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Großonkel Pauls Geigenbogen (eBook)

Die Familiengeschichte eines preußischen Sinto
eBook Download: EPUB
2024
384 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-30238-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Großonkel Pauls Geigenbogen - Alexandra Senfft, Romeo Franz
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Das berührende Memoir einer preußischen Sinti-Familie
Seit mehr als 600 Jahren leben Sinti in Deutschland, Roma seit 200 Jahren. Ihre Kultur reicht viele Jahrhunderte zurück und ist tief mit der deutschen Historie verwoben. Anfangs noch als Handwerker, Künstler und Kaufleute hochgeachtet, wurden sie schon bald systematisch aus der Gesellschaft ausgeschlossen und verfolgt. Bis heute halten sich diskriminierende Stereotype und starke Vorurteile gegenüber der größten Minderheit Europas. Der preußische Sinto Romeo Franz kämpft seit Jahrzehnten für die Rechte von Sinti und Roma. In »Großonkel Pauls Geigenbogen« erzählt er seine beeindruckende deutsche Familiengeschichte. Wohl situiert, waren seine Ahnen bereits im 17. Jahrhundert ansässig in Preußen, Schlesien und Pommern und prägten dort die kulturelle und kaufmännische Welt. Mitreißend erzählt Franz die Chronik seiner Familie vom 19. Jahrhundert bis heute. Schillernde Charaktere und außergewöhnliche Schicksale treten ans Licht - aber auch die Erinnerungen an Ausgrenzung, Abwertung im Kaiserreich und schließlich die Vernichtung durch die Nazis.

Mit großem Stolz gibt er tiefe Einblicke in seine Herkunft und beleuchtet nicht nur die Bedeutung von Musik, Familie und Zusammenhalt, sondern auch die Folgen der fortgesetzten Verfolgung, die bis in die heutigen Generationen nachwirken. Romeo Franz' Geschichte ist ein bewegendes Plädoyer gegen Antiziganismus und eine Einladung zur Auseinandersetzung und zum Umdenken hin zu etwas ganz Selbstverständlichem: Gleichberechtigung.
https://www.book2look.com/book/fPujLHB5jU

Alexandra Senfft, geboren 1961 in Hamburg, ist Publizistin und Autorin. Seit 1994 schreibt sie regelmäßig für deutsche und internationale Medien. Für ihr Buch »Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte« (2007) über das NS-Erbe ihrer mütterlichen Familie erhielt Senfft den Deutschen Biografiepreis. Senfft ist stellvertretende Vorsitzende des Arbeitskreis für Intergenerationelle Folgen des Holocaust und Mitglied im Präsidium der Lagergemeinschaft Dachau. Sie lebt in Oberbayern und auf einer griechischen Insel. Online findet man sie unter: alexandra-senfft.de

1
Anglerglück


Romeo Franz und Familie (1976)

Die Ernte war prächtig: Fette Regenwürmer räkelten sich in der Kaffeedose, ineinander verschlungen zu einem glitschigen Knäuel. Die Würmer hatte ich an einem verregneten Abend auf unserem Sportplatz mit der Taschenlampe aus dem Boden gelockt und tagelang mit Kaffeesatz gepflegt. Nun waren sie schön dick, und ich konnte es kaum erwarten, zum Angeln aufzubrechen. Schon vor dem Einschlafen bereitete ich alles vor – Angel, Plastiktüte, Köder. »Petri Heil«, sagte Tate noch beim Einschlafen zu mir, und Mama deckte mich zu und gab mir einen Kuss. Meine Eltern beschützten mich gut, aber sie wussten auch, dass ich morgen einen Ausflug plante, und trauten mir das zu. Angesichts meines bevorstehenden Abenteuers dauerte es, bis ich einschlief.

Am Samstag wachte ich ohne Wecker mit den ersten Sonnenstrahlen auf, zog mich rasch an und machte mich auf die Socken. Ich schlich mich aus unserem Haus in der Spesbacher Talstraße, sachte, um niemanden zu wecken. Meine Eltern hatten es 1973 gebaut, wir besaßen auch einen Garten. Obwohl es hier sehr ländlich war, kam mir unser frisch gebautes Zuhause beeindruckend modern vor. Im unteren Stockwerk schliefen Großmutter Ursula und Onkel Peter, darüber ich mit meinen Eltern und meinem jüngeren Bruder. Unser Grundstück lag nahe dem Wald, doch um ihn zu erreichen, musste ich zunächst entlang der Talstraße an unseren Nachbarn vorbei zu einem Feldweg gelangen, an dessen Rand hohe Bäume standen. Eine lange Strecke führte mich quer durch den Wald; er duftete im Morgengrauen intensiv. Kühle, feuchte Luft stieg vom weichen Boden auf. Ich hörte nichts außer meinen eigenen Schritten, hie und da einen Vogel, eine Eule vielleicht.

Ich war zwar erst zehn Jahre alt, aber ich hatte keine Angst davor, allein unterwegs zu sein – hier auf dem Land fühlte sich alles sicher an. Für mich zu sein, war ich gewohnt. Ich war lediglich aufgeregt – es war die Vorfreude aufs Angeln. Frühmorgens beißen die Fische besonders gut an. Das hatte Tate mir beigebracht, der mir auch das Angeln zeigte. Mein Ziel waren die beiden Löschweiher, die die Feuerwehr einst nach einem Waldbrand angelegt hatte. Ich hatte sie auf einer meiner Fahrten mit Onkel Peter ins Kino nach Kaiserslautern von der Autobahn aus erblickt und später mit meinem Vater gefunden. Gemeinsam fischten wir dann unser Abendessen. Den Weg kannte ich deshalb bereits. Ich fühlte mich sehr erwachsen.

Jetzt unterquerte ich die Autobahn und bog links ab. Eine Pause kam nicht infrage, bloß keine Zeit verlieren. Nach einem weiteren Kilometer erreichte ich die Teiche. Fast zu hastig bestückte ich den Haken mit dem ersten Regenwurm und warf ihn weit aus. Der Schwimmer wippte auf dem Wasser, ich setzte mich an die Böschung und wartete. Leise summte ich eine Melodie vor mich hin. Es dauerte nicht lange, da bewegte sich der Schwimmer, die Schnur zuckte, ich griff die Angel fester. Nun kurbelte ich an der Rolle und zog, kurbelte aufs Neue, holte ein und zog wieder. Eine zappelnde Forelle durchbrach die Wasseroberfläche: Was für ein Brocken! Mit einer leichten Schleuderbewegung beförderte ich sie an Land. Meine Freude war unfassbar. Das Tier schaute mich mit großen Augen an, einen Augenblick zögerte ich, bevor ich es mit einem Schlag auf den Kopf erledigte, »waidgerecht« würde Tate sagen.

Nun fädelte ich die Forelle an einem Ast auf und hängte diesen in den Busch neben mir. Da baumelte sie nun, meine Beute. Ein Fisch allein reichte für meine Familie nicht – das war erst der Anfang, und ich übte mich in Geduld. »Wenn man sein Ziel entschlossen verfolgt, zahlt sich das Warten meist aus, ein echter Angler braucht Gelassenheit.« Tate sagte immer, das sei auch sonst im Leben eine nützliche Eigenschaft. In der Dose hob ein Regenwurm sein Haupt, ich spießte ihn auf, und ab ins Wasser mit dem Haken! Drei Stunden später, die Sonne wärmte mittlerweile meinen Rücken mit kräftigen Strahlen, war ich mit meinem Fang zufrieden. Meine Geduld hatte sich ausgezahlt. Ich packte meine Siebensachen und wanderte die drei Kilometer nach Hause zurück – die Forellen am Ast trug ich wie eine Trophäe auf meiner Schulter.

Als Erstes ging ich zu Großmutter Ursula, die ich »Mami« – mit einem lang gezogenen a – nannte. Mein Herz klopfte, ich war mächtig stolz. Sie empfing mich in der Küche in ihrer blau geblümten Kittelschürze, unter der sie Bluse und Rock trug. Diesen Kittel, der in meinen Augen so typisch für die 1970er-Jahre war, trug sie fast ständig, um sich beim Kochen und Werkeln nicht schmutzig zu machen. Sie blickte erst mich an, dann über meine Schulter auf den Ast mit seinem fischigen Schmuck, der bald im Kühlschrank landen würde. »Mein Junge, die schönen Forellen, ach, wie sind die schön!«, rief sie entzückt. Sie fragte mich gar nicht, woher ich die Fische hatte oder wie weit ich dafür gelaufen sein könnte, als wäre es das Normalste der Welt, dass ein Kind allein im Morgengrauen angeln geht. Ich nahm die größte Forelle vom Ast und überreichte sie ihr feierlich. Sie nahm das Tier mit den eintrübenden Augen entgegen, behutsam, damit es ihr nicht aus den Händen glitt. »Shukar, parkrau man«, murmelte sie auf Romanes, »schön, vielen Dank«, und lächelte breit. Sie spülte den Fisch ab, nahm ihn aus und säuberte ihn, ja, zelebrierte diese Handlung und wurde währenddessen immer ernster und konzentrierter. Ich saß am Küchentisch und beobachtete schweigsam jede ihrer Bewegungen. Als Nächstes wendete sie den Fisch in Salz und Mehl, briet ihn schließlich mit einer reichlichen Portion Butter goldbraun und knusprig in der Pfanne.

Sobald die Ursel-Mami sich zu Tisch setzte, war Schluss mit lustig, spätestens jetzt durfte ich sie garantiert nicht mehr stören. Das kannte ich schon von ihr. Gebratene Forelle auf Butterstulle und dazu ein Becher pechschwarzer Kaffee waren für sie ein Gaumenschmaus, gleichgültig zu welcher Tageszeit, selbst am Morgen. Mami setzte ihre Brille auf und tranchierte den Fisch sorgfältig, schweigsam in die Tätigkeit vertieft. Ich selbst war nicht erpicht auf dieses deftige Frühstück, obwohl der Duft von gebratener Forelle jedes Mal so köstlich war, dass ich ihn bereits in meinen Geschmacksnerven gespeichert hatte. Es erfüllte mich stattdessen mit unendlicher Genugtuung, einem geradezu wonnig-warmen Gefühl, ihr beim Essen zuzusehen und zu spüren, welche Freude ich ihr bereitet hatte. Sie hatte zum Frühstück ein mit Käse dick belegtes Brot vor mich auf den Tisch gestellt und meinen Lieblingstee, in den sie, das war eine ihrer Spezialitäten, Obst hineintat – Apfelstückchen, Zitronenscheiben oder zerkleinerte Erdbeeren. Heute schwammen einige Kirschen im Becher, vermutlich weil meine Großmutter anlässlich des morgigen Familienbesuchs ihren berühmten Kirschstreuselkuchen backen würde. Darauf freute ich mich jetzt schon. Mami benutzte dafür so viel Butter, dass ein einziges Stück fast so viel wog wie normalerweise ein ganzer Kuchen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Bei uns zu Hause maßen wir gutem Essen viel Bedeutung bei. Meine Mami sagte immer, wir feierten täglich, dass wir diese furchtbaren Zeiten der Verfolgung durch die Nazis überlebt hatten.

Erst als meine Großmutter den letzten Bissen genossen hatte, wandte sie sich mir abermals aufmerksam zu. »Dein Großvater, der Papo Alfons, hat gebackene Forellen auch über alles geliebt, weißt du«, sagte sie, und in ihrer Stimme schwang ein tiefer, etwas wackeliger Ton. Einen Moment schaute sie gedankenverloren zum Fenster hinaus, bevor sie ihren Blick wieder auf mich richtete. Und dann erzählte sie mir von Papo, meinem »schönen Papo«, der 1949 mit nur 31 Jahren an einem Herzversagen starb. Mami und er hatten sich 1941 in Berlin kennengelernt, sie eine echte Berlinerin, er stammte aus dem Kreis Wismar in Mecklenburg; gemeinsam waren sie vor den Nazis geflohen. Weil Ursula und Alfons Blum Sinti waren, erklärten die Nationalsozialist:innen mit ihrer rassistischen Ideologie sie und meine restliche Familie zu unerwünschten Fremden, zu »asozialen und kriminellen Elementen«. Unsere Menschen, was auf Romanes »Mare Manusha« bedeutet, wurden amtlich erfasst und ausgegrenzt. Wer nicht floh, wurde deportiert, in sogenannte Zigeunerlager gesperrt und umgebracht. Zum diskriminierenden Begriff »Zigeuner« werde ich später noch ausführlicher etwas sagen.1 Bis zu einer halben Million Romanes-sprachige Menschen sind in der Zeit des NS-Faschismus von den Nationalsozialist:innen und ihren Kompliz:innen ermordet worden: Sinti und Roma, deren gemeinsame Sprache Romanes ist, weshalb ich von Romanes-sprachigen Menschen spreche, um auch die ethnischen Gruppen mit einzubeziehen, die weder Sinti noch Roma sind. Von den ungefähr 30 000 deutschen und 11 000 österreichischen Sinti und Roma starben etwa 25 0002 durch Zwangsarbeit, Totschlag sowie gezielte Morde durch Gas in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Schätzungen zufolge kehrten nach dem Krieg und dem Völkermord »O Baro Marepen« (Sinti-Romanes für »Das große Morden«)3, wie viele von uns Sinti den Völkermord an unseren Menschen nennen, nur zehn Prozent aller deutschen Sinti wieder nach Hause zurück, vollkommen mittellos und traumatisiert. Meine Menschen fingen wieder ganz von vorne an, obwohl wir seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland sesshaft sind.

Die Strapazen der vierjährigen Flucht quer durch den Balkan bis nach Südrussland und schließlich zurück in die Heimat hatten meinen Papo Alfons gebrochen. Immerzu auf der Hut, die Familie ernähren,...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2024
Zusatzinfo 4-farbige Abbildungen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • AfD • Antiziganismus • Biografie • Biographien • Bürgerrechte • Debattenbuch • Diskriminierung • eBooks • Familienbiografie • Genozid • Geschichte • Gleichberechtigung • Holocaust • mare manuschenge • Menschenrechte • Musik • Musikerfamilie • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Porajmos • Rassismus • Roma und Sinti • Sachbuch • sinti jazz • zentralrat deutscher sinti und roma • Zigeuner • z*-wort
ISBN-10 3-641-30238-2 / 3641302382
ISBN-13 978-3-641-30238-2 / 9783641302382
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