Die Rückkehr des Terrors (eBook)
176 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02269-0 (ISBN)
Peter R. Neumann, geboren 1974 in Würzburg, ist Professor für Sicherheitsstudien am King's College London und leitete dort lange das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR). Als international gefragter Experte war Neumann 2017 Sonderbeauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und berät die Europäische Kommission zum Thema Extremismus. Daneben schreibt er u.a. für den «Spiegel» und die «New York Times». Nach seinem viel gelobten Buch «Die neue Weltunordnung» erschien von ihm zuletzt «Logik der Angst. Die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln» und «Die Rückkehr des Terrors. Wie uns der Dschihadismus herausfordert».
Peter R. Neumann, geboren 1974 in Würzburg, ist Professor für Sicherheitsstudien am King's College London und leitete dort lange das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR). Als international gefragter Experte war Neumann 2017 Sonderbeauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und berät die Europäische Kommission zum Thema Extremismus. Daneben schreibt er u.a. für den «Spiegel» und die «New York Times». Nach seinem viel gelobten Buch «Die neue Weltunordnung» erschien von ihm zuletzt «Logik der Angst. Die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln» und «Die Rückkehr des Terrors. Wie uns der Dschihadismus herausfordert».
Teil I Dschihadistische Wellen
1. Vom nahen zum fernen Feind
Die Idee, dass Terrorismus in Zyklen verläuft, ist nicht neu. Bereits vor über zwanzig Jahren veröffentlichte der amerikanische Historiker David C. Rapoport einen Artikel über «die vier Wellen» des modernen Terrorismus. Darin vertritt er die These, dass man die Geschichte des modernen Terrorismus in vier jeweils vierzigjährigen Wellen zusammenfassen könne. Die erste Welle begann demnach in den 1880er-Jahren mit den Anarchisten, denen unter anderem der Zar von Russland, die Kaiserin von Österreich und der amerikanische Präsident zum Opfer fielen. Die zweite Welle, ab etwa 1920, drehte sich um Fragen nationaler Selbstbestimmung und führte zur staatlichen Unabhängigkeit von vielen vormals europäischen Kolonien in Afrika und Asien. Die dritte Welle entstand aus der Studentenbewegung der 1960er und produzierte den Terrorismus der sogenannten «Neuen Linken» – darunter die deutsche Rote-Armee-Fraktion. Die vierte Welle war der religiöse Terrorismus, dessen Beginn Rapoport auf das Jahr 1979 datiert und zu der auch dschihadistische Gruppen wie al-Qaida und der sogenannte Islamische Staat (IS) zählen.[2]
Rapoports Wellentheorie war nützlich, denn sie zeigte, dass Terrorismus weder endlos ist noch aus dem luftleeren Raum kommt, sondern stets – und sehr eng – mit den großen revolutionären Strömungen der jeweiligen Zeit verwoben ist. Doch seine Theorie erfuhr auch Kritik. Immer wieder hieß es, dass sie den rechtsextremistischen Terrorismus nicht ausreichend berücksichtige – ein Punkt, den Rapoport kurz vor seinem Tod Anfang des Jahres 2024 durch Hinzufügen einer «fünften Welle» korrigierte.[3] Viel Diskussion gab es auch über die Länge und den Ablauf der Wellen. Rapoport wurde vorgeworfen, er habe die Anfangs- und Schlusspunkte so gesetzt, dass sie zu seiner Vorstellung von vierzigjährigen Zyklen passten, auch wenn einige der von ihm veranschlagten Wellen in Wirklichkeit deutlich kürzer (Neue Linke) oder länger (Antikolonialismus) dauerten. Die grundsätzlichste und hieran anknüpfende Kritik war, dass Rapoport keine überzeugende Erklärung dafür bieten konnte, aus welchem Grund terroristische Wellen nach vierzig Jahren enden sollten.[4]
Diese Probleme lassen sich auch an der vierten, also der religiösen Welle erkennen. Rapoport hatte zweifellos recht damit, dass die zunehmende Politisierung von Religion – die er in allen großen Religionen feststellte – eine weitere Bruchlinie war, aus der im Laufe der Zeit politische Konflikte, Gewalt und Terrorismus entstehen würden. Und er lag ebenfalls richtig, als er konstatierte, dass der Islam «im Mittelpunkt» dieser Welle stehen würde. Doch laut Rapoports Theorie hätte die religiös(-dschihadistische) Welle bereits 2019 – also vierzig Jahre nach ihrem Beginn – auslaufen müssen. Genau das tat sie aber nicht. Statt zu enden, hat sich der dschihadistische Terrorismus in den 2020er-Jahren fortgesetzt und seit den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 sogar erneuert.
Mehr noch: Das Muster, das sich aus einer Gesamtbetrachtung des modernen Dschihadismus ergibt, ist nicht eine Vierzig-Jahres-Welle, wie von Rapoport postuliert, sondern es sind mehrere Miniwellen. Jede dieser Wellen beginnt mit einem einschneidenden Ereignis und führt nach Phasen der Repression und Radikalisierung etwa zehn bis zwölf Jahre später schließlich zu einer Gegenreaktion und zur Erschöpfung der Bewegung.
Wie dieser Teil des Buchs zeigt, lässt sich damit die Entwicklung des Dschihadismus viel überzeugender erklären als mit der Idee eines einzigen Zyklus. Die nächsten Kapitel beschreiben die ersten zwei dieser Wellen: diejenige des 11. September, die besonders nach der amerikanischen Irak-Invasion an Fahrt gewann (Kapitel 2), und die Syrien-Welle, die zur Entstehung des IS führte (Kapitel 3). Zuerst jedoch geht es darum, woraus der Dschihadismus eigentlich besteht – und wie er in den Westen kam.
Ideologische Wurzeln
Ebenso wie alle anderen Wellen entwickelte sich auch der dschihadistische Terrorismus nicht im luftleeren Raum. Er wurzelt in einer breit aufgestellten politischen Bewegung, die im Laufe der Zeit unterschiedliche Akteure und Strömungen hervorgebracht hat. Im Falle der Dschihadisten ist diese Bewegung der sogenannte Islamismus, der beginnend im späten 19. Jahrhundert durch das Aufeinandertreffen von Islam und westlicher Moderne entstanden ist. Islamisten begreifen den Islam nicht nur als Religion, sondern vor allem als politische Ideologie, nach der alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens gestaltet werden sollen. In letzter Konsequenz streben sie Staaten an, in denen weltliche Herrschaft durch religiöse – konkret: islamische – Herrschaft ersetzt wird.[5] Die Dschihadisten bilden hiervon eine Untergruppe: Sie sind der Überzeugung, dass zur Errichtung islamistischer Herrschaft der Einsatz gewaltsamer Mittel nicht nur notwendig, sondern verpflichtend ist.[6]
Anknüpfungspunkte zum Dschihadismus gibt es in allen Strömungen des Islamismus.[7] Eine erste davon ist die Muslimbruderschaft, die vom ägyptischen Lehrer Hasan al-Banna im Jahr 1928 gegründet wurde. Al-Banna war ein strenggläubiger Mann, der den Vormarsch westlicher Ideen als dekadent und zerstörerisch empfand. Um zu alter Stärke zurückzufinden, müsse Ägypten die westlichen Werte zurückdrängen und den Islam wieder deutlicher in den Vordergrund stellen, so al-Banna. «Islam ist die Antwort» wurde zum Motto seiner Organisation, die mittels Wohlfahrtsvereinen, Schulen, Krankenhäusern und Berufsverbänden versuchte, die Gesellschaft «von unten» zu islamisieren. Ein Jahrzehnt nach ihrer Gründung hatte die Muslimbruderschaft eine halbe Million Mitglieder, und ein weiteres Jahrzehnt später existierten Ableger in allen arabischen Ländern. Bis heute ist sie die größte islamistische Organisation weltweit.[8]
Mit bewaffnetem Kampf hatten die Muslimbrüder zunächst wenig zu tun, doch das änderte sich unter dem Einfluss von Sayyid Qutb, ebenfalls ein ägyptischer Lehrer, der wegen seiner Ansichten von der damaligen Militärregierung gefoltert und im Jahr 1966 gehenkt wurde. Qutb vertrat die These, dass moderne muslimische Staaten – wie etwa Ägypten – nicht weniger «heidnisch» und korrumpiert seien als der Westen. Die wenigen wahren Muslime lebten seiner Auffassung nach in feindlichen Gesellschaften, was bedeutete, dass für sie alle Mittel legitim seien, um gegen diese anzukämpfen. Im Gegensatz zu al-Banna, dessen Ansatz vergleichsweise pragmatisch und auf schrittweise Veränderung angelegt war, predigte Qutb gewaltsame Revolution.
Eine zweite Strömung ist der sogenannte Salafismus. Ähnlich wie die Muslimbruderschaft entstand dieser aus der Suche nach einer vom Westen und der Moderne unabhängigen Identität.[9] Stärker noch als die Muslimbrüder setzen Salafisten auf eine fundamentalistische – das heißt wortwörtliche – Auslegung ihrer Religion, die jede Form von Innovation ablehnt und sich ausschließlich am Leben des Propheten Mohammed und seiner engsten Gefährten (arabisch: Salaf) orientiert. Eine besonders harsche Version dieses Ansatzes etablierte sich in Saudi-Arabien, wo die Rückbesinnung auf das «Eigene» stets mit Feindschaft gegenüber «Ungläubigen» und nichtsalafistischen Muslimen einherging.
Salafisten sind ultrakonservativ und suchen häufig den Rückzug aus der Gesellschaft. Doch mit dem Aufstieg der Muslimbruderschaft infizierte Qutbs revolutionärer Virus auch diese Strömung. Einer der häufig genannten Gründe dafür ist, dass in den Jahren nach Qutbs Tod viele seiner Anhänger aus Ägypten nach Saudi-Arabien flohen. Dazu gehörte auch sein Bruder Mohammed, der an saudischen Universitäten lehrte und dort eine Synthese zwischen den zwei Traditionen schuf. Das Ergebnis war eine Art revolutionärer Salafismus, der unter bestimmten Bedingungen auch den Einsatz gewaltsamer Mittel guthieß und im Laufe der 1970er sogar das saudische Königshaus infrage stellte.[10]
Eine dritte Strömung entspringt dem schiitischen Islam und damit der kleineren der zwei islamischen «Konfessionen». Sie entstand in den 1960er-Jahren im Iran, dem größten schiitischen Land, und wurde von dem Geistlichen Ruhollah Chomeini angeführt, der in dem säkularen, proamerikanischen und proisraelischen Schah Reza Pahlavi ein perfektes Feindbild fand. Im Vergleich zu den anderen Strömungen war Chomeinis Bewegung breiter aufgestellt, hatte linke und sogar liberale Partner und integrierte viel stärker auch Elemente des «antiimperialistischen» Diskurses, der zu dieser Zeit an westlichen Universitäten in Mode kam.[11]
Doch letztlich war auch Chomeini ein Islamist. Seine wichtigste Doktrin, die er Anfang der 1970er-Jahre im irakischen Exil erarbeitete und lange Zeit geheim hielt, nannte sich «Statthalterschaft der Rechtsgelehrten» und sah vor, dass jedes Gesetz von islamischen Gelehrten geprüft werden musste.[12] Trotz linker Rhetorik und weltlicher Einflüsse ging es also auch in dieser Strömung darum, das Primat religiöser Herrschaft durchzusetzen – notfalls mit...
Erscheint lt. Verlag | 17.9.2024 |
---|---|
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 7. Oktober • Antisemitismus • Deutschland • Dschihadismus • Europa • Fremdenfeindlichkeit • Gaza • Gewalt • Islamismus • Israel • Israelhass • Nahostkonflikt • Nationalismus • Palästina • Politsche Analyse • Populismus • Rechtsextremismus • Ressentiment • sachbuch politik • Terror • Terrorismus • terrorismusexperte • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-644-02269-0 / 3644022690 |
ISBN-13 | 978-3-644-02269-0 / 9783644022690 |
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