Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat (eBook)
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28033-5 (ISBN)
Drei Freundinnen, ein Küchentisch, vor den Fenstern die Nacht: Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann reden. Über sich als 'Ostfrauen', was auch immer diese Schublade bedeutet, über das Glück krummer Lebensläufe, über die Gegenwart mit ihrer sich ständig reindrängelnden Vergangenheit. Es wird getrunken, gelacht und gerungen, es geht um Erinnerungsfetzen und Widersprüche, um die Vielschichtigkeit von Prägungen und um mit den Jahren fremd gewordene Ideale. Im japanischen Volksglauben gibt es Geister, die aus achtlos weggeworfenen Dingen geboren werden - 'wie sähe der Dinggeist der DDR aus?', fragen die drei. Ihr Buch ist dem Erinnern und dem Sich-neu-Erfinden gegenüber so gewitzt und warmherzig, wie es jede große Gesellschaftsdiskussion verdient.
Annett Gröschner, geboren 1964 in Magdeburg, lebt seit 1983 in Berlin und ist Schriftstellerin und Journalistin. 2021 erhielt sie den Großen Kunstpreis Berlin - Fontanepreis und den Klopstock-Preis des Landes Sachsen-Anhalt.
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NACHT 1
VORWORT ODER DAS KLISCHEE DER OSTFRAUEN, DAS WIR SELBER SIND
Wir sollen uns die Nächte um die Ohren schlagen und über den idealen Staat nachdenken. So weit der Auftrag und das Klischee. Die Ostfrau, die mit Wodka und Zigarette in der Hand nächtelang in der Küche über Ideal(e) und Wirklichkeit(en) fabuliert, während sich der Abwasch türmt, die Waschmaschine rumpelt und die Kinder Alpträume haben. Aber trinken wir wirklich Wodka? Oder den Eierlikör aus dem von unseren Müttern aus dem Chemielabor geklauten Primasprit? Rotkäppchensekt? Haben wir bei Lidl Champagner gekauft, weil er gerade billiger ist als Butter? Heutige Aufgabe: Die unattraktive Minderheit mit Hilfe der Ostfrau eine Nacht lang schönsaufen.
Drei Frauen lehnen an der Brüstung eines Balkons in der achten Etage eines Berliner Plattenbaus, mit Blick auf den Luisenstädtischen Kanal. Sie sind nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. An ihrem Habitus werden sie früher oder später als Ostdeutsche erkennbar sein. Oder sich selbst zu erkennen geben. Der Kanal war vor 1989 ein Sandhügel im Grenzstreifen, darauf ein Wachturm. Hier zu wohnen galt als Privileg, der Erstbezug, wie die ersten Mieter*innen einer Plattenbauwohnung genannt wurden, durfte beim Feierabendbier über die Mauer hinweg in den Westen schauen. Vierunddreißig Jahre später schauen wir einfach nur nach Kreuzberg rüber. Wir gehören zu jenen, die noch wissen, wo die Mauer verlief*1 und dass die, die einst in diesem Plattenbau wohnten, nicht zu den Normalsterblichen gehörten. Die Normalsterblichen, das waren und sind die weniger Privilegierten. Die kamen erst in den Neunzigern hierher, plötzlich galt das Viertel als Gegend für Loser, angesagt waren die Gründerzeithäuser gegenüber in Kreuzberg oder im Prenzlauer Berg. Wenke ist vor zehn Jahren hierhergezogen, gerade noch rechtzeitig. Denn inzwischen hat die Platte wieder Wartelisten, für all jene, die keine bezahlbare Wohnung im Zentrum finden können.
Wenke trinkt manchmal ein Bier nach Feierabend, wobei wir uns nicht sicher sind, ob es sowas wie Feierabend überhaupt noch gibt. Oder jemals gab. Nach Arbeitsschluss trugen unsere Mütter den Einkauf in Netzen nach Hause, versorgten die Kinder und legten sie schlafen, schleuderten die Wäsche, die Väter machten den Abwasch oder brachten den Müll raus. Dann vor dem Schlafengehen noch ein letztes Bier. Auf dem Balkon. Oder auf dem Sofa im Wohnzimmer.
PEGGY Unser Wohnzimmer mit Schrankwand und Couchgarnitur befand sich im Erdgeschoss eines Hauses, das mitten auf dem Betriebsgelände des VEB Energiekombinats Dresden stand. 2012 wurde es abgerissen. Die Wohnung hatte 60 Quadratmeter. Ringsherum: Kabeltrommeln, Werkhallen, Schornsteine, eine Krananlage. Vor dem Haus: ein Streifen Garten mit Flieder, Birke, Sandkasten und Schaukel.
ANNETT In meiner Familie trank meine Mutter das Bier. Die gesamten 60 Jahre ihrer Ehe hat der Kellner, die Serviererin und später die Servicekraft das Bier ungefragt meinem Vater hingestellt und das alkoholfreie Erfrischungsgetränk meiner Mutter.
WENKE Wir waren Erstbezug. Zweieinhalb Zimmer auf 55 Quadratmetern, im fünften Stock mit direktem Blick auf die Warnowwerft in Warnemünde. Fernheizung und Balkon, Badewanne, Herd, Spüle und ein Küchenschrank gehörten zur Standardausstattung. Genauso wie die drei verschiedenen Tapeten mit unterschiedlich großen Blumenmustern in variierenden Farbkombinationen aus Beige, Gelb, Orange und Braun, die über die Jahre durch Raufaser ersetzt wurden. Ich hatte ein eigenes Zimmer.
ANNETT Ich hatte kein eigenes Zimmer. Wenn ich heute meinen Vater in der Hochhauswohnung mit Blick auf die Elbe besuche, dann frage ich mich, wie wir zu viert in die winzige Wohnung gepasst haben. Man kam ja schon im Flur nicht aneinander vorbei. Der Zaubertrick war: Wir haben uns in der Wohnung, bis auf das Wochenende, fast nur zum Schlafen aufgehalten. Noch dazu waren wir eine Familie von Nachteulen. Meine Eltern sind gerne abends weggegangen. Und wir Kinder waren immer mit irgendwas außerhalb beschäftigt. Wenn ich heute nachts auf der anderen Elbseite stehe und das Hochhaus sehe, ist hinter genau drei Fenstern Licht, in der Wohnung meiner Eltern. Alle anderen im Haus schlafen längst.
Meine Eltern hatten kein Schlafzimmer, sondern einen mit Hellerau-Möbeln*2 bestückten Raum mit zwei übereck gestellten Schlafsofas. Eltern ohne Ehebett waren schlimmer als getrennte Eltern. Wenn mein Vater in den Sechzigerjahren mit dem Kinderwagen über die Elbinsel ging, wurde er gefragt, ob seine Frau verstorben sei.
PEGGY Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Kinderzimmer und sogar ein Bad — das ist ein Traum. Für meine Mutter, die im Heim aufgewachsen ist.
ANNETT Für meine Mutter mit sechs Geschwistern in drei Räumen war erstmal alles wie ein Traum. Aber dann brannte ihr dauernd das Essen an, weil die Töpfe so klein waren. Sie war das Kochen für eine Großfamilie gewohnt. Meine Mutter kochte, mein Vater machte alles andere an Hausarbeit.
PEGGY Meine Eltern können nicht kochen und vertrauten auf die Schulspeisung. Ich vertraue heute ebenfalls wieder auf die Schulspeisung, auch wenn ich weiß, dass sie schlecht ist.
WENKE Meine Tochter hat das Schulessen irgendwann stillschweigend durch YumYum-Instantnudeln ersetzt. Und was ist mit den anderen Arbeiten?
PEGGY Einkäufe, Abwasch, Putzen, Wäsche erledigt zu 80 Prozent mein Mann. Wie das klingt: mein Mann. Aber was klingt besser? Friend, lover and father of our daughter, mit dem ich verheiratet bin?
ANNETT Peggy, wieso Englisch?
PEGGY Na wegen des Klangs. Egal. Der Gefährte würde sagen: Es sind 90 Prozent. Das war eigentlich mit allen meinen Mitbewohnern so. Wenn ich mit Frauen den Alltag teile, gebe ich mir mehr Mühe. Jetzt schäme ich mich ein bisschen. Das ist eigentlich keine Gleichbehandlung, und meine Scham ist auch nicht feministisch.
ANNETT Zu Hausarbeiten habe ich ein lumpenproletarisches Verhältnis.
WENKE Manchmal entspannt mich Hausarbeit, aber meistens nicht.
An den Wänden von Wenkes Wohnung sind keine Tapeten, der raue Beton ist glatt gewachst. Viele Regale mit Büchern. Fotobände. Ein schmales Sofa. Ein Sideboard. Ein runder Holztisch. Wenke hat gekocht (Ofengemüse und Salat) und es perlt in unseren Gläsern. Peggy wollte im Lidl Champagner kaufen, dann gab es aber nur Crémant. Die erste Flasche ist schon fast leer. Im Plattenbau gegenüber leuchten die Fenster in verschiedenen Farben. Gelb, rot, lila. Violette Neonleuchten waren einst der Hit. In Dresden, Magdeburg oder Rostock. Angeblich wachsen Kakteen unter lila Licht besser, wir haben das nie nachgeprüft. Und unsere Mütter haben übrigens nie geraucht (höchstens mal eine Zigarette unter Freundinnen), wir dafür um so mehr. Annett und Peggy haben inzwischen wieder aufgehört.
PEGGY Warum haben wir überhaupt damit angefangen?
ANNETT Vielleicht war es Trotz. Es war mein erstes Silvester in Berlin, 1983. Ich war an dem Abend in der Wohnung der Geliebten*3 von Ekkehard Schall, die bis nach Mitternacht auf ihn warten musste, weil er erst mal Silvester mit seiner Frau gefeiert hat. An dem Abend nahmen sich fast alle Gäste vor, mit dem Rauchen aufzuhören. Da habe ich gedacht: Och nö, dann fang ich mal an. Ich war die Einzige, die ihren Vorsatz eingelöst hat. In Berlin war es wenigstens kein Problem, Zigaretten zu bekommen. In Schönebeck*4, wo ich vorher wohnte, bist du meistens vergeblich durch die ganze Stadt gefahren, ...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Anekdote • Berlin • Biermann • Bildteil • Biographie • Brandenburg • Demokratie • Demokratieverständnis • Eltern • Empathie • Erinnerung • Erinnerungspolitik • Familie • Familienpolitik • Feminismus • Feministin • Fotografie • Fotografien • Gesellschaft • Gesellschaftsdiskussion • Gespräch • Geuss • Heidenreich • Heimat • Historie • History • Hoyer • Identitätspolitik • Industrieruine • Interview • Kolonialismus • Liebe • Mecklenburg-Vorpommern • Nazis • Neonazis • Nostalgie • Oral • Oschmann • Oskamp • Ostalgie • Ostdeutschland • Osten • Ostfrau • Ostpolitik • Papenfuss • Politik • Populismus • Privileg • Rabe • Rassismus • Rechtsextremismus • Sachsen • Sachsen-Anhalt • Schubert • Schulze • Sexualpolitik • Sozialismus • Thüringen • Trabi • Treuhand • Warmherzigkeit • Wendejahre • Westdeutsch • Wiedervereinigung • Zeit • zonenkinder |
ISBN-10 | 3-446-28033-2 / 3446280332 |
ISBN-13 | 978-3-446-28033-5 / 9783446280335 |
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