Waldorferziehung im ersten Lebensjahrsiebt (eBook)
84 Seiten
BoD - Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-2855-5 (ISBN)
Gerhard Hallen (72) arbeitete als Waldorflehrer für Regel- und Förderschulen wie auch in der Lehrer*innenausbildung.
Die Lebensprozesse
Man könnte das bisher Beschriebene als eine kindorientierte bzw. kindzentrierte Erziehung bezeichnen. Mit der Waldorfpädagogik ist aber mehr verknüpft. Wir werden uns im Folgenden drei Hauptthemen zuwenden, und das erste dieser Hauptthemen sind die Lebensprozesse.
In den ersten sieben Lebensjahren setzt sich das Kind mit dem, was es körperlich geerbt hat, intensiv auseinander. Die oft beeindruckende Ähnlichkeit des Säuglings mit den Eltern und anderen Ahnen, verweist auf die Erbkräfte, die das Kind von den Eltern erhalten hat. Die Eltern vererben u. a. den physischen Leib. Sie bilden aber auch eine Hülle, aus der das Kleine seine Lebenskräfte und sein Seelenleben aktivieren kann. So muss der physische Leib durch die Lebenskräfte vom Kind erst einmal individualisiert bzw. so durchgeformt werden, dass der Körper für die persönliche Entwicklung eine Grundlage bildet. Der Zahnwechsel im sechsten und siebten Lebensjahr ist eines der äußerlich wahrnehmbaren Symptome für diese Individualisierung. Kinderkrankheiten sind ggf. die Begleiterscheinungen dafür, dass etwas umgewandelt wird. Wer ein wenig genauer hinschaut, wie das Kind vor einer Erkrankung und danach in Erscheinung tritt, kann ggf. intime Veränderungen feststellen.
Die Individualisierung vollzieht sich über die Lebensprozesse. Sie halten den Körper des Kindes nicht nur ‚im Betrieb‘, sie fördern auch die Entwicklung und verlebendigen dasjenige, was im Kontakt mit der Außenwelt als Eindrücke aufgenommen wird. Am besten versteht man das, wenn die Lebensprozesse im Einzelnen vorgestellt werden:
Das Leben in Rhythmen
Die Gewohnheiten der Eltern prägen die Lebensrhythmen der Kinder. Deshalb pflegen wir die gemeinsamen Mahlzeiten, ebenso den regelmäßigen Rhythmus von Schlafen und Wachen oder den Wechsel von Entäußerung und der Aufnahme von Eindrücken. Gerade das Letztere ist heute kaum noch gebräuchlich. Viele Menschen überschütten ihre Umgebung fortlaufend und ungefragt mit Informationen. Unbewusst setzen sie darauf, dass sie ihr Gegenüber damit in ihrem Sinne beeinflussen können. Dazu gehört es, dass sie nicht abhorchen, ob ihre Äußerungen gewünscht oder gar erträglich sind. Die ständige Beschallung mit Medien steigert diese Tendenz zur Berieselung.
Als unsere Töchter noch klein waren, schalteten wir nicht nur den Fernseher, sondern auch das Radio ab. Bei Gesprächen überlegten wir erst einmal, was wir entäußern wollten. Also: Erst denken, dann reden – und nicht umgekehrt. – Wenn man das ernsthaft übt, staunt man, wie spontan und ideenreich Gespräche sein können. Die Kinder spielen dann gern in der Nähe von Erwachsenen, die sich in dieser Weise austauschen, und erfassen so manches, was sie vielleicht erst Jahre später über die Kognition reflektieren können, dann aber in einer ausgesprochen sinnstiftenden Weise, denn sie haben durch die Rhythmisierung der Erwachsenengespräche gelernt, wie man kommuniziert.
Durch den geregelten Schlafrhythmus der Kinder hatten wir abends um 19 Uhr Eltern-Feierabend. Die Kleinen waren es ja gewohnt, um diese Zeit im Bett zu liegen. Weil wir uns diesbezüglich keine Ausreißer leisteten, funktionierte es. So stand, da der Kindergarten damals schon um 12 Uhr endete, jeden Mittag das Mittagessen auf dem Tisch. Auch gab es jeden Morgen um sechs Uhr das Frühstück. Das war anstrengend, da wir beide einem Beruf nachgingen und die dort herrschenden Rhythmen mit einarbeiten mussten. Doch gelang es jeden Tag aufs Neue.
Wenn sich die Kinder in einen verlässlichen Rhythmus eingelebt haben, können sie in der Schule den Wechsel zwischen dem Ergreifen von Eindrücken und deren innerer Verarbeitung wie von selbst vollziehen. Sie können ihre Aufmerksamkeit richten und aus innerem Antrieb all das Ergreifen, was ihnen im Unterricht angeboten wird.
Das durchwärmte Leben
Mit dem Begriff der Waldorfpädagogik wird landläufig das Kind in zart rosa bzw. tristen Wollkleidern und mit einer graugelben Leibwäsche aus dem hochgelobten Woll-Seide-Gemisch verbunden. Da die Kinder keine Antibiotika bekommen, trieft fortlaufend die Nase und der Ausdruck der Augen ist ebenso besorgt und weltpessimistisch wie die Haltung der Eltern gegenüber der Zivilisation. Soweit die Vorurteile.
Tatsächlich strickte meine liebe Frau für unsere Töchter Socken und Pullover, in denen die Kleinen einfach niedlich aussahen. Dabei war es wichtig, dass die Kinder warm angezogen waren. Das testeten wir an der Temperatur der Finger, der Nasenspitze, der Ohren und der Stirn. Dazu gab es immer einen Spruch, wie diesen: Fühl ich kalte Finger,
wärm mit Handschuhn‘ diese Dinger.
Frieren deine Ohren,
hast die Mütze du verloren.
Sind erstarrt die Nasenspitzen,
lass den Schal nur darauf sitzen.
Ist die Stirn dann auch noch Kalt,
zieh die Mütze tiefer halt.
Nur die Augen sind noch frei.
Bald schon gibt es Hirsebrei…
Die Aussicht auf ein wohlig warmes Essen war immer ein Hochgenuss im Vorgriff. Deshalb wurde hin und wieder ein Essenshinweis in den Spruch eingefügt.
Was Kinder nicht vertragen, ist ein nörgelndes und pedantisches Nachhalten von Kleiderordnungen. Das staut den Willen und engt die Freude an der Bewegung ein. So haben wir beim Ankleiden ebenfalls diverse Sprüche eingesetzt – so auch beim Anlegen eines Schneeanzugs:
Wollen erst die Beine schlüpfen,
musst du in die Röhren hüpfen.
Ziehst das Ganze du dann hoch,
findest du das Ärmelloch.
Erst das rechte, dann das linke.
Hand ist da! Mach winke, winke!
Und zum allerletzten Schluss,
zieh noch hoch den Reißverschluss.
Hätten wir stattdessen die Gebrauchsanweisung des Herstellers vorgelesen, wären die Kinder in ihren Anzügen vor Kälte erstarrt oder vor Widerwillen verglüht. So aber haben unsere Töchter schon auf den Spruch gewartet und beim Ankleiden einen Riesenspaß gehabt. Dass diese Sprüche ab dem neunten Lebensjahr verdreht und parodiert werden, ist Bestandteil einer gesunden seelischen Entwicklung.
Mit dem warmen Essen, der warmen Kleidung und warmer Bettwäsche stand stets die warme mentale Begleitung in Verbindung, denn unser herzliches Interesse an einer guten Durchwärmung sicherte erst die Wirkung der Maßnahmen. Dazu gehörte auch die Freude. Kinder sind von Haus aus weltoffen und neugierig. Damit setzen sie die Aufgeschlossenheit der Erwachsenen voraus. Verbindet sich diese mit Freude, ist alles in körperliche wie auch seelische Wärme getaucht. Dazu ein Beispiel: Ich habe schon als Jugendlicher eine Weihnachtsbaumallergie entwickelt. Ich rechnete jedem, auch denjenigen, die es nicht wissen wollten, vor, dass in Deutschland, eine Fläche von 50 mal 10 Kilometern (500 Quadratkilometer) für die Aufzucht von Weihnachtsbäumen blockiert wird. Weil mir dieser Flächenverbrauch nicht einsichtig erschien, erbat ich bei meiner Frau einen Weihnachtsbaumkonsumverzicht. Den ließ sie aber nur so lange zu, wie unsere Kinder nicht nach einem Weihnachtsbaum verlangten. Als unsere Kleinen bei den Nachbarn einen Weihnachtsbaum sahen, war es dann soweit. Sie wünschten sich einen Baum. Also zog ich zähneknirschend los und beschaffte die obligate Tanne – wie ich insgeheim ausrechnete, zu neun Quadratmeter Flächenverbrauch auf sieben Jahre. Als ich das gute Stück durchs Treppenhaus zu unserer Wohnung ins erste Obergeschoss hinaufschleifte und dabei vor mich hin grummelte, öffnete unsere knapp dreijährige Christina unvermittelt die Wohnungstür und rief:
„Danke, Papa, dass du den Baum geholt hast!“
Mir wurde es warm ums Herz, und ich konnte mich nun auch über den schönen Baum freuen. Als die Kinder dann groß waren, wurde der Weihnachtsbaumkonsumverzicht erneut eingeführt. Unsere Enkel haben ja zuhause einen Baum…
Die seelische und körperliche Wärme dient später beim Lernen in der Schule als Grundlage für die Entfaltung eines nachhaltigen Interesses an den Lerninhalten. Das Kind lebt in einer positiven inneren Erwartung, denn es ist gespannt darauf, wie sich in der Folge der Umgang mit dem Lerninhalt ‚anfühlen‘ wird.
Wir ernähren uns
Eine gesunde Ernährung ist sehr wichtig, aber kein Selbstzweck oder gar ein ideologisch überhöhtes Gut. Kinder mögen Sätze wie „Das ist gut für dich!“ oder „Das ist gesund!“ gar nicht. Auch vertragen sie nicht unbedingt hauchzart angedünstetes Gemüse (al dente) oder naturtrübe Säfte, in denen die Gärung schon eingesetzt hat. Hält man dagegen seine Kinder in den ersten sieben Lebensjahren von übersüßten Speisen, Frittiertem und durch Geschmacksverstärker Aromatisiertem fern, schult man ihren Sinn für dasjenige, was sie vertragen. Das wollen sie auch – selbst wenn Babynahrungskonzerne und Süßwarenhersteller anderer Meinung sind.
Ebenso können bestimmte Gesprächsthemen beim Essen zu einer Verweigerung...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Vorschulpädagogik |
Schlagworte | anregend • humorvoll • informativ • Unterhaltsam • Verständlich |
ISBN-10 | 3-7597-2855-3 / 3759728553 |
ISBN-13 | 978-3-7597-2855-5 / 9783759728555 |
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