Der Fehler: eine Vermisstenanzeige (eBook)
296 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8357-6 (ISBN)
Christian Heilig hat unter anderem an der Kunstakademie Düsseldorf bildende Kunst studiert und auch dort mit Akademiebrief und Meisterschüler abgeschlossen. Ein Stipendium des DAAD ermöglichte ihm ein einjähriges Postgraduierten Studium am Hunter College in New York. Er ist als freier Künstler in Berlin tätig und hat dort die Projektgalerie montanaberlin mitgegründet. Parallel hat er an diversen Fachhochschulen und Hochschulen in künstlerisch anschlussfähigen Zusammenhängen unterrichtet und war im Zusammenhang mit der Arbeit an diesem Buch für ein Jahr als Lehrer an einer weiterführenden Schule in Berlin tätig.
1.Der Fehler
1.1.Entwicklung des Fehlerbegriffs
The greatest mistake you can make in life is to be continually fearing you will make one.
Elbert Hubbard (Hubbard 1927, S. 129)
Der „Fehler“ ist nach Friedrich Kluges Etymologischem Wörterbuch (Kluge 2002, S. 282) das Nomen zur Verbform „fehlen“; diese wiederum ist vermutlich aus dem altfranzösischen Wort faillir entstanden, das so viel wie „verfehlen, sich irren“ bedeutet und sich seinerseits vom lateinischen Verb fallere, „täuschen“ (vor allem in unpersönlichen Ausdrücken), ableiten lässt (ebd.). Die Bedeutung von fehlen als „nicht da sein“ rekurriert u. a. auf die französische Nebenbedeutung „entgehen mangeln“ (ebd.). Der „Fehler ist das „Nomen Actionis2 in der Form eines Nomen Agentis3 zu fehlen“ (Kluge 2002, S. 283). Die im Mittelhochdeutschen verwendeten Verben – valen, vælen oder velen – hatten die Bedeutung von „fehlen, sich irren, trügen […] übergehen, […], fehlschlagen, mangeln; verfehlen, nicht treffen“ (Lexer 1992, o. S., Stichwort vælen). In der Originalausgabe des Deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm wurde der Übergang vom Verb zum Nomen mit dem Ausdruck „einen fäler schieszen“ u. a. mit einem Bezug auf Johannes Geiler von Kaysersberg belegt (DWB1, Bd. 3, Sp.1427). In der Neubearbeitung wird dann ein Zusammenhang vom Fehler zu Normen hergestellt: Eine „von der norm abweichende handlung, regelverstoß“ bezeichne der Fehler bereits beim Berner Stadtschreiber Thüring Fricard in einem Text aus dem Jahr 1470 (DWB2, Bd. 9, Sp. 251).
Heute findet sich zum Begriff des Fehlers im Duden folgende Erläuterung:
1. a) etwas, was falsch ist, vom Richtigen abweicht; Unrichtigkeit […]; b) irrtümliche Entscheidung, Maßnahme; Fehlgriff – Beispiele: einen Fehler begehen, machen; das war mein Fehler (meine Schuld); es war ein Fehler (es war falsch), dass wir fortgegangen sind. 2. a.) schlechte Eigenschaft; Mangel – Beispiele: charakterliche, körperliche Fehler haben; sein Fehler ist, dass er zu viel trinkt; b) Stelle an einer hergestellten Ware, die nicht so ist, wie sie sein müsste (Duden.de, Hervorhebung im Original).
Auf dieser Grundlage lassen sich einige unterschiedliche Aspekte ausmachen: „Etwas, was falsch ist, vom Richtigen abweicht“ setzt eine Vorstellung vom „Richtigen“ voraus. Damit stellt sich die Frage nach der Basis dieser Annahme, dieses Urteils. Die „irrtümliche Entscheidung“ beschreibt eine Absicht: Man hat (sich, etwas, sich für etwas) entschieden, aber leider eben falsch. Ein Fehler kann zum einen im Gegenstand bzw. im Ergebnis einer Tätigkeit entdeckt werden – „Da ist der Fehler!“ –, andererseits aber auch auf die jeweilige Tätige oder Verursacher:in zurückgeführt werden: „X hat einen Fehler gemacht“. Diese begriffliche Unschärfe, die im Zusammenhang mit dem Fehler existiert, schafft einen unspezifischen Bedeutungsraum zwischen Sachbeschreibung und personaler Zuschreibung.
In anderen Zusammenhängen oder sehr häufig jedoch begibt man sich ausgehend vom Ungewollten oder Unerwarteten auf die Fehlersuche bzw. die Suche nach seinem Grund, und dies geschieht als zeitlich rückwärtig orientierte Bewegung. So lassen sich auch Verantwortlichkeiten ausmachen oder konstruieren.
Der Fehler kann nämlich auch als Synonym für Schuld (im Sinne einer Verantwortlichkeit) verwendet werden: „Das war mein Fehler (meine Schuld)“. Der Fehler stellt dann eine Frage (die nach Verantwortlichkeit). Und (nicht allein) in diesem Zusammenhang ist die Annahme von Kausalzusammenhängen zentral.
Mit dem Hinweis im Duden auf eine „schlechte Eigenschaft“ oder einen „Mangel – Beispiele: charakterliche, körperliche Fehler haben“ wird nahegelegt, ein Urteil über einen Gegenstand, eine Person oder eine Situation zu fällen, das auf der offenbar nicht richtig erfüllten Befolgung einer Erwartung beruht, besser noch: einer Norm. An die Frage, wie es zum Fehlerurteil, also der Beurteilung von etwas als Fehler, kommt, lassen sich somit Fragen nach dem Verhältnis zwischen Norm, Regel und Erwartung (und dem Urteil selbst) anschließen. Zum einen kann man etwa beobachten, dass der Begriff des Fehlers sowohl für Gegenstände bzw. Resultate Anwendung findet – ganz so, als gebe es den Fehler auch schon vor dem Urteil quasi als eine den Dingen selbst innewohnende Qualität. Zum anderen kann man das Verdikt des Fehlers auch als eine Zuschreibung thematisieren. Das soll heißen, selbst in der Annahme der Existenz des Fehlers als solchem lässt sich die Urteilende als Produzent:in des Fehlers nicht leugnen. Helmut Heid erläutert diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Wenn im Folgenden zur sprachlichen Vereinfachung dennoch von Fehlerverursachung gesprochen wird, dann muss die notwendige Präzisierung ‚Verursachung einer Sachverhaltsbeschaffenheit oder Verhaltensweise, die mit Bezug auf das dafür notwendige Beurteilungskriterium als Fehler bewertet wird‘ stets mitgedacht werden“ (Heid 2015, S. 33 Fußnote 1, Hervorhebung im Original). Die „Sachverhaltsbeschaffenheit“ oder eine Verhaltensweise führt erst dann zum Fehlerurteil, wenn auf sie ein Beurteilungskriterium angewendet wird. Wodurch sich die Anwendung dieses Kriteriums begründet und wie und wodurch das Kriterium selbst zustande kommt und sich legitimiert (oder legitimiert wird), ist Gegenstand meiner Fehlerbetrachtung.
Festhalten lässt sich an dieser Stelle erst einmal: Gegenstände, Handlungen und vieles mehr können zum Beispiel dann fehlerhaft sein (oder als fehlerhaft betrachtet werden), wenn es zu einer Abweichung von einem zuvor bereits erwarteten Aussehen oder Zustand kommt, und werden in der Folge als – zum Beispiel – mangelhaft beschrieben. Hier findet das Fehlerhafte Anwendung in der bzw. als Beschreibung eines Ergebnisses oder Objekts. Es bezeichnet ein Ungewolltes oder jedenfalls Unabsichtliches, ganz sicher ein Unerwartetes. Die Psychologin Gabriele Steuer konstatiert: „Fehlern geht immer eine Intention voraus, eine bestimmte Handlung (ohne Fehler) durchzuführen, Fehler geschehen dann wider dieser eigentlichen [sic] Intention“ (Steuer 2014, S. 18). Normativ ausgedrückt weicht mit dem Unerwarteten der Ist-Zustand vom Soll-Zustand ab (Miller, Galanter und Pribram 1960 nach Steuer 2014, S. 16). Der Fehler lässt sich dann als Normabweichung beschreiben. In beiden Fällen (der Unabsichtlichkeit und der Normabweichung) bezeichnet das Fehlerhafte dabei nicht den Grund für ein Ungewolltes, sondern das Ungewollte selbst; nicht eine Ursache, sondern das Ergebnis.
Fragen nach Verantwortlichkeit hingegen verhandeln eher die Ursache/n eines Ungewollten bzw. des Fehlers: Ein ungewolltes Ereignis tritt auf, und man sucht daraufhin dessen Ursache zu ergründen und/oder verlegt diese, zum Beispiel in ein Geschehen oder eine Person. Dies erfolgt unter der Annahme einer kausal rekonstruierbaren Sukzession. Hier wird deutlich, dass der Fehler auf ein Subjekt angewiesen ist oder jedenfalls – wenngleich manchmal auch nur metaphorisch4 – in Zusammenhang mit einer Form von agency oder Instanz stehen muss, damit er – als Fehler – begangen werden kann.
Die folgenden eher eklektisch zusammengetragenen Beispiele aus der Fehlerforschung vom 19. Jahrhundert bis ca. zur Mitte des 20. Jahrhunderts sollen einen ersten Eindruck von der Vielfältigkeit der Perspektiven auf den Fehler illustrieren und damit auch die Versuche einer Konzeptionalisierung dieses Phänomens in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen schildern. Eine geisteswissenschaftliche Betrachtung des Fehlers lässt sich spätestens ab Goethes Beschäftigung mit „Hör-, Schreib- und Druckfehler“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts verzeichnen (Goethe 1820, S. 177 ff.). Er beschreibt dort, wie seiner Ansicht nach Hörfehler...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8357-5 / 3779983575 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8357-6 / 9783779983576 |
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