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Anthropologien der Virtualität -

Anthropologien der Virtualität (eBook)

Pädagogiken der Möglichkeit, des Entwurfs und der Imagination
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
292 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8252-4 (ISBN)
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Dieser Band enthält zunächst grundlagentheoretische Reflexionen über das Verhältnis von unterschiedlichen Konzepten von Menschen und Virtualitäten. Dabei werden anthropologische Bedeutungsdimensionen von Virtualität für die Beschreibung pädagogischer Dimensionen und Prozesse herausgearbeitet. Daran anschließend kommt Virtualität als Bedingung menschlicher Weltaneignung in den verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern in den Blick. Die hohe Relevanz von Virtualität in pädagogischen Konzepten und Praktiken verweist wiederum auf ihre anthropologischen Implikationen. Inhaltlich werden drei Schwerpunkte thematisiert: ?der Körper und das Selbst?, ?die Anderen und die Gesellschaft? sowie ?die Natur und die Welt?.

Zirfas, Jörg, Dr. phil., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie im Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln.

Virtualität und Weltbezug


Zur Einführung

Carsten Heinze, Konstantinos Masmanidis & Jörg Zirfas

Bei näherer Betrachtung der Begriffsverwendung von ‚Virtualität‘ eröffnet sich ein Feld heterogener Sichtweisen auf das damit bezeichnete Phänomen, das durch eine „nachgerade heillose Verwirrung des Begriffes“ zu charakterisieren ist (Kasprowicz/Rieger 2020, S. 10). Insbesondere im Kontext der Digitalisierung lässt sich seit den 1980er und 1990er Jahren eine Polarisierung der Debatte konstatieren, bei der einerseits die grenzüberschreitenden Möglichkeiten digitalisierter (‚virtueller‘) Realitäten verklärt und andererseits die Effekte der Verlusterfahrungen menschlichen Realitätsbezugs im Schein (‚virtualisierter‘) künstlicher Welten beklagt werden (vgl. ebd., S. 3; Völcker 2010, S. 10ff., 316f.; Pachner 2020, S. 20f.).

Mit der sich hier abzeichnenden, wechselseitig sich ausschließenden Gegenüberstellung von Realität und Virtualität ist eine Verkürzung des Phänomens der Virtualität verbunden und damit zugleich eine Simplifizierung der Beschreibung menschlicher Weltbezüge, die dem komplexen Verhältnis von Virtualität und Lebenswelt nicht gerecht wird. Im Anschluss an diesen Diskurs lässt sich in der Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Virtualität für die menschliche Weltaneignung und -gestaltung auch unter Rückbezug auf die historische Semantik des Begriffs in der vordigitalen Zeit (vgl. Roth 2000; Knebel 2001; Völcker 2010) und mit Blick auf die aktuell weitreichenden lebensweltlichen Auswirkungen die Abgrenzung der Virtualität von der Realität infrage stellen (vgl. Grimshaw 2014; Kasprowicz/Rieger 2020; Rieger/Schäfer/Tuschling 2021).

Versuche, aus den antinomischen Verwendungsweisen einen Ausweg zu finden, führen jedoch in das begriffstheoretische Dilemma, einerseits die Bedeutungsweisen von Virtualität so auszuweiten, dass sich die Differenz zur Wirklichkeit auflöst und Virtualität als „neue“ Wirklichkeit erscheint (vgl. Welsch 1998, S. 169). Andererseits gibt es Bestrebungen, den Sinngehalt von virtuell auf die Bezeichnung von computerisierten Prozessen der Digitalisierung zu beschränken (vgl. Friedberg 2006, S. 10; Massumi 2002, S. 137),1 mit der Folge, damit die Beschreibungskraft des Begriffs für die Modalitäten menschlicher Weltaneignung und Erkenntnis auszublenden.

Die Kritik an der Verkürzung des Phänomens führt zu vielfältigen Versuchen der begrifflichen Neufassung, deren Spektrum sich durch die Relationierung zu verschiedenen korrespondierenden Begriffen wie Möglichkeit, Vermögen, Potentialität, Aktualität, Imagination, Simulation, Fiktion, Schein, Digitalität, Medialität, Immersion u.a. skizzieren lässt. Hierbei ist zu diskutieren, inwieweit Virtualität, ausgehend vom „Entwurfscharakter des menschlichen Seins“ (Rieger 2014, S. 25), als „universale Voraussetzung eines jeglichen Weltbezugs“ zu charakterisieren ist und in welchem Umfang sie als Bedingung menschlicher Wahrnehmung und Aneignung von Welt neue Perspektiven auf „all das [eröffnen kann], was sich im Modus des Als ob vollzieht“ (Kasprowicz/Rieger 2020, S. 5f., Herv. im Orig.; Okolowitz 2006, S. 12).

In diesem Sinne soll daran erinnert werden, dass sich der Begriff der Virtualität einerseits vom lateinischen virtualis ableiten lässt, mit dem das Mögliche, etwa als eine mögliche Wirklichkeit oder auch künstliche Realität, in Verbindung steht; andererseits aber auch vom lateinischen virtus herkommt, womit etwa Kraft, Vermögen, Tugend, Tüchtigkeit bezeichnet werden (vgl. Knebel/Grötker 2001). Vielfältige Einsätze für die Beschreibung des Phänomens der Virtualität bietet der vordigitale philosophische Diskurs (vgl. Kasprowicz/Rieger 2020, S. 6), in dem seit der Antike über die Beschaffenheit des Seins nachgedacht und in diesem Zusammenhang die Verschränkung von Virtualität und Realität, bzw. Wirklichkeit, zumeist in Bezug auf die Begriffe der Möglichkeit und des Vermögens reflektiert wurde. Zu verweisen ist hier neben Aristoteles u.a. auf Thomas von Aquin, Gottfried Wilhelm Leibniz, Henri Bergson und Gilles Deleuze (vgl. z.B. Roth 2000; Okolowitz 2006; Deleuze 1966/1997; Ott 2016; Völker 2010).

Für die Erziehungswissenschaft stellt sich grundsätzlich die Frage einer „virtuellen Pädagogik“ (Beiler/Sanders 2020), die sich jedoch nicht auf die Optimierung der Verwendung digitaler Medien im Unterricht oder das Lernen in digitalisierten Lernumgebungen bzw. ‚virtuellen‘ Realitäten reduzieren lässt (vgl. ebd., S. 502). Vielmehr gilt es, Virtualität als Herausforderung für pädagogisches Handeln im Kontext entsprechender gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu betrachten, die im Rücken der Virtualisierung von Lebenswelten machtvolle und gewaltförmige Effekte zeitigen können (vgl. Levy 1997; Sprenger 2020, S. 107).

Neben der grundsätzlichen Reflexion über das Verhältnis von Mensch und Virtualität (homo virtualis, digitalis, fictionalis, medialis, utopicus etc.) ist in der erziehungswissenschaftlichen Forschung in einem ersten grundlagentheoretischen Zugang die Bedeutung von Virtualität für die Beschreibung pädagogisch-anthropologischer Dimensionen und Prozesse zu diskutieren. Denkbar ist z.B. die Betrachtung von Bildung und Erziehung, Lernen, Bildsamkeit sowie Subjektivierung, Autonomie, Information und Wissen, desgleichen von Körperlichkeit, Vulnerabilität, Gewalt, Mimesis, (Sozial‑)Raum, Ritual, Imagination, Mythos, Kunst und Spiel – auch unter Berücksichtigung der historischen Semantik.

Zudem ist es in einem zweiten Schritt erforderlich, Virtualität als Bedingung menschlicher Weltaneignung in den verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern zu untersuchen und pädagogische Konzepte und Praktiken auf ihre pädagogisch-anthropologischen Implikationen im Kontext von Virtualität zu befragen. Neben Thematisierungen der medialen und technologischen Umbrüche infolge der ‚Computerisierung‘ sind ebenfalls Untersuchungen zu ‚virtuellen Räumen‘ der vordigitalen Zeit notwendig (vgl. Adams 2014). Quer zu den skizzierten thematischen Einsätzen liegt die nicht zu vernachlässigende Berücksichtigung gesellschaftlicher, epistemologischer, ethischer sowie technologischer Voraussetzungen und Konsequenzen von Virtualität (etwa in Bezug auf Verbildlichung, Datafizierung, Vernetzung, Fake News etc.).

Die Frage nach der Bedeutung der Virtualität für die (pädagogisch vermittelte) Weltaneignung des Menschen eröffnet ein weites Feld möglicher Forschungszugänge und zeigt zugleich die Notwendigkeit erziehungswissenschaftlicher Untersuchungen in diesem Bereich auf. In dem vorliegenden Band erfolgt die Bearbeitung dieser Frage aus einer pädagogisch-anthropologischen Perspektive mit den drei Schwerpunkten ‚der Körper und das Selbst‘, ‚die Anderen und die Gesellschaft‘ sowie ‚die Natur und die Welt‘. Diese drei Schwerpunkte werden im Folgenden mit Blick auf die in diesem Band versammelten Studien vorgestellt.

Der Körper und das Selbst


Anhand der Geschichte einer Visualisierung des Ungeborenen sowie den sich im historischen Prozess wandelnden „Inszenierungspraktiken pränatalen Lebens“ lotet Sabine Seichter die „Grenzen des (technologisch) Virtuellen und des (natürlich) Realen“ aus und verfolgt dabei die These, dass mit der virtuellen Sichtbarmachung des unsichtbaren Embryos zugleich anthropologische Vorstellungen des Menschseins erzeugt würden. In ihrem Beitrag rekonstruiert sie das Bildwissen über das Ungeborene im Kontext der jeweiligen historischen Weltsichten seit der Antike und betrachtet die Praktiken der Verbildlichung des Embryos bis hin zu aktuellen Trends der Medialisierung im digitalen Raum sozialer Netzwerke. Ihren Beitrag resümierend, verdeutlicht sie die Notwenigkeit, dass „eine anthropologische Geschichte der Kindheit bzw. ihrer Kindheitsbilder“ bereits mit der Darstellung der „vorgeburtlichen Bilder vom ‚Kind‘“ beginnen müsse.

Mit der Frage nach den Folgen, die sich durch die schrittweise Ersetzung leiblicher Kommunikationsformen durch virtuelle für das „menschliche Verhalten und Wohlbefinden“ ergeben, verfolgt Gabriele Sorgo das Ziel, Perspektiven für die pädagogisch-anthropologische Erforschung des...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8252-8 / 3779982528
ISBN-13 978-3-7799-8252-4 / 9783779982524
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