Doppelgänger - Eine Analyse unserer gestörten Gegenwart (eBook)
496 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-492076-4 (ISBN)
Naomi Klein, eine der profiliertesten Intellektuellen unserer Zeit, ist die Autorin des internationalen Bestsellers ?No Logo!?. Ihr Manifest gegen einen zügellosen Kapitalismus und die scheinbare Allmacht globaler Marken wurde innerhalb kürzester Zeit in 28 Sprachen übersetzt und von der »New York Times« die »Bibel einer Bewegung« genannt. Ihr Buch ?Die Schock-Strategie? wurde in über 30 Ländern der Welt als eines der wichtigsten Bücher des Jahrzehnts gefeiert. Naomi Klein war u. a. Miliband Fellow an der London School of Economics und hält einen Ehrendoktortitel für Zivilrecht des University of King's College in Neuschottland. Sie schreibt und berichtet regelmäßig für große Sender und Zeitungen wie CNN, BBC, »The Los Angeles Times«, »The Washington Post«, RAI, CBC und andere. Naomi Klein lebt in Kanada.
Naomi Klein, eine der profiliertesten Intellektuellen unserer Zeit, ist die Autorin des internationalen Bestsellers ›No Logo!‹. Ihr Manifest gegen einen zügellosen Kapitalismus und die scheinbare Allmacht globaler Marken wurde innerhalb kürzester Zeit in 28 Sprachen übersetzt und von der »New York Times« die »Bibel einer Bewegung« genannt. Ihr Buch ›Die Schock-Strategie‹ wurde in über 30 Ländern der Welt als eines der wichtigsten Bücher des Jahrzehnts gefeiert. Naomi Klein war u. a. Miliband Fellow an der London School of Economics und hält einen Ehrendoktortitel für Zivilrecht des University of King's College in Neuschottland. Sie schreibt und berichtet regelmäßig für große Sender und Zeitungen wie CNN, BBC, »The Los Angeles Times«, »The Washington Post«, RAI, CBC und andere. Naomi Klein lebt in Kanada. Rita Seuß lebt in Berlin und hat u.a. Roberto Saviano und Andrea Camilleri übersetzt.
Einleitung Off-brand me
Zu meiner Verteidigung: Es war nie meine Absicht, dieses Buch zu schreiben. Ich hatte eigentlich gar keine Zeit dafür. Niemand hat mich darum gebeten. Einige haben mich sogar eindringlich davor gewarnt: nicht jetzt – nicht angesichts der Brände im wörtlichen und im übertragenen Sinn, die unseren Planeten heimsuchen. Und schon gar nicht zu diesem Thema.
Die Andere Naomi – so nenne ich sie jetzt. Diese Person, mit der ich seit mehr als zehn Jahren permanent verwechselt werde. Meine Doppelgängerin mit der Löwenmähne. Eine Person, die offenbar viele nicht von mir zu unterscheiden vermögen. Eine Person, die so viele extreme Dinge tut, dass Fremde sich dazu veranlasst sehen, mich harsch zu tadeln, mir zu danken oder mir ihr Bedauern auszusprechen.
Schon die Tatsache, dass ich ihr einen kodierten Namen gegeben habe, zeigt die Absurdität meiner Situation. Seit fünfundzwanzig Jahren schreibe ich über die Macht der Konzerne und über die Verheerungen, die sie anrichten. In weit entfernten Ländern besuche ich Fabriken, um ausbeuterische Arbeitsbedingungen zu untersuchen, und überquere heimlich die Grenzen militärisch besetzter Staaten. Ich berichte über die Folgen von Ölkatastrophen und Hurrikans der Kategorie 5. Ich schreibe Bücher mit großen Ideen über ernste Themen. Doch in den Monaten und Jahren, in denen dieses Buch entstanden ist – einer Zeit, als den Friedhöfen der Platz ausging und Milliardäre sich ins All schossen –, erschien mir alles andere, was ich zu schreiben hatte oder hätte schreiben können, als Belästigung und rüde Störung. Ob ich an Veranstaltungen im Vorfeld eines wichtigen UN-Klimagipfels teilnehmen würde? Nein, tut mir leid, ich habe zu viele andere Verpflichtungen. Ob ich einen Kommentar zum amerikanischen Rückzug aus Afghanistan schreiben würde? Zum zwanzigsten Jahrestag von 9/11? Zum russischen Überfall auf die Ukraine? Nein, nein und nochmals nein.
Im Juni 2021, als mir die Kontrolle über dieses Projekt wirklich zu entgleiten drohte, entstand über der Südküste der kanadischen Provinz British Columbia, wo ich heute mit meiner Familie lebe, ein seltsames neues Wetterphänomen, eine sogenannte Hitzeglocke. Die schwüle Luft fühlte sich an wie ein zähnefletschendes Ungeheuer, das bösartige Absichten verfolgte. Mehr als sechshundert zumeist ältere Menschen starben; geschätzte zehn Milliarden Meerestiere wurden an unseren Küsten lebendig gekocht; eine ganze Stadt ging in Flammen auf.[1] Die abgelegene, dünn besiedelte Gegend sorgt nur selten für internationale Schlagzeilen, aber die Hitzeglocke machte uns kurzzeitig berühmt. Ein Redakteur fragte mich, ob ich, seit fünfzehn Jahren eine Kämpferin gegen den Klimawandel, einen Bericht darüber schreiben würde, wie ich dieses beispiellose Klimaereignis erlebt habe.
»Ich arbeite an etwas anderem«, erwiderte ich, und der Geruch des Todes stieg mir in die Nase.
»Darf ich fragen, woran?«
»Dürfen Sie nicht.«
Es gab jede Menge anderer wichtiger Dinge, die ich in dieser Zeit der fieberhaften Ausflüchte vernachlässigt habe. In jenem Sommer erlaubte ich meinem Neunjährigen, so viele Stunden mit der blutrünstigen Naturdoku-Serie Animal Fight Club zuzubringen, dass er schließlich anfing, mich an meinem Schreibtisch zu rammen »wie ein großer weißer Hai«. Ich habe viel zu wenig Zeit mit meinen achtzigjährigen Eltern verbracht, die nur eine halbe Autostunde entfernt wohnen – trotz ihrer statistisch hohen Infektionsanfälligkeit in der weltweit wütenden, tödlichen Pandemie und trotz der lebensbedrohlichen Hitzeglocke. Im Herbst kandidierte mein Mann bei den kanadischen Parlamentswahlen. Ich habe zwar einige Wahlkampfreisen absolviert, aber ich weiß, ich hätte mehr tun können.
All das habe ich vernachlässigt, um … ja, warum eigentlich? Um den wiederholt gesperrten Twitter-Account der Anderen Naomi zu checken? Ihre Auftritte in Steve Bannons Livestreams zu studieren und Einblicke in die elektrische Chemie dieser beiden zu gewinnen? Um eine weitere Warnung von ihr zu lesen oder zu hören, grundlegende Gesundheitsmaßnahmen seien in Wahrheit ein geheimes Komplott, inszeniert von der Kommunistischen Partei Chinas, von Bill Gates, Anthony Fauci und dem Weltwirtschaftsforum, um ein Massensterben von so gewaltigen Dimensionen auszulösen, dass es nur das Werk des Teufels sein konnte?
Am meisten schäme ich mich für die zahllosen Podcasts, die ich mir reinzog, für die Unmenge verlorener Stunden, die ich nie wieder zurückbekomme. Stunden, in denen ich einen Masterabschluss hätte machen können. Ich redete mir ein, das sei »Recherche«. Um sie und ihre Mitstreiter zu verstehen, die jetzt einen offenen Krieg gegen die objektive Realität führen, müsse ich in das Archiv erfolgreicher und zugleich faktenresistenter Sendungen wie QAnon Anonymous und Conspirituality eintauchen, die im wöchentlichen oder vierzehntägigen Rhythmus die vielfach vermischten Welten der Verschwörungstheoretiker, Wellness-Geschäftemacher und Covid-Leugner, der Anti-Impf-Hysterie und des zunehmenden Faschismus entpacken und dekonstruieren. Und das alles zusätzlich zum täglichen Output von Steve Bannon und Tucker Carlson, in deren Sendungen die Andere Naomi inzwischen regelmäßig zu Gast war.
Die Beschäftigung mit diesen Dingen verschlang fast jede freie Minute meines Lebens: ob ich Wäsche zusammenlegte, den Geschirrspüler ausräumte, mit dem Hund rausging oder das Kind von der Schule abholte. In einem anderen Leben waren dies Momente, in denen ich Musik oder Nachrichten hörte oder Leute anrief, die ich mag. »Ich fühle mich den Moderatoren von Conspirituality näher als dir«, schluchzte ich eines Abends in die Voicemail meiner besten Freundin.
Ich sagte mir, dass ich keine andere Wahl hätte. Dass dies in Wahrheit keine sagenhaft leichtfertige und narzisstische Verschwendung meiner knapp bemessenen Zeit zum Schreiben und der ebenso knapp bemessenen Zeit auf der Uhr unseres immer wärmer werdenden Planeten sei. Ich begründete es damit, dass die Andere Naomi, die hocheffizient Falsch- und Desinformationen über viele unserer akuten Krisen in die Welt setzte und zusammen mit anderen die Leute animierte, auf die Straße zu gehen, um gegen eine fast komplett halluzinierte »Tyrannei« zu rebellieren – dass diese Andere Naomi am Schnittpunkt von Kräften agierte, die zutiefst lächerlich, trotzdem aber nicht zu unterschätzen waren. Denn sie stifteten so viel Verwirrung und absorbierten so viel Sauerstoff, dass so gut wie alles Hilfreiche und Heilsame vereitelt wurde, was Menschen in einer solchen Situation bewirken können, wenn sie sich zusammentun.
Beispielsweise indem wir diese Raumfahrtmilliardäre auf den Boden zurückholen und ihren unrechtmäßig erworbenen Reichtum zur Finanzierung des Wohnungsbaus und der Gesundheitsfürsorge und zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen nutzen, bevor die Zukunft eine einzige, alles überwölbende Hitzeglocke ist. Oder, bescheidener, indem wir gewährleisten, dass man ein Kind, das sich selbst als großen weißen Hai sieht, in die Grundschule schicken kann, ohne befürchten zu müssen, dass es mit einem hochansteckenden und potenziell tödlichen Virus nach Hause kommt: einem Virus, das es sich von einem Mitschüler eingefangen hat, dessen Eltern Impfstoffe als Teil eines Komplotts zum Genozid und zur Versklavung der Menschheit betrachten, weil eine Frau namens Naomi sie im Internet davon überzeugt hat.
Ich kann sagen, dass es eine zutiefst verstörende Erfahrung ist, eine Doppelgängerin zu haben. Es ist ein Gefühl des Unheimlichen, das Sigmund Freud als »jene Art des Schreckhaften« beschreibt, »welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht«, aber plötzlich fremd ist.[2] Der Doppelgänger wirkt deshalb so unheimlich, weil man sich selbst unvertraut wird. Das Doppelgängertum, schrieb Freud, kann »zur Identifizierung mit einer anderen Person führen, so dass man an seinem Ich irre wird«.[3] Er hatte nicht in allem recht, in diesem Punkt aber schon.
Und in meinem Fall kommt noch etwas hinzu: Meine Doppelgängerin hat eine so dramatische politische und persönliche Wandlung vollzogen, dass viele meinten, sie sei zu einer Doppelgängerin ihres früheren Ichs geworden. Was mich in gewisser Weise zur Doppelgängerin einer Doppelgängerin macht – eine Spielart des Unheimlichen, die selbst Freud nicht vorausgesehen hat.
Ich bin gewiss nicht die Einzige, die sich mit dem Gefühl herumschlägt, dass die Realität sich irgendwie verformt. Fast jeder, mit dem ich spreche, erzählt mir von Menschen, die wie Alice auf ihrem Weg ins Wunderland »im Kaninchenloch« verschwunden sind – Eltern, Geschwister, beste Freunde, aber auch Intellektuelle und Kommentatoren, auf die man sich einmal verlassen konnte. Menschen, die einst vertraut, jetzt aber nicht mehr wiederzuerkennen waren. Die sich verändert hatten. Mich beschlich zunehmend das Gefühl, als seien die Kräfte, die meine Welt destabilisierten, Teil eines weitgespannten Netzwerks von Kräften, die unsere ganze Welt destabilisieren – und als könnte das Verständnis dieser Kräfte ein Schlüssel sein, um festeren Boden unter die Füße zu bekommen.
Seit mehr als zwanzig Jahren, seit diese Flugzeuge in die Glas- und Stahltürme des World Trade Center flogen, beschäftige ich mich damit, wie große Schockereignisse unsere kollektiven Synapsen durcheinanderbringen, zu einer Massenregression führen und Menschen zur leichten Beute für Demagogen machen. In den Jahren,...
Erscheint lt. Verlag | 25.9.2024 |
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Übersetzer | Peter Robert, Rita Seuß |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Antisemitismus • Autismus • Covid • Faschismus • Feminismus • Globalisierungs Kritikerin • Impfgegner • Indigene • Juden • Kapitalismuskritik • Klimakatastrophe • Künstliche Intelligenz • Make America Great Again • Marken • Naomi Wolf • Nazi • Pandemie • Rassismus • Soziale Medien • Spiegel Bestseller Autorin • Steve Bannon • Trump • Twitter • Verschwörungstheorien |
ISBN-10 | 3-10-492076-1 / 3104920761 |
ISBN-13 | 978-3-10-492076-4 / 9783104920764 |
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