Und es geschieht jetzt (eBook)
224 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12363-0 (ISBN)
Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Neben einem Essayband zur israelischen Literatur und einer Tel Aviv-Hommage erschienen in der Anderen Bibliothek seine Bücher Schlafende Hunde und Die Nacht von San Salvador sowie 2019 der Essayband Dissidentisches Denken. Mit Das Haus in Habana. Ein Rapport stand er auf der Shortlist des Essayistikpreises der Leipziger Buchmesse. Bei Tropen erschienen: Die verdrängte Zeit (2020) und Die letzten Tage von Hongkong (2021).
Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Neben einem Essayband zur israelischen Literatur und einer Tel Aviv-Hommage erschienen in der Anderen Bibliothek seine Bücher Schlafende Hunde und Die Nacht von San Salvador sowie 2019 der Essayband Dissidentisches Denken. Mit Das Haus in Habana. Ein Rapport stand er auf der Shortlist des Essayistikpreises der Leipziger Buchmesse. Bei Tropen erschienen: Die verdrängte Zeit (2020) und Die letzten Tage von Hongkong (2021).
Aus den winzigen Runzeln wurden plötzlich Lachfältchen. Die 70-Jährige, so meine Schätzung, deren Name Ruth war, hatte auf der Strandpromenade von Tel Aviv leise zu summen begonnen.
»Kennst du die Melodie?«
»Irgendwo schon mal gehört, aber …«
»Aber das war in einem anderen Land, wie Hemingway sagen würde?«
Ruths Heiterkeit angesichts meines Zögerns, das Klirren der schmalen Silberarmbänder an ihren Handgelenken, die gebräunt sind wie ihre Arme, wie das Gesicht. Dann summt sie weiter. Wiegt sich leicht in den Jeans-Hüften, aber nicht übertrieben – da sind andere hier auf der abendlichen Promenade ganz anders drauf, jetzt. (Und jetzt ist ein Abend im Jahr 2014. Oder auch ’15, ’16. Seit dem Erstbesuch von 1991 gehen die Sommer ineinander über, und was sie konturiert, sind Gesichter und Geschichten. Oder Kriege und Attentate. Nein: Und Kriege und Attentate.)
Die Strähnen des aschblonden, von gefädelten Perlen durchzogenen Haars hinter die Ohren gestreift, beginnt Ruth nun die ersten Zeilen zu singen, beiläufig und leise: On a morning from a Bogart movie / In a country where they turn back time / You go strolling through the crowd like Peter Lorre / Contemplating a crime …
»Na?«
»Klingt irgendwie nach Cat Stevens …«
»Beinahe!« Ruths blaue Augen leuchten, dann wiegt sie verständnisvoll den Kopf. »War zumindest die gleiche Zeit. Die Gitarren, die Melancholie, die leicht enigmatischen Storys.« Als sie merkt, dass mir Interpret und Songtitel dennoch nicht einfallen wollen: »Al Stewart. Year of the Cat. 1976. Da musst du ja noch ein Kind gewesen sein …«
Ein Kind im Osten, das mit seinen Eltern Westradio hörte, Bayern 3 und RIAS Berlin, jedenfalls keine DDR-Sender. Was ich freilich Ruth nicht erzähle an diesem Abend, nun eventuell bereits ein Jahrzehnt älter, als sie damals war, in the Year of the Cat. (Spürt sie, dass ich schon auf dem Absprung bin, auf dem Weg zu Verabredungen, mit der gleichen, gleichsam ewig-juvenilen Schmetterlings-Erwartung in Bauch und Hirn, wie sie auch spürbar ist bei fast allen Promenierenden hier, Jüngeren und Älteren, zwischen dem breiten Sandstrand und der Reihung der Hotels, deren Logos unterm samtblauen Nachthimmel aufzublitzen beginnen?)
»Ich war damals in einem Alter, in dem man plötzlich glaubt, nicht mehr so ganz jung zu sein – und es doch trotzdem noch ist. Zum Glück gab’s Al Stewart und Cat Stevens und Roxy Music. Und hier vor der Küste, in Sichtweite, aber schon offshore, das Friedensschiff von Abie Nathan, dessen Piratensender genau diese Songs spielte. An ruhigen Sommerabenden war sogar der Lautsprecher an, und so sind wir der Musik einfach entgegengeschwommen. Love is the Drug, Bryan Ferrys einschmeichelnde Stimme wies uns den Weg, und an Bord stand dann dieser unglaublich attraktive Abie Nathan. Einst Freiwilliger im Unabhängigkeitskrieg von 1948 und dann 1966, stell dir vor, mit seinem eigenen Flieger nach Ägypten gedüst, unter dem Radar unserer und auch der dortigen Militärs. Wollte Präsident Nasser eine Friedensbotschaft überbringen, höchstpersönlich. Um ihn zu überzeugen, dass er nicht dauernd mit heiserer Radio- und Stadion-Stimme brüllen sollte, alle Juden gehörten ins Meer getrieben.«
Ruth hielt kurz inne, den Kopf seitlich geneigt, ihr freundliches Lächeln ein einziges »Siehst du?«, hochherzige Einladung zum Sich-überraschen-Lassen. (Unzählige Momente und Begegnungen seit 1991, bei denen in gleicher Mimik und Gestik – und nie auftrumpfend – von Geschehnissen berichtet worden war, die in der gängigen Nahost-Berichterstattung ebenfalls unter dem Radar geblieben waren.)
»Nu… Die Mission war dann zwar gescheitert, Nasser hatte natürlich keinerlei Interesse daran, irgendeinen meschuggenen jüdischen Peacenik zu empfangen, aber seitdem hatte sich zumindest Abies Leben geändert. Ab da nicht nur Womanizer, sondern auch Aktivist. Unermüdlicher Spendensammler für Hungernde und Vertriebene in Afrika, für Erdbebenopfer und krebskranke Kinder. Und natürlich ab 1967 gegen die israelische Besatzung, deshalb auch die Idee mit dem Peace Ship und seinem Sender, The Voice of Peace. Sogar John Lennon hatte für den Kauf des Schiffs Geld dazugegeben, und so gab es dann seit 1973 hier vor der Küste, verlesen von Abies sonorer Stimme, all diese Aufrufe für Aussöhnung und Frieden zwischen Palästinensern und Israelis. Und natürlich, um die Hörer zu kriegen, die Musik. Die ganzen internationalen Hits, die damals im langweiligen Staatsradio kaum gespielt wurden. Und so kraulten wir dann eben an Sommerabenden Abie Nathans Schiff entgegen, der Himmel rot, aber zumindest in diesem Moment nicht blutrot, und wir lachten und prusteten und fühlten unsere Körper und hatten Freude. Und wenn ich heute Al Stewart höre, dort in unserem kleinen Bungalow-Häuschen in einem Kibbuz nahe Haifa, da fühle ich, obwohl die Kinder längst aus dem Haus sind und wir auch schon Großeltern, noch immer den alten Schwung. She comes out of the sun in a silk dress running / like a watercolor in the rain …«
Dann hatte Ruth plötzlich ein resolutes Tow, gut, gesagt und hinter ihrem schmalen Verkaufstischchen auf dem weißen Tischtuch all den Schmuck geordnet, glasierte Broschen in Schmetterlingsform, bunte Anstecker und Perlenketten, die sie im Kibbuz gefertigt und nun hier in Tel Aviv verkaufen wollte. Zusammen mit ihrem Mann Kobi stand sie hinter dem Tisch, und als der kompakte Graubart plötzlich fragte (so wie er dies vermutlich seit Jahrzehnten tat, in liebevoller Spöttelei), ob sie damals tatsächlich schwimmend all die Kilometer zurückgelegt hatte, um an Deck von Abies Schiff zu gelangen, da lachte Ruth hell auf und trommelte mit ihren filigranen Fingern aufs Tischtuch: Year of the Cat.
»Ein Kibbuz nahe Haifa«, hatte Ruth damals gesagt. Also im Norden, nicht im Süden. In Reichweite der Hisbollah-Raketen von der nahegelegenen libanesischen Grenze, wo sich eine andere, noch zahlenstärkere und dank iranischer Logistik noch massiver bewaffnete Formation ebenfalls die Vernichtung Israels auf die Fahne geschrieben hat. Das heißt in einer potenziellen, aber eben nicht in der realen Todeszone vom 7. Oktober. Und doch: Die Bilder der Ermordeten und der Geiseln zeigen Gesichter, die denen von Ruth und Kobi ähneln. Gute, offene Gesichter, Kibbuznik-Physiognomien.
Jetzt, im Frühjahr 2024, befinden sich noch immer über 130 der Überlebenden in den Händen der Hamas, und die Freunde in Tel Aviv demonstrieren weiter, damit die Regierung noch größere Anstrengungen unternimmt, sie freizubekommen – unter Bombardements, die ganz offensichtlich nicht ausreichend präzise sind. Zivilisten, für die es jedoch keinen Platz gibt in den kilometerlangen Tunnelsystemen der Hamas – als menschliche Schutzschilde der israelischen Armee quasi entgegengeschoben und im diabolischen Kalkül, deren Tod käme schließlich ebenfalls dem Nimbus der Terrororganisation zugute.
Und die Teenager, die 20- und 30-Jährigen vom Supernova-Festival, die noch auf dem Gelände selbst erschossen und erstochen worden waren, die Frauen vor ihrer Ermordung vergewaltigt? Junge Leute wie sie waren damals auf der Strandpromenade von Tel Aviv unterwegs gewesen, als Ruth mir davon erzählt hatte, wie sie 1976 ihrer Jugend hinterhergeschwommen war – erfolgreich, da sie doch nun sogar im Alter Freude und Neugier begleiteten und die Liebe zu ihrem Kobi. Von Menschen wie ihnen erzählen. (Und den letzten Satz, jenen über das unvorstellbar grauenhafte Ende der vielen anderen, nicht hinzufügen. Ihn trotzdem immer denken, in diesem Versuch, im Sprechen mit den Lebenden einen Erinnerungsraum zu schaffen – wie unzulänglich auch immer dies sei.)
Und Abie Nathan? Seit ein paar Jahren erinnert sich die Stadt auf ganz besondere Weise an den 2008 verstorbenen Friedensaktivisten, dessen Offshore-Radiostation »Voice of Peace« bis hinein ins Jahr 1993 gesendet hatte, als man in Israel gehofft hatte, dass mit dem Oslo-Abkommen nun endlich auch realer Frieden käme. Seither, mehrere Kriege und unzählige Attentate später, nach enttäuschten Hoffnungen und dem Lauf der Jahre, in denen aus Babys und Kleinkindern Jugendliche und junge Erwachsene geworden waren, ehemals Jüngere – falls sie denn dieses ambivalente Glück hatten – alterten und Ältere gänzlich alt wurden oder auf sogenannte natürliche Weise starben, nun dies, als ein einziges Trotz-Alledem: Ein winziger Metallic-Knopf an der kleinen, in Beton eingefassten Felsenmauer unterhalb des Sheraton-Hotels. Wer den Knopf drückt – und das tun stets überraschend viele, aus Neugier, Nostalgie oder zum Energietanken –, hört zuerst Meeresrauschen, dann Abie Nathans sonore Stimme: From somewhere in the Mediterranean – The Voice of Peace. Ici, dans la Méditerranée – La Voix de Paix. Love, peace and good music …
Nicht selten bilden sich dann kleine Grüppchen, und es wird, was immer geschieht, wenn mehr als ein Israeli unterwegs ist: diskutiert. Eis schleckende Flaneure, Soldatinnen – manche ostentativ Hand in Hand – mit hoch ins Haar gesteckten Sonnenbrillen, Familien und verschwitzte Jogger mit Pulsmessgeräten am Bizeps; jeder und jede von ihnen hat (mindestens) eine Meinung; man fällt einander ins Wort, und wenn des Hebräischen unkundige Juden aus der Diaspora oder andere...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2024 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 7.Oktober 23 • Antisemitismus • Berlin • Fundamentalismus • Gaza • HAMAS • Israel • Israel Konflikt • Judentum • Jüdisch • Jüdische Kultur • jüdischer Alltag • Jüdisches Leben • Krieg in Gaza • Meron Mendel • MICHEL FRIEDMAN • Naher Osten • Nahostkonflikt • Palestina • Tel Aviv • Terror |
ISBN-10 | 3-608-12363-6 / 3608123636 |
ISBN-13 | 978-3-608-12363-0 / 9783608123630 |
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