denn da die Gesellschaft in der Krise sei, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse umgestürzt und neue Verhältnisse entstehen würden, entsteht künftige Normativität im Prozess der Krise quasi emergent aus der Öffnung der Situation selbst. Die Pädagogik ist ein Teil dieses...
Erscheint lt. Verlag | 18.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8591-8 / 3779985918 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8591-4 / 9783779985914 |
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