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Gesellschaftliche Ungleichheit und der politische Kampf um Bildung -  Kenneth Rösen

Gesellschaftliche Ungleichheit und der politische Kampf um Bildung (eBook)

Zur Rolle der Gewerkschaften im konservativen Bildungsstaat
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
245 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8508-2 (ISBN)
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Die Studie befasst sich in herrschafts- und hegemoniekritischer Absicht mit den Mechanismen, die Strukturen der Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungswesen aufrechterhalten. Dafür wird der Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft als hegemoniale Konstellation des konservativen Bildungsstaats gefasst. Daran schließt sich eine theoretische und diskursanalytische Einlassung auf die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft mit der Frage an, ob die Gewerkschaftsbewegung im konservativen Bildungsstaat einen politischen Gegenspieler zur bestehenden Hegemonie darstellt.

1Prolog


Die Feststellung, dass unsere Gesellschaft ungerecht ist und auf Ungerechtigkeiten zwischen einzelnen Menschen aufbaut, ist nicht neu. Auch die Feststellung, dass Ungerechtigkeiten im Bildungssystem verstärkt und reproduziert werden, ist nicht neu. Die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, die im Bildungssystem zementiert werden, sind offensichtlich und dennoch schwierig zu fassen. Denn das deutsche Bildungssystem unterliegt einem starken Wandel, der jedoch nichts Grundlegendes ändert. Zwar ist durch die Bildungsexpansion etwa der individuelle Zugang zu Bildung gestiegen – und damit formal Zugänge geöffnet wurden –, dennoch zeigen sich weiterhin grundlegendere Ungleichheiten, die dazu führen, dass weiterhin bestimmte Zugänge nur für manche Menschen bestehen. Dieses Paradox lässt sich gut daran festmachen, dass die Durchlässigkeit im Bildungssystem gestiegen ist, dass immer mehr Schüler*innen einen höheren Schulabschluss ablegen, aber gleichzeitig Zugänge zu bestimmten sozialen Positionen den meisten verwehrt bleiben. Wenn man so will, ist dieser Sachverhalt nur augenscheinlich ein Paradox. Denn bei genauerer Betrachtung kann festgestellt werden, dass die Ungleichheiten bestehen bleiben, sich die Selektionen innerhalb des Systems jedoch nur verschieben.

Mit dieser kurzen Beschreibung sind wir mitten in dem Gegenstand der vorliegenden Arbeit: die Forderung nach Chancengleichheit und Gerechtigkeit im Bildungssystem konstituiert ein Feld des politischen Kampfs zwischen Kräften, die ebenjene fordern, und Kräften, die entweder von den Ungerechtigkeiten nichts wissen wollen oder diese gar legitimieren.

In der modernen Gesellschaft gewinnt Bildung zunehmend an Bedeutung. In modernen, postindustriell-kapitalistischen Gesellschaften kann Bildung gar als Schlüsselressource der Gesellschaft und jeder*jedes Einzelnen bezeichnet werden. In Industrienationen wie der Bundesrepublik, die arm an natürlichen Ressourcen sind, wird Bildung zur zentralen Kategorie des sogenannten gesellschaftlichen Fortschritts und damit zur zentralen Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Bildung, so die Logik des gesellschaftlichen Fortschritts, „ist zur wichtigsten Grundlage für den materiellen Wohlstand moderner Gesellschaften geworden.“1 Bildung in der Form formaler Abschlüsse, angehäuften Wissens, formaler Kompetenzen und Informiertseins ist die Ressource der ‚Wissensgesellschaft‘.

Angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen, die mit einer stetigen Höherqualifizierung ihrer Bürger*innen einhergeht, ist Bildung die Ressource, die über Lebensverläufe und berufliche Karrieren entscheidet. Damit wird das Bildungssystem zur zentralen Stelle dieser Entscheidungen und zum zentralen Ort, an dem über Lebenschancen entschieden wird. Spätestens seit den 1970er Jahren lässt sich in der Bundesrepublik der Trend ausmachen, dass die formalen Bildungsabschlüsse kontinuierlich steigen; immer mehr Menschen erreichen die allgemeine Hochschulreife, immer mehr Menschen strömen an die Hochschulen. Gleichzeitig und parallel dazu steigen auch die formalen Voraussetzungen für den Zugang zu bestimmten Berufsfeldern. Hohe formale Bildungsabschlüsse sind die notwendige Voraussetzung, um „einträgliche und ansehnliche Stellungen zu erreichen“.2 Durch die besondere Bedeutung von Bildung in der modernen Gesellschaft kommt dem Bildungssystem eine entscheidende gesellschaftliche Funktion zu. Denn das Bildungssystem ist die gesellschaftliche Institution zur Verteilung von sozialen und beruflichen Zugängen und auch zur Verteilung von Lebenschancen.

Jedoch wird das Bildungssystem durch diese enorme Bedeutung zum Schauplatz gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Vor allem die Frage der Verteilung von Lebenschancen und Zugängen spielt eine zentrale Rolle – für die Gesellschaft und für jede*n Einzelnen. Die Devise, jede*r kann durch das Bildungssystem und durch Bildung den sozialen Aufstieg schaffen und zu den wenigen hohen Sozialpositionen gelangen, steht der Erkenntnis, dass soziale Ungleichheiten im Bildungswesen nicht nur nicht abgebaut, sondern verstärkt werden, diametral gegenüber. Aus dieser Divergenz zwischen Versprechen des Systems und der wissenschaftlichen Erkenntnis ergibt sich ein Feld des (politischen) Kampfes um Bildung. Es gibt gesellschaftspolitische Akteur*innen wie Parteien, NGOs und Gewerkschaften, die sich für Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit einsetzen – ihnen stehen Parteien, NGOs und Verbände gegenüber, die die Durchlässigkeit des Systems loben und die soziale Selektion im System befürworten.

In dieser Arbeit soll es darum gehen, diesen (politischen) Kampf um Bildung näher zu beleuchten. Dabei bildet die wissenschaftliche Erkenntnis, dass die soziale Herkunft in der Bundesrepublik maßgeblich über den Bildungserfolg entscheidet, den Ausgangspunkt. Diese Erkenntnis wird zugleich politisch kontextualisiert, um veranschaulichen zu können, dass es nicht an Erkenntnis, sondern an politischem Willen fehlt, etwas an der Ungleichheit und Bildungsungerechtigkeit zu ändern. Dabei ist die Perspektive dieser Arbeit – so viel sei an dieser Stelle zur Transparenz gesagt –, dass die Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungswesen ein, womöglich der, zentrale (bildungs-)politische Skandal ist. Die Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und der politischen Lethargie bzw. Ignoranz etwas ändern zu wollen, leitet das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit dahin, sich auf die Rolle der Gewerkschaften in diesem politischen Kampf zu fokussieren. Als gesamtgesellschaftliche, überparteiliche und politische Akteurinnen sind die Gewerkschaften in Deutschland durchaus in der Lage, gegenüber der Parteipolitik eine politische Gegenkraft zu bilden, die sich für Chancengleichheit und den Abbau der Ungerechtigkeiten im System einsetzt. Dass sich die Gewerkschaften für das Versprechen des Aufstiegs durch Bildung unabhängig der sozialen Herkunft einsetzen, reicht zunächst dafür aus, sie als Gegengewicht zur Realpolitik der Parteien zu beschreiben. Jedoch stellt sich zugleich die Frage, ob die Gewerkschaften ihrer eigentlichen Rolle nachkommen und es tatsächlich schaffen, sich klar gegen die Untätigkeit der Bildungspolitik zu stellen, die seit Jahrzehnten nichts an der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Bildung ändert.

1.1Ein Konflikt- und Kampffeld? Die Frage nach dem Verhältnis von sozialer Ungleichheit und Bildung


Nicht erst seit den Ergebnissen von PISA 2000 ist die wissenschaftliche Einsicht gegeben, dass Bildungserfolg hauptsächlich von der sozialen Herkunft abhängt.3 Ebenfalls seit Jahrzehnten ist das „Konfliktfeld“4 der sozialen Selektivität des Bildungssystems umrissen. Ralf Dahrendorf schreibt schon in den 1960er Jahren dazu:

„Wenn alle Eltern so lautstark und gewichtig darauf bestehen würden, dass ihre Kinder das Abitur machen, wie es Akademiker auch dann tun, wenn ihre Sprösslinge nur sehr mäßige Schulleistungen aufzuweisen haben, dann wäre der vorzeitige Abgang (aus weiterführenden Schulen) bei allen Gruppen so gering wie bei Kindern aus höheren Schichten.“5

Dahrendorf beschreibt präzise die Interessen und Anforderungen verschiedener sozialer Statusgruppen am Bildungssystem. Akademiker*innenfamilien nehmen Bildung als hohes Interesse wahr und setzen sich – unabhängig der eigentlichen Leistung der Kinder und Jugendlichen – für die höchste formale Bildung ein. Diese spezifische Interessenswahrnehmung von Eltern ist auch heutzutage noch virulent. Raymond Boudon hat diese familiären Einflüsse auf Bildungsentscheidungen der Kinder als „sekundäre Herkunftseffekte“6 bezeichnet. Das besondere Interesse an Bildung baut dabei auch darauf auf, dass Bildung die entscheidende Ressource in der Wissensgesellschaft ist. Damit wird Bildung zwangsläufig zu einer bzw. zu der sozialen Frage des 21. Jahrhunderts.7 Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Bildung samt ihrer paradoxen Doppelbewegung zwischen Bildungsexpansion und der Verschärfung sozialer Ungleichheit haben einige Autor*innen herausgestellt.8 Angesichts dieser Verschärfung sozialer Hürden zu höherer Bildung kann Bildung getrost als gesellschaftliches „Privileg“9 bezeichnet...

Erscheint lt. Verlag 18.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8508-X / 377998508X
ISBN-13 978-3-7799-8508-2 / 9783779985082
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