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Erfahrung, Wissen, Handeln -  Markus Dederich,  Philipp Seitzer

Erfahrung, Wissen, Handeln (eBook)

Zur Grundlegung der Heil- und Sonderpädagogik
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
321 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8322-4 (ISBN)
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Im Zeichen der Inklusion hat die Heil- und Sonderpädagogik einerseits an Bedeutung gewonnen, andererseits ist sie Gegenstand zum Teil harscher Kritik. Vor diesem Hintergrund befassen sich die Autoren mit Grundlagenproblemen der Disziplin, die anhand des Begriffsdreiecks Erfahrung, Wissen und Handeln diskutiert werden. Das Buch entfaltet zunächst eine ausführliche grundlagentheoretische Kritik an der evidenzbasierten Sonderpädagogik sowie konstruktivistisch-dekonstruktiven Theorieansätzen. Darauf aufbauend entwickelt es eine phänomenologisch, kulturwissenschaftlich und ethisch konturierte Reflexionsmatrix, die es ermöglicht, die Heil- und Sonderpädagogik als Erfahrungs- und Praxiswissenschaft neu zu fassen.

Markus Dederich, geboren 1960, ist Professor für Allgemeine Heilpädagogik, Theorie der Heilpädagogik und Rehabilitation an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind u.a. grundlagentheoretische und ethische Fragen im Kontext von Behinderung, wissenschafsttheoretische Aspekte der Heil- und Sonderpädagogik, Theorien der Behinderung und Disability Studies, Inklusions- und Exklusionsforschung und anthropologische sowie erziehungswissenschaftliche Aspekte der Vulnerabilität.

Einleitung: Überblick und erste Annäherung


Bereits seit den 1970er und 1980er Jahren gibt es immer wieder neu aufkeimende Diskussionen und teilweise erbittert geführte Kontroversen nicht nur über Aufgaben und Ziele der Heil- und Sonderpädagogik, sondern auch über die Frage, ob die Profession wie auch die Disziplin notwendig sind und eine gut begründete Existenzberechtigung haben. Schon seit den ersten Bemühungen um die schulische Integration von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und dann verstärkt im Kontext der Inklusion stehen nicht nur Bezeichnungen wie „Heilpädagogik“ oder „Sonderpädagogik“ in der Kritik; es gibt auch Stimmen, die für die mehr oder weniger umfängliche Abschaffung der Disziplin und Profession plädieren. Aber auch unabhängig von diesen Debatten über Inklusion gibt es zumindest in der Disziplin, das heißt der wissenschaftlichen Heil- und Sonderpädagogik, sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, was ihr Gegenstand ist und wie dieser begrifflich-theoretisch zu fassen sein könnte. Das hat zur Folge, dass sehr unterschiedliche Forschungsperspektiven eingenommen werden, die sich zum Teil radikal divergierender Methodologien und Begriffsinstrumentarien bedienen und kaum in Einklang zu bringende Vorstellungen darüber entwickeln, was die Aufgaben und Ziele der pädagogischen Praxis sein könnten.

Nun könnte man einwenden, dass diese Zustandsbeschreibung eingedenk der Tatsache, dass sich die verschiedenen Zweige und in ihnen gepflegte Stile der Disziplin seit nunmehr über zehn Jahren mehr oder weniger unisono auf die UN-Behindertenrechtskonvention beziehen, dramatisch überzeichnet, wenn nicht sogar verfehlt ist. Demnach stelle die Konvention so etwas wie einen übergreifenden, die verschiedenen Zweige und Stile einigenden normativen Bezugs- und Orientierungsrahmen dar, in dem Menschenrechte und Inklusion ein unverrückbares und nicht zu bezweifelndes Fundament bildeten. Analysiert man erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Prämissen, verschiedene Begriffssysteme, Modelle sowie Theorien von Behinderung, Konzeptionalisierungen dessen, was Pädagogik im Kontext von Behinderungen und Beeinträchtigungen sein könnte usw., zeigt sich jedoch, dass sich die jeweiligen Problemverständnisse sowie die für angemessen gehaltenen Mittel und anvisierten Ziele zum Teil radikal widersprechen. Aufschlussreich ist hier u. a. Mai-Anh Bogers „Theorie der trilemmatischen Inklusion“ (2019a, 2019b). Sie zeigt, dass drei Schlüsselkonzepte inklusionspädagogischer Theorien, die einer weitverbreiteten Auffassung zufolge als unabdingbare Voraussetzung für die Etablierung inklusiver pädagogischer und gesellschaftlicher Strukturen gelten, nämlich Empowerment, Dekonstruktion und Normalisierung, in einer trilemmatischen Spannung zueinander stehen. Aus dieser trilemmatischen Struktur ergibt sich, dass Inklusion eigentlich die Erfüllung aller drei Aspekte fordert, während immer nur zwei zur gleichen Zeit erfüllbar sind (Boger 2019a, 2019b).

Am vorab skizzierten grundlegenden Problem setzt das vorliegende Buch an. Obwohl seine vier Teile auf jeweils unterschiedliche Weise um die Frage nach dem Gegenstand der Disziplin und das Problem der Gegenstandskonstitution kreisen, ist weder eine Grundlegung der Disziplin noch eine integrative Theorie intendiert, wie sie beispielsweise Wolfgang Jantzen (2010) mit seiner „synthetischen Humanwissenschaft“ im Blick hatte. Vielmehr beabsichtigen wir, das sowohl für die Wissenschaft als auch für das professionelle Handeln grundlegende Verhältnis von Erfahrung, Wissen und Handeln phänomenologisch zu untersuchen und daran anschließend einen kulturwissenschaftlich konturierten disziplinären Reflexionsrahmen zu skizzieren. Wir werden zeigen, dass die kulturwissenschaftliche Rahmung der Heil- und Sonderpädagogik in Verbindung mit dem von uns dargelegten Verständnis von Erfahrung, Wissen und Handeln eine Möglichkeit eröffnet, das Problem der Gegenstandsbestimmung und Gegenstandskonstitution anders zu fassen und damit auch gewisse theoretische Sackgassen zu vermeiden, in die viele disziplinäre Diskurse bzw. einzelne Positionen früher oder später zu geraten drohen.

Bevor wir diesen Gedanken eingehender entfalten, werden wir im ersten Teil versuchen, das von uns identifizierte zentrale Problem der Disziplin genauer zu fassen und zu begründen, warum wir es überhaupt als solches begreifen. Dies wird nicht in einem historisch-systematischen Zugang erfolgen, sondern mit Blick auf eine aktuelle Kontroverse, an der sich das Problem der Gegenstandskonstitution der Disziplin exemplarisch aufzeigen lässt. Im Fokus dieser Kontroverse stehen zwei von uns identifizierte nicht nur sehr unterschiedliche, sondern in bestimmter Hinsicht gegensätzliche und schwer vereinbare Zugänge zu Forschung und Theoriebildung.

An diesen ausführlichen Problemaufriss schließt der zweite Teil an, der einer phänomenologischen Darstellung und Reflexion des komplexen Zusammenhangs von Erfahrung, Wissen und Handeln gewidmet ist. Durch eine schrittweise Einführung in phänomenologisches Denken und dessen Anwendung auf zentrale Fragen und Probleme der Heil- und Sonderpädagogik als Erfahrungs- und Praxiswissenschaft3 werden wir zu zeigen versuchen, dass verschiedene disziplinäre Anstrengungen, die sich in der Beobachtung, Befragung und Kritik der Praxis verdichten, als responsiv zu begreifen sind und an den lebensweltlichen und praktisch-pädagogischen Erfahrungszusammenhang zurückgebunden werden müssen. Eine solche Rückbindung ist, so soll deutlich werden, auch für eine sich dezidiert von der pädagogischen Praxis abgrenzende Erziehungswissenschaft unerlässlich. Einerseits werden wir auf Grundlage einer solchen responsiven Phänomenologie und in Bezugnahme auf den Gegenstandspositivismus, der einen Teil der Disziplin beherrscht, argumentieren, dass bestimmte Fragen, Probleme, Konzepte und bevorzugte Methoden zur Wissensgewinnung nicht objektiv vorgegeben sind, sondern sich erst in der Erfahrung in einer bestimmten Weise konturieren. Andererseits werden wir auf der gleichen Grundlage anhand (radikal-) konstruktivistischer Ansätze zur Gegenstandkonstitution der Disziplin zeigen, dass die disziplinären Probleme, theoretischen Desiderata und Forschungsbedarfe nicht ‚aus der Luft gegriffene‘ Konstruktionen sind, sondern deshalb thematisch werden, weil sie sich der Erfahrung aufdrängen und auf eine jeweils bestimmte Weise zeigen. Unsere These lautet, dass weder Gegenstandspositivismen noch Konstruktivismen diesen komplexen Zusammenhang von Erfahrung, Wissen und Handeln angemessen zu erfassen und zu rekonstruieren vermögen.

Unter Rückgriff auf kulturwissenschaftliche Überlegungen werden wir anschließend im dritten Teil dieser Schrift darlegen, wie sich die Verquickung von Erfahrung, Wissen und Handeln in einem kulturwissenschaftlich konturierten Denkrahmen reflektieren lässt. Damit soll nicht behauptet werden, dieser Denkrahmen sei Grundlage eines objektiven Wissenssystems. Vielmehr wird im Zusammenspiel mit der phänomenologischen Perspektive deutlich, dass sich in den Aufmerksamkeitsstrukturen, die unserer lebensweltlichen Erfahrung zugrundeliegen, schon ein kulturell und historisch gewachsenes Wissen sedimentiert hat, in dem Figurationen der Macht wirksam werden: Dass uns etwas aufmerken lässt und als etwas auffällt, ist immer auch durch ein System von situativen, institutionellen, sozialen, kulturellen, politischen, ökonomischen und normativen bzw. rechtlichen Techniken der Aufmerksamkeit mitbedingt. Damit kommt zumindest indirekt auch das mitproduzierte Negative in den Blick: das, was nicht bemerkt wird, ungesehen und ungehört bleibt. Auch diese Thematik wird sich wie ein roter Faden durch die Kapitel dieses Buchs ziehen. An ihm lässt sich zeigen, dass theoretische und methodologische Zugänge zu Fragen und Problemen der Heil-, Sonder- und Behindertenpädagogik wie Optiken wirken, die diese Fragen und Probleme auf jeweils sehr unterschiedliche Weise, jedoch unausweichlich selektiv und exklusiv figurieren. Zugleich wird deutlich werden, dass die dezidierte Analyse der situativen, institutionellen, sozialen, kulturellen, politischen, ökonomischen, rechtlichen und normativen Bedingungen dafür, dass etwas als dieses oder jenes zur Aufmerksamkeit kommt, während anderes unbeachtet bleibt, ebenso wenig zu einem objektiven Fundament des Wissens führt.

In diesem Sinne unterscheidet sich unser Standpunkt von einem radikal (de-) konstruktivistischen, der häufig...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8322-2 / 3779983222
ISBN-13 978-3-7799-8322-4 / 9783779983224
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