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Wie wir uns Rassismus beibringen (eBook)

Eine Analyse deutscher Debatten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
464 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-492020-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wie wir uns Rassismus beibringen -  Gilda Sahebi
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Eine längst überfällige Betrachtung rassistischen Denkens in Deutschland Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin Gilda Sahebi zeigt in ihrer klaren Analyse: Wir alle denken rassistisch. Mit Extremismus hat das nichts zu tun. Sondern es ist Konsequenz politischer und gesellschaftlicher Strukturen, die unser Denken und unser Handeln formen. Wo Mehrheits- und Minderheitsgesellschaften aufeinandertreffen, bilden sich fast zwangsläufig rassistische Denkmuster und Strukturen - außer man steuert bewusst dagegen. In Deutschland tut man das nicht. Der Rassismus-»Vorwurf«: Er wird abgetan. Lieber empört man sich, als eine ernsthafte Debatte zu führen und tatsächliche Probleme zu lösen. Gilda Sahebi analysiert die Spezifika des deutschen Rassismus. Dafür blickt sie zurück bis ins Deutsche Kaiserreich und verfolgt die roten Fäden rassistischen Denkens, die sich von damals bis in die Debatten unserer Gegenwart - etwa um die Staatsbürgerschaft, den Nahostkonflikt oder Migration - ziehen. Sie zeigt, wie wir rassistische und spaltende Narrative stetig weitertragen, uns Rassismus immer wieder beibringen - und damit die Demokratie gefährden.

Gilda Sahebi, im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen, ist ausgebildete Ärztin und studierte Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet als freie Journalistin mit den Schwerpunkten Antisemi- tismus und Rassismus, Frauenrechte, Naher Osten und Wissenschaft. Sie ist Autorin für die »taz« und den »Spiegel« und arbeitet unter anderem für die ARD. Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini und der darauf folgenden Protestbewegung berichtet sie unermüdlich über die Geschehnisse im Iran. Über ihre Social-Media-Kanäle und als Gesprächspartnerin in diversen Talkshows erklärt sie und ordnet ein. Damit zählt sie zu den wichtigen Stimmen über den Iran. Der »Focus« ernannte sie 2022 zu einer der »100 Frauen des Jahres«, das »Medium Magazin« zur Journalistin des Jahres in der Rubrik Politik. Gilda Sahebi lebt in Berlin.

Gilda Sahebi, im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen, ist ausgebildete Ärztin und studierte Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet als freie Journalistin mit den Schwerpunkten Antisemi- tismus und Rassismus, Frauenrechte, Naher Osten und Wissenschaft. Sie ist Autorin für die »taz« und den »Spiegel« und arbeitet unter anderem für die ARD. Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini und der darauf folgenden Protestbewegung berichtet sie unermüdlich über die Geschehnisse im Iran. Über ihre Social-Media-Kanäle und als Gesprächspartnerin in diversen Talkshows erklärt sie und ordnet ein. Damit zählt sie zu den wichtigen Stimmen über den Iran. Der »Focus« ernannte sie 2022 zu einer der »100 Frauen des Jahres«, das »Medium Magazin« zur Journalistin des Jahres in der Rubrik Politik. Gilda Sahebi lebt in Berlin.

Sahebi geht dabei so klug mit den Dynamiken der hiesigen Rassismus-Debatte um, dass sie deren oft toxische Logik entkräftet.

Wer verstehen möchte, warum wir uns mit dem Thema Rassismus in Deutschland so schwer tun (...), dem sei dieses Buch wärmstens ans Herz gelegt.

Wer Sahebis Werk liest, wird die deutsche Migrationsdebatte dann durch eine neue Brille betrachten.(...) Das Ergebnis ist eine beeindruckende und akribisch recherchierte Analyse. Absolut empfehlenswert.

ein eindringliches, immer wieder konfrontatives, zugleich aber auch nüchternes und vor allem komplexes Buch

Die »polnische Frage«


Zurück zum Kaiserreich und der Migration. Die meisten Migrant:innen um die Jahrhundertwende kamen aus Osteuropa, und hier vor allem aus Polen. Somit war die »polnische Frage« zentral für die rassistische Agitation um die Jahrhundertwende. Die »polnische Frage« beschäftigte Europa schon seit Jahrzehnten, da das Land ein ständiger Spielball der europäischen Großmächte war. Ohne zu sehr in historische Details zu gehen: Polen existierte vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs nicht als autonomer Staat. Es wurde mehrfach aufgeteilt, seine Territorien – und damit auch seine Bevölkerung – fielen Preußen, Österreich und Russland zu. Mit der Reichsgründung 1871 geschah es also, dass ein Teil der polnischsprachigen Bevölkerung Preußens Teil des Deutschen Reichs wurde. Damals setzte ein, was in heutigen Ohren nicht fremd klingt: Den Deutschen wurden es zu viele Polen. In der Öffentlichkeit wurde die Angst vor dem Verlust des »Deutschtums« propagiert. In einem vielbeachteten Text schrieb der Philosoph Eduard von Hartmann in einer Wochenschrift im Jahr 1885:

»Wenn die Slawen das Deutschthum in ihren Grenzen ausrotten, so müssen wir Repressalien üben, d.h. das Slawentum in unseren Grenzen ausrotten, wenn nicht der Einfluß des Deutschthums in der Geschichte der Naturvölker beträchtlich sinken soll.«[1]

Menschen aus Osteuropa als minderwertig zu betrachten, war für europäische Gesellschaften im Übrigen nichts Neues: Der Sklavenhandel in Europa war jahrhundertelang vom Handel mit weißen Menschen geprägt, oft aus Osteuropa. Sklave, im Englischen slave, im Lateinischen sclavus, meint eine Person slawischen Ursprungs.[2] Ein Beispiel: Von 921 versklavten Menschen, die zwischen 1390 und 1490 im italienischen Genua verkauft wurden, waren 215 russisch, 179 tscherkessisch und 138 tartarisch. Die »Minderwertigkeit« von Ethnien war nie etwas anderes als ein rassistisches Konstrukt – das mit dem Wandel der Zeit immer wieder andere Gruppen traf und trifft.

Die Angst vor dem Verlust des Deutschthums (was auch immer das genau sein soll, gleiches Problem wie bei »Leitkultur«) stand allerdings nicht im Verhältnis zur tatsächlichen demographischen Entwicklung der polnischsprachigen Bevölkerung im Vergleich zur deutschen Bevölkerung. Das »Deutschtum« war in keiner Zeit in Gefahr. Der Historiker Peter Walkenhorst schreibt dazu, dass dieses »Syndrom der Polonisierungsangst« erst verständlich werde, wenn man die »Verbindung der innerhalb des deutschen Bildungs- und Besitzbürgertums tief verwurzelten Überzeugung von der kulturellen Überlegenheit des deutschen Volkes mit der Zielutopie eines ethnisch und kulturell homogenen Nationalstaates«[3] beachte. Man kommt nicht umhin, an die spätestens seit 9/11 verbreitete »Islamisierungsangst« zu denken. Oder auch an den modernen Verschwörungsmythos der »Umvolkung«, demzufolge die weiße, deutsche Bevölkerung durch Muslim:innen ersetzt werden soll. Die geschichtlichen Umstände sind natürlich andere; die zugrunde liegenden rassistischen Muster sind dieselben.

Als beispielsweise in Deutschland in den 1970er Jahren Moscheen eröffnet wurden, gab es ähnlich klingenden Protest. Dieser richtete sich nicht gegen Pol:innen, sondern gegen Muslim:innen, zumeist aus der Türkei. In Bayern erhielten Politiker:innen zu jener Zeit viele Briefe von Bürger:innen, die forderten, dass »Deutschland den Deutschen« gehören müsse. »Rentner und Arbeitslose demonstrierten gegen Ausländer, ebenso wie eine Gruppe […] Professoren, die davor warnte, dass die Immigration zur ›Unterwanderung des deutschen Volkes‹ führe«[4], so beschreibt der Historiker Frank Trentmann die Stimmung in seinem Werk Aufbruch des Gewissens.

Das Problem ist, heute wie damals, dass solche Rassismen politisch und medial mindestens verstärkt, in Teilen sogar erzeugt – und im Sinne der Herrschaftsideologie instrumentalisiert – werden. Sicherlich hat nicht die Mehrheit der heutigen weißdeutschen Bevölkerung die »Zielutopie eines ethnisch und kulturell homogenen Nationalstaats«, wenn man diese Aussage als Kern menschenfeindlicher Ideologien interpretiert. In Deutschland ist es heute eine Minderheit der Bevölkerung, die menschenfeindlichen Ideologien umfassend zustimmt. Aber Politiker:innen und Medienschaffende knüpfen immer wieder gerne an bestehende rassistische Denkmuster an. Damit füttern sie rassistische Einstellungen, adeln sie dadurch – und rollen ihnen damit gewissermaßen den roten Teppich aus. Das wird landläufig als die »Normalisierung« menschenfeindlicher Einstellungen bezeichnet.

Ein Beispiel: Gehört der Islam zu Deutschland? Die Antwort auf die Frage, ob der Islam religionsphilosophisch oder historisch zu Deutschland gehört, ist für die politische und gesellschaftliche Praxis genauso irrelevant wie die Antwort auf die Frage, was genau die »deutsche Leitkultur« ist. Natürlich kann man der Frage nach der Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland religionswissenschaftlich, historisch, philosophisch nachgehen. Das ist sicher ein interessantes und auch erkenntnisreiches Unterfangen. Die Antwort ändert allerdings nichts daran, dass Muslim:innen in diesem Land leben. Eine ernsthafte Antwort wünscht keine Person, die diese Frage stellt. Dennoch taucht sie immer wieder auf. Sie dient dazu, die altbekannte Angst vor Verlust des »Deutschtums« zu schüren. Um es klar zu sagen: Das »Deutschtum« ist durch Muslim:innen heute genauso wenig bedroht wie einst durch Pol:innen oder Slaw:innen. Der mediale und politische Mechanismus ist allerdings derselbe. Sowohl »das Volk« als auch »die Rasse« sind nichts anderes als Konstrukte. Da es aber im 21. Jahrhundert heikel wäre, eine Sprache wie jene von Eduard von Hartmann aus dem Jahr 1885 offen zu benutzen (»Deutschthum«), werden Umgehungsstraßen gesucht. »Gehört der Islam zu Deutschland?« ist eine davon. Wo sie hinführen soll, ist klar: in eine auf menschenfeindlichen Vorurteilen basierende Politik.

Zurück ins 19. Jahrhundert: Der Soziologe Max Weber gehörte ebenfalls zu jenen, die vor der »polnischen Gefahr« warnten. Im Jahr 1892 veröffentlichte er seine Studie Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland; darin formulierte er eine »Verdrängungsthese«, nach der deutsche Abwanderung aus den östlichen Landesteilen eine Folge von niedrigen Löhnen für polnische Arbeiter:innen sei. Max Weber, schreibt die Historikerin Maria Alexopoulou, habe eine »entscheidende Rolle bei der Verbreitung der These von der Gefahr aus dem Osten« gespielt. Die beschriebene Abwanderung von Deutschen aus dem Osten als vermeintlicher Folge der Einwanderung von Pol:innen wertete Weber demnach als »essentielle kulturelle Gefahr«. Auch für ihn war dies eine »Existenzfrage des Deutschtums«[5]. Weber forderte, dass die östlichen Grenzen für polnische Wanderarbeiter vollständig gesperrt werden sollten. Eine Forderung, die stark an die modernen Migrationsdebatten erinnert, in denen eine der ersten »Lösungen« oft heißt: Grenzen zu.

Der Historiker Heinrich von Treitschke stellte die These der kulturellen Gefahr bereits in seinem Essay Unsere Aussichten im Jahr 1879 auf und betrieb zugleich die Verschränkung von (antislawischem) Rassismus und Antisemitismus; so habe der »Instinkt der Massen eine schwere Gefahr, einen hochbedenklichen Schaden des neuen deutschen Lebens richtig erkannt«. Treitschke meint die »deutsche Judenfrage«: Über die Ostgrenze kämen jedes Jahr »aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar […] Jünglinge, deren Kinder und Kindeskinder vereint Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen«[6].

Die öffentliche und politische Agitation gegen Pol:innen und das Schüren der »Polnisierungsangst« bestimmten die Debatte. Diese Angst, schreibt Peter Walkenhorst, fand »sprachlichen Ausdruck in einer Metaphorik, die den demographischen Prozeß mit einer gewaltigen Naturkatastrophe verglich. Der Topos von der ›slawischen Flut‹, die alle Dämme niederriß und das ›Deutschtum‹ überschwemmte, bildete einen allgegenwärtigen Bestandteil nicht nur der radikalnationalistischen Agitation. Die Verwendung dieser Flutmetaphorik zielte auf die Evokation tiefsitzender Bedrohungsängste, durch die die deutsche Öffentlichkeit wachgerüttelt werden sollte.«[7] Diese sprachliche Eskalation ging einher mit politischer Eskalation. Zwischen 1885 und 1887 wurden bis zu 32000 polnischstämmige Menschen mit russischer oder österreichischer Staatsbürgerschaft aus den östlichen Gebieten ausgewiesen. In Teilen waren sie schon seit Jahrzehnten in diesen Regionen ansässig. Es ging Otto von Bismarck, dem Reichskanzler, der die Massenausweisungen anwies, vordergründig nicht nur um den demographischen Faktor, also das vermeintliche Problem der Verdrängung von Deutschen aus den östlichen Gebieten. Hauptsächlich waren die Ausweisungen Teil von Bismarcks Germanisierungspolitik, im Zuge derer jegliche »propolnische Agitation«[8] ausgelöscht werden sollte.

Die Flutmetaphorik, die Beschreibung von Menschen als Naturkatastrophe, ist eines der gängigsten Motive deutscher (und nicht nur deutscher) Debatten, in denen es um Migration oder »Ausländer« geht. Eine Naturkatastrophe ist bedrohlich, ist nicht zu kontrollieren, hinterlässt Verwüstung und Tod. Begleitet wird diese Rhetorik heute von Bildern überfüllter Boote oder...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • Antisemitismus • Asyl-Debatte • Aufenthaltsstatus • Blutsrecht • Bodenrecht • cancel culture • Deutsches Kaiserreich • Diskriminierung • Doppelte Staatsbürgerschaft • Einwanderungsland • Extremismus • Flucht • Gastarbeiter • Ius sanguinis • Ius soli • Migration • Nahostkonflikt • Nation • Neonazis • Populismus • Postkolonialismus • "Remigration" • Staatsangehörigkeit • Unser Schwert ist Liebe • Volk
ISBN-10 3-10-492020-6 / 3104920206
ISBN-13 978-3-10-492020-7 / 9783104920207
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