Studien zur Eigenlogik moderner Erziehung und ihre Vernachlässigung in Bildungsforschung und Bildungspolitik (eBook)
152 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8298-2 (ISBN)
Dietrich Benner, Jg. 1941, Prof. Dr. Phil. Dr. h. c. mult., lehrte an den Universitäten Bonn, Freiburg und Münster, bevor er 1991 den Ruf auf den Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin annahm, der er seit 2009 als Emeritus angehört. Seit 2004 ist er Honorarprofessor an der ECNU Shanghai. Von 2008 bis 2014 war er ordentlicher Professor an der UKSW Warschau.
Einleitung
Der Sinn für die Eigenlogik und Grundstruktur moderner Erziehung ist im Schwinden begriffen, nicht nur bei Eltern und in pädagogischen Berufen, sondern auch in der Erziehungswissenschaft und den Bildungswissenschaften, vor allem aber in der staatlichen Bildungspolitik.
Hierauf versuchen die unter dem Titel „Studien zur Eigenlogik moderner Erziehung“ zusammengestellten Beiträge aufmerksam zu machen. Sie sind in den Jahren 2014 bis 2023 entstanden und nehmen Präzisierungen an der in meiner Allgemeinen Pädagogik (1978/2015) entwickelten Ordnung pädagogischer Grundbegriffe, Basistheorien und erziehender sowie bildender Handlungsformen vor. Für diesen Band werden sie nach drei Themenfeldern geordnet: vier Texte entwickeln grundlagentheoretische Überlegungen zur Struktur moderner Erziehung, drei präsentieren Untersuchungen zu genuinen Praktiken der Erziehung, zwei treten für eine mit der Eigenlogik der Erziehung abgestimmte erziehungswissenschaftliche Theorieentwicklung und Forschung ein, die zwischen Bedingungs- und Handlungskausalitäten in Erziehungs- und Bildungsprozessen unterscheidet und operativ ausgewiesen ist.
Unter den grundlagentheoretischen Studien behandelt die erste die Gesamtthematik aller Beiträge dieses Bandes, indem sie zwischen pädagogischer Normativität und außerpädagogischen Normativitäten unterscheidet. Sie markiert einen Unterschied, durch den sich moderne von vormoderner Erziehung nicht nur in ihren Orientierungen, sondern auch in ihrer Handlungsformen und Wirkungsweisen abhebt.
Die zweite Studie nimmt eine nicht-dualistische Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung vor. Unter Erziehungsprozessen werden in ihr Interaktionen, die von pädagogischen Akteuren ausgehen, unter Bildungsprozessen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Welt verstanden, die nicht unmittelbar im gesellschaftlichen Zusammenleben stattfinden, sondern auf edukative Unterstützungen angewiesen sind und ihre Ziele erst erreichen, wenn edukativ unterstützte Bildungsprozesse in solche jenseits der Erziehung übergehen.
Das leitet zur dritten Studie über, die eine Unterscheidung dreier pädagogischer Handlungskausalitäten vornimmt. Von diesen bezieht sich die erste auf gegenwirkende und unterstützende Einwirkungen durch Erzieher, Lehrer und Berater, die zweite auf Wirkungen, die aus Wechselwirkungen zwischen Heranwachsenden und einer widerständigen Welt hervorgehen, in denen beide, die Welt aneignenden Heranwachsenden und die von diesen angeeignete Welt, sich verändern. Die dritte Kausalität baut auf der ersten und zweiten auf und tritt hervor, wenn Bildungsprozesse von Erziehung unabhängig werden und Heranwachsende fähig geworden sind, selbständig weiterzulernen, Neues zu lernen und an Bildungsprozessen in den ausdifferenzierten Feldern der menschlichen Praxis, in Arbeit und Ökonomie, Ethik und Moral, Recht und Politik, Kunst und Religion sowie Erziehung und Bildung, zu partizipieren.
Die vierte Studie entwickelt ein Konzept für die Beschreibung pädagogischer Interaktionen und die Beobachtung von Übergängen von Erziehungs- in Bildungsprozesse sowie von diesen in eine Kompetenzentwicklung, die nicht mehr durch Erziehung unterstützt werden muss. Die Bedeutung des Konzepts für Theorieentwicklung, Forschung und Praxis könnte darin liegen, dass seine Beobachtungen und deren Analysen zwischen misslingenden und gelingenden Erziehungs- und Bildungsprozessen zu unterscheiden erlauben und damit eine Lücke schließen, die derzeit zwischen Erziehungs- und Bildungsprozessen und Outputmessungen von Kompetenzen besteht.
Die Untersuchungen zu Praktiken moderner Erziehung setzen mit einer Studie zum Begriff der Freiheit im pädagogischen Sinne ein, der allen Praktiken der Erziehung zugrunde liegt. Unter Freiheit im pädagogischen Sinne wird nicht mehr eine anderen Freiheiten nachgeordnete Freiheit verstanden, sondern eine Freiheitszumutung im Bildungsgang von Heranwachsenden, die biologischen, psychologischen und ökonomischen aber auch moralischen, politischen und religiösen Freiheiten vorausgeht und zugrunde liegt und eine Voraussetzung dafür ist, dass Heranwachsende überhaupt freie Formen des Denkens, Urteilens und Handelns entwickeln und an außerpädagogischen Freiheiten partizipieren können.
Für die regierende und disziplinierende pädagogische Handlungsform besagt dies, dass sie den Willen und das Handeln Heranwachsender nicht länger außerpädagogischen Normen unterwerfen darf, sondern nur dort legitim ist, wo sie Kinder und Jugendliche vor Gefahren schützt und an uneinsichtigem Handeln hindert, nicht aber ihren Willen normiert und dem Willen der Erwachsenen unterwirft. Vergleichbare Veränderungen wie in der regierenden Erziehung lassen sich auch für die unterrichtende und urteilsbildende und die beratende und intergenerationelle Erziehung aufzeigen.
Die Urteilsbildung unterstützende Form der Erziehung wird im zweiten Beitrag als lehrende oder didaktische Handlungsform moderner Erziehung vorgestellt. Sie unterscheidet sich von vormodernen Formen der Erziehung dadurch, dass sie Erfahrung und Umgang der Heranwachsenden über Lehr-Lernprozesse erweitert, die ein Weltverstehen fördern, das auf einer Vielheit vormoderner und moderner Wissensformen basiert. Die Operationen der lehrenden Praxisform werden in Anlehnung an hierüber geführte Diskurse in die eines didaktischen Fragens, Zeigens und Antwortens unterschieden. Sie entfalten ihre edukative, bildende und Kompetenzen fördernde Wirksamkeit als Praktiken eines Unterrichts, der Umgang und Erfahrung anfangs narrativ, dann mit Blick auf die moderne Vielheit von Wissensformen und schließlich auch pragmatisch erweitert.
Die dritte Studie ist der beratenden Praktik der Erziehung gewidmet. Sie klärt, warum die zum Handeln überleitende beratende Praktik so lange als eine solche verstanden wurde, die bei Heranwachsenden einen gehorsamen Willen gegenüber einem schon vernünftigen Willen der Erwachsenen entwickelt und erst spät für urteilsbildende und streitende Formen der Erziehung geöffnet wurde, wie sie heute in Zivilgesellschaften zugelassen und für intergenerationelle Verständigungsprozesse unverzichtbar sind.
Die Beiträge des letzten Teils kehren zu den grundlagentheoretischen Reflexionen des ersten Teils erörtern die Frage, wie eine operativ ausgewiesene, die Eigenlogik der Erziehung thematisierende Erziehungs- und Bildungsforschung entwickelt werden kann, die in allen Praxisfeldern der Erziehung Wirkungszusammenhänge zwischen regierenden, Erfahrung und Umgang erweiternden und beratenden Formen der Erziehung untersucht. Diese Frage wird an zwei interdisziplinären Projekten erörtert, in denen religiöse und ethisch-moralische Kompetenzen nicht als Output, sondern als durch Erziehung und Unterricht vermittelte Kompetenzen mit den Teildimensionen Grundkenntnisse, Urteilen und Partizipieren sowie Handlungen Entwerfen modelliert wurden.
Die heute nach Methoden differenzierte Bildungsforschung ist in ihren Praktiken der Datenaggregation, -auswertung und -analyse aufgrund des Fehlens eines angemessenen Theoriemodells von einer solchen Erziehungs-, Bildungs- und Kompetenzforschung noch weit entfernt. Ihre quantitativen und qualitativen Ansätze stimmen darin überein, dass in ihnen die für pädagogisches Handeln und erziehungswissenschaftliche Theorieentwicklung und Forschung grundlegenden Unterscheidungen zwischen Erziehung, Bildung und Kompetenz und die Frage der Wirksamkeit der verschiedenen pädagogischen Handlungsformen allenfalls eine nachrangige Rolle spielen. Die Methodenzentrierung und Vernachlässigung pädagogischer Handlungskausalitäten führt dazu, dass viele Forschungsvorhaben nicht hinreichend zwischen Wirkungszusammenhängen in sozialen Bedingungs- und in pädagogischen Handlungsfeldern unterscheiden, sondern übersehen, dass die sozial- und kulturwissenschaftlich erforschbare Wirksamkeit von Bedingungsfeldern sich nicht unabhängig von den konkreten Handlungen entfaltet, deren Spielräume durch sie erweitert oder verengt werden können, und dass Handlungskausalitäten nicht unmittelbar aus Bedingungskausalitäten folgen, sondern diese auch korrigieren und verändern können.
Während nun qualitative Forschungsmethoden die Kausalitäten in Bedingungsfeldern z. B. im Anschluss an Bourdieu nach ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Kapitalsorten unterscheiden, korreliert die stärker statistisch arbeitende empirische ...
Erscheint lt. Verlag | 10.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8298-6 / 3779982986 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8298-2 / 9783779982982 |
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