Zwischen Repression und Widerstand (eBook)
256 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8271-5 (ISBN)
Hanne Balzer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Fachhochschule Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration, Integration und Exil.
1Einleitung
Am 22. Oktober 2022 gingen etwa 80.000 Menschen in Berlin auf die Straße und protestierten gegen das seit über 40 Jahren bestehende Regime der Islamischen Republik Iran. Darunter befanden sich unter anderem Exil-Iraner:innen, die im Rahmen der sogenannten Islamischen Revolution in den 80er- und 90er-Jahren nach Deutschland geflüchtet sind. Diese Menschen kämpften im Iran für Demokratie und ein Leben in Freiheit und mussten ihr Herkunftsland letztendlich verlassen, um ihr Leben zu schützen. Auslöser für die Demonstration in Berlin waren die fortbestehenden Menschenrechtsverletzungen durch das iranische Regime, gegen die die Menschen im Iran auch heute noch protestieren und dabei ihr Leben riskieren. Mit Repressalien und politischer Verfolgung in Form von Gewalt, Haft, Folter und Hinrichtungen gegen die Menschen, die sich gegen das iranische Regime stellen, möchte das Regime seine Macht aufrechterhalten. Die ursprüngliche Iranische Revolution von 1979 wird von vielen Exil-Iraner:innen als unvollendet betrachtet, sodass sie ihren Widerstand gegen das iranische Regime im Exil fortsetzen. Die anhaltenden Demonstrationen im Iran, die im September 2022 aufgrund des Todes einer jungen Frau nach Polizeigewahrsam ausgelöst wurden, die vermeintlich gegen die islamische Kleiderordnung verstieß, werden von vielen ebenfalls als Revolution betrachtet, mit der ein politischer Systemwechsel erreicht werden soll. Die Proteste, die unter der verbindenden Parole Frau, Leben, Freiheit laufen, werden durch das iranische Regime brutal niedergeschlagen, was die Menschen aus unterschiedlichen sozialen, politischen, religiösen und ethnisierten Gruppen der Gesellschaft allerdings nicht daran hindert, weiter zu protestieren, denn sie haben „nichts mehr zu verlieren“ (Amiri 2022).
Politische Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen finden nicht nur in Staaten wie dem Iran, sondern fanden auch in sozialistischen Staaten wie der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) statt. Die Menschen protestierten vor über 30 Jahren gegen das Regime der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED), das sie in ihren Freiheitsrechten einschränkte, und waren mit Repressalien und politischer Verfolgung in Form von Zersetzung, Gewalt, Haft, Folter und Hinrichtungen konfrontiert. Im Jahr 1989 mündeten viele vorausgehende Demonstrationen und Proteste gegen das SED-Regime, die durch wirtschaftlichen und politischen Druck sowie Solidaritätsbekundungen aus dem Ausland unterstützt wurden, in der Friedlichen Revolution und im Jahr 1990 schließlich im Zusammenbruch der DDR. Auch wenn die DDR nicht mehr existiert und die Menschen nicht mehr mit politischer Verfolgung konfrontiert werden, leiden die Betroffenen und die nachfolgenden Generationen mitunter bis heute unter den Folgen dieser Unrechtserfahrungen.
Durch Widerstand und Protest gegen das Regime wird ein politischer Systemwechsel angesteuert. Dieser Widerstand ist Ausdruck eines Strebens nach Gerechtigkeit sowie einem Leben in Freiheit und verdeutlicht ihre Bereitschaft, für ihre Rechte einzustehen – ungeachtet der damit verbundenen Risiken wie Haft, Folter und Hinrichtungen. Die Betroffenen aus dem Iran und der DDR waren in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Einsatzes für Demokratie und Menschenrechte politischer Verfolgung und Einschränkungen in ihren Freiheiten ausgesetzt. Durch die Machtübernahme der islamischen Regierung im Jahr 1979 kann die Iranische Revolution als unvollendet betrachtet werden, da die Forderungen der Widerstandsleistenden nicht erfüllt wurden. Daher setzen viele politisch Verfolgte aus dem Iran, die im deutschen Exil leben, ihre Anstrengungen für eine Verbesserung der politischen Lage im Iran fort. Im Gegensatz dazu werden die Proteste der politisch Verfolgten aus der DDR aufgrund der Auflösung des SED-Regimes als erfolgreich betrachtet. Dies führt zu unterschiedlichen Herausforderungen für Betroffene aus dem Iran und der DDR, denn während die Exil-Iraner:innen weiterhin mit politischer Verfolgung und Unterdrückung in ihrem Herkunftsland konfrontiert werden und in Deutschland dagegen demonstrieren, haben jene aus der DDR eine gewisse Freiheit und Rechte erlangt.
In der vorliegenden qualitativen empirischen Forschungsarbeit werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von politisch Verfolgten aus der DDR und dem Iran, die im Rahmen der Islamischen Revolution nach Deutschland gekommen sind, untersucht. In ihren Herkunftsländern waren beide Gruppen aufgrund ihres Widerstands gegen das Regime von verschiedenen Formen der politischen Verfolgung betroffen und dadurch gezwungen, ins Exil zu fliehen, um ihr Leben zu schützen. Eine Flucht im Kontext von politischer Verfolgung war für viele Betroffene aus der DDR aufgrund der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 nicht mehr notwendig. Die Betroffenen aus dem Iran und der DDR mussten sich in Deutschland an ein neues politisches System anpassen, was eine Herausforderung darstellen konnte. Die Unrechtserfahrungen führten oftmals zu psychischen Beschwerden, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen können. Diese Beschwerden können sich auch in einer transgenerationalen Weitergabe von Traumata auf die nachfolgenden Generationen übertragen, weshalb die Nachkommen in dieser Untersuchung ebenfalls berücksichtigt werden. Diese Gemeinsamkeiten zeigen, dass politisch Verfolgte aus unterschiedlichen Ländern ähnliche Erfahrungen und Herausforderungen teilen können, die ihre Unrechtserfahrungen und ihr Leben im Aufnahmeland betreffen, die sich in ihrer Lebenslage widerspiegeln können. Die politisch Verfolgten aus dem Iran und der DDR, die in dieser Untersuchung betrachtet werden, leben seit ungefähr 30 bis 40 Jahren in Deutschland. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass das iranische Regime weiterhin an der Macht ist, wohingegen das SED-Regime nicht mehr existiert. Daraus resultiert die Forschungsfrage, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit politischer Verfolgung sich bei in der heutigen Bundesrepublik lebenden Betroffenen und ihren Nachkommen aus dem Iran und der DDR identifizieren lassen. Darüber hinaus interessiert, welche Umgangsweisen mit den Unrechtserfahrungen sich bei politisch Verfolgten und der nachfolgenden Generation vor dem Hintergrund der wahrgenommenen Voraussetzungen im Aufnahmeland zeigen.
Zur Beantwortung der forschungsleitenden Fragen wird im Theorieteil (Kapitel 2) zunächst das Phänomen der politischen Verfolgung (Kapitel 2.1) erläutert und die politischen Entwicklungen im Iran seit der Islamischen Revolution (Kapitel 2.1.1) und der DDR bis zur Wiedervereinigung (Kapitel 2.1.2) dargestellt. Die politischen Entwicklungen dienen vor allem als Kontextinformationen, um die Erfahrungen der Menschen mit politischer Verfolgung in ihrem Herkunftsland einordnen zu können. Die rechtlichen Grundlagen zur politischen Verfolgung (Kapitel 2.2) werden in Form des Wandels des Asylrechts in Deutschland (Kapitel 2.2.1) und der Novellierung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze (Kapitel 2.2.2) beschrieben, um die unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen in Deutschland darzulegen. Als theoretische Grundlagen der Untersuchung werden der Empowerment-Ansatz (Kapitel 2.3) sowie der Lebenslagenansatz und die Verwirklichungschancen (Kapitel 2.4) erläutert und in Bezug zum Forschungsthema gesetzt. Der Forschungsstand (Kapitel 2.5) umfasst empirische Ergebnisse zu den politisch Verfolgten aus dem Iran (Kapitel 2.5.1) und der DDR (Kapitel 2.5.2) sowie deren Nachkommen (Kapitel 2.5.3). Dabei werden die Lebenslagen und Umgangsweisen mit den Unrechtserfahrungen betrachtet sowie empirische Ergebnisse zum Engagement als Form von Empowerment von und für Geflüchtete dargestellt (Kapitel 2.5.4). Abgeschlossen wird der Theorieteil mit der Herleitung der Forschungsfrage (Kapitel 2.6).
Im Methodenteil (Kapitel 3) wird zunächst das Forschungsdesign (Kapitel 3.1) erläutert, bei dem es sich um eine Vergleichsstudie mit retrospektiver Perspektive handelt. Anschließend werden die methodischen Vorgehensweisen der Datenerhebung (Kapitel 3.2) sowie der Datenauswertung (Kapitel 3.3) der Untersuchung vorgestellt. Zur Datenerhebung wurden Expert:inneninterviews (Kapitel 3.2.1) und biografisch orientierte Leitfadeninterviews mit Betroffenen und ihren Nachkommen (Kapitel 3.2.2) geführt, wodurch die Perspektivenvielfalt dieser Untersuchung ermöglicht werden soll. Die verwendeten Methoden werden jeweils mit der Samplingstrategie, dem Sample, dem Feldzugang, der Entwicklung der Leitfäden ...
Erscheint lt. Verlag | 10.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8271-4 / 3779982714 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8271-5 / 9783779982715 |
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