72 Minuten bis zur Vernichtung (eBook)
400 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-31906-9 (ISBN)
Investigativ-Journalistin Annie Jacobsen entwirft ein Szenario von dreimal 24 Minuten: So lange dauert es vom ersten Entdecken eines atomaren Marschflugkörpers mit Ziel USA bis zum dann unausweichlichen und vernichtenden Gegenschlag und zum Ende der Welt wie wir sie kennen. Was passiert als Nächstes? Wieviel Zeit bleibt dem US-amerikanischen Präsidenten für die Entscheidung, wie der Gegenschlag aussieht? Gibt es einen funktionierenden Abwehrschirm? Sind die Kommunikationswege zwischen den Atommächten im Ernstfall sicher? Ist weltweite Eskalation unvermeidbar?
Das Szenario ist fiktiv. Die zugrundeliegenden Parameter, die Befehlsketten, in Kraft gesetzten Regeln und die technischen Möglichkeiten mit ihren grausamen Konsequenzen beruhen auf den Fakten, die die Autorin im Austausch mit Experten und von Insider-Quellen gesammelt hat. Das Ergebnis ist ein atemloses Leseerlebnis voller hochinteressanter Erkenntnisse, erschreckend, faszinierend und informativ.
Annie Jacobsen ist eine US-amerikanische Investigativ-Journalistin, spezialisiert auf Krieg, Waffen und Sicherheit. Sie ist Finalistin des Pulitzer-Preises 2016 und Autorin zahlreicher Bücher, die in neun Sprachen übersetzt wurden, darunter der New York Times-Bestseller Area 51. Jacobsen schreibt und produziert auch Fernsehserien, u.a. Tom Clancy's Jack Ryan. Die Absolventin der Princeton University lebt mit ihrer Familie in Los Angeles.
Prolog
Die Hölle auf Erden
Washington, D.C., möglicherweise irgendwann in naher Zukunft
Die Detonation einer Thermonuklearwaffe mit einer Megatonne Sprengkraft beginnt mit einem Lichtblitz und einer ungeheuren, für den menschlichen Geist unbegreiflichen Hitze:[5] 100 Millionen Grad Celsius – vier- bis fünfmal heißer als der Kern der Sonne.[6]
Im Bruchteil einer Millisekunde, nachdem diese Thermonuklearbombe das Pentagon außerhalb von Washington, D.C. getroffen hat, entsteht Licht. Weiches Röntgenlicht mit einer sehr kurzen Wellenlänge.[7] Das Licht heizt die umgebende Luft auf viele Millionen Grad auf, wodurch ein gigantischer Feuerball entsteht, der sich mit einer Geschwindigkeit von Millionen Stundenkilometern ausdehnt. Innerhalb weniger Sekunden wächst der Durchmesser dieses Feuerballs auf knapp zwei Kilometer an. Sein Licht und seine Hitze sind so enorm, dass Beton explodiert, metallene Objekte schmelzen oder verdampfen, Stein zerspringt und Menschen sich augenblicklich in brennenden Kohlenstoff verwandeln.[8]
Das fünfstöckige, fünfeckige Gebäude des Pentagons und alles, was sich innerhalb seiner 600000 Quadratmeter Bürofläche befindet, verwandelt sich durch den ersten Blitz aus Licht und Hitze explosionsartig in hocherhitzten Staub. Durch die nahezu zeitgleiche Ankunft der Schockwelle bersten alle Wände, alle 27000 Angestellten sind sofort tot.
Nicht das Geringste bleibt in dem Feuerball bestehen.
Nichts.
Der Explosionsort wird ausgelöscht.[9]
Die strahlende Hitze des Feuerballs breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus und entzündet alles Brennbare in seiner Reichweite über mehrere Kilometer in jede Richtung.[10] Vorhänge, Papier, Bücher, Holzzäune, menschliche Kleidung, trockene Blätter stehen unmittelbar in Flammen und nähren einen riesigen Feuersturm, der ein über 100 Quadratkilometer großes Gebiet verschlingen wird, das vor diesem Lichtblitz das Zentrum der amerikanischen Regierungsgewalt und die Heimat von ungefähr sechs Millionen Menschen war.[11]
Mehrere Hundert Meter nordwestlich des Pentagons werden auf den zweieinhalb Quadratkilometern des Nationalfriedhofs Arlington – einschließlich der 400000 Knochensätze und Grabsteine zur Ehrung der im Krieg gefallenen Soldaten sowie der Überreste der 3800 in Sektion 27 begrabenen freigelassenen Sklaven – die Besucher, die ihnen an diesem Nachmittag im beginnenden Frühling die Ehre erweisen, die Gärtner, die den Rasen mähen und die Bäume beschneiden, die Fremdenführer, die Besucher herumführen, die Soldaten der Old Guard mit ihren weißen Handschuhen, die am Grab des unbekannten Soldaten Wache halten, augenblicklich in brennende, verkohlte menschliche Statuen verwandelt. In das schwarze organische Pulver, das Ruß genannt wird. Den Verbrannten bleibt das beispiellose Grauen erspart, das nun ein bis zwei Millionen schwer verletzte Menschen durch diesen Atomangriff überkommt, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel über sie hereinbrach.[12]
Auf der anderen Seite des Potomac River, zwei Kilometer in nordöstlicher Richtung, werden die Marmorwände und -säulen der Denkmäler für Lincoln und Jefferson überhitzt. Sie zersplittern in ihre Einzelteile.[13] Die Brücken und Autobahnen aus Stahl und Stein, die diese historischen Monumente mit ihrer Umgebung verbinden, wölben sich und brechen zusammen. Auch das weiter südlich, jenseits der Interstate 395 gelegene strahlende und weitläufige Fashion Centre at Pentagon City mit seiner gläsernen Fassade und seinen unzähligen Läden voll teurer Markenkleidung und Haushaltsgütern, mit seinen Restaurants und anderen Gastronomiebetrieben, den Büros und dem angrenzenden Hotel Ritz-Carlton, Pentagon City wird ausradiert. Deckenträger, Balken, Rolltreppen, Kronleuchter, Teppiche, Möbel, Schaufensterpuppen, Hunde, Eichhörnchen, Menschen gehen in Flammen auf. Es ist Ende März, 15:36 Uhr Ortszeit.
Seit der Detonation sind drei Sekunden vergangen. Im Baseballstadion vier Kilometer im Westen, dem Nationals Park, findet gerade ein Spiel statt. Die Kleidung der meisten der 35000 Zuschauer fängt Feuer.[14] Die Menschen, die nicht direkt durch die Flammen sterben, erleiden schwere Verbrennungen dritten Grades.[15] Ihre Körper werden der äußeren Hautschicht beraubt, und die blutige Dermis darunter wird freigelegt.
Um Verbrennungen dritten Grades zu überleben, ist eine sofortige Spezialbehandlung und oft auch die Amputation von Gliedmaßen notwendig. Hier im Nationals Park haben vielleicht einige Tausend Menschen zunächst irgendwie überlebt. Sie waren gerade drinnen, um etwas zu essen zu kaufen oder auf die Toilette zu gehen – jetzt benötigen sie dringend ein Bett in einem Brandverletztenzentrum. Aber es gibt nur zehn Verbrennungsbetten im gesamten Großraum Washington, D.C., im Burn Center des MedStar Washington Hospital im Stadtzentrum. Und weil diese Einrichtung etwa acht Kilometer nordöstlich des Pentagons liegt, ist sie nicht mehr funktionsfähig – falls sie überhaupt noch existiert. 70 Kilometer nordöstlich gibt es im Johns Hopkins Burn Center in Baltimore weniger als 20 Verbrennungsbetten, und die sind schon bald belegt. Insgesamt gibt es in allen 50 Bundesstaaten der USA zusammen nur um die 2000 Verbrennungsbetten.[16]
Innerhalb von Sekunden hat die Wärmestrahlung dieses atomaren Angriffs auf das Pentagon die Haut von ungefähr einer Million Menschen schwer verbrannt. 90 Prozent von ihnen werden sterben. Verteidigungsforscher wie auch zivile Wissenschaftler haben das jahrzehntelang berechnet.[17] Die meisten Opfer werden sich nur noch wenige Meter von dort wegbewegen können, wo sie sich zum Explosionszeitpunkt befanden. Als in den 1950er-Jahren mit diesen makabren Berechnungen begonnen wurde, bezeichneten die Experten für Zivilverteidigung diese Menschen als »Dead When Found«, beim Auffinden tot.[18]
»Dead When Found«
(U.S. Federal Civil Defense Administration)
In der Joint Base Anacostia-Bolling, einer im Südosten auf der anderen Seite des Potomac gelegenen vier Quadratkilometer großen militärischen Einrichtung, gibt es weitere 17000 Opfer, einschließlich fast aller Beschäftigten in den Hauptquartieren der Defense Intelligence Agency und der White House Communications Agency, der U.S. Coast Guard Station Washington, dem Marine-One-Hubschrauberhangar und zahlreichen anderen schwer bewachten Bundeseinrichtungen, die der nationalen Sicherheit dienen.[19] Die Mehrzahl der 4000 Studenten, die gerade die National Defense University besuchten, sind ebenfalls tot oder liegen im Sterben. Es ist eine tragische Ironie der Ereignisse, dass an dieser – vom Pentagon finanzierten und am 200. Geburtstag der USA gegründeten – Universität die amerikanischen Offiziere die Taktiken erlernen, mit denen die militärische Vorherrschaft ihres Landes rund um den Globus gesichert wird. Die Universität ist nicht die einzige militärische Bildungseinrichtung, die durch diesen ersten Atomschlag ausgelöscht wird. Die Eisenhower School for National Security and Resource Strategy, das National War College, das Inter-American Defense College, das Africa Center for Strategic Studies, sie alle existieren plötzlich nicht mehr. Das gesamte Hafengebiet, vom Buzzard Point Park bis zur St. Augustine’s Episcopal Church, vom Navy Yard bis zur Frederick Douglass Memorial Bridge, wird komplett zerstört.
Im 20. Jahrhundert entwickelten Menschen die Atombombe, um die Welt vom Bösen zu befreien, und jetzt, im 21. Jahrhundert, ist die Atombombe kurz davor, die Welt zu zerstören. Alles niederzubrennen.
Die Wissenschaft, die hinter der Bombe steckt, ist komplex. Der thermonukleare Lichtblitz wird von zwei sich ausbreitenden Hitzewellen begleitet.[20] Die erste hält nur für den Bruchteil einer Sekunde an, die zweite hingegen mehrere Sekunden, wodurch die menschliche Haut in Brand gesetzt wird. Die Lichtblitze sind geräuschlos; Licht macht kein Geräusch. Nun folgt ein durch die Druckwelle hervorgerufenes lautes Krachen. Die von der atomaren Explosion erzeugte immense Hitze verursacht eine starke Druckwelle, die sich vom Zentrum ausgehend wie ein Tsunami ausbreitet, wie eine gigantische Wand aus hochkomprimierter Luft, die sich mit Überschallgeschwindigkeit fortbewegt. Sie mäht Menschen nieder, wirbelt andere in die Luft, lässt Lungen und Trommelfelle platzen, saugt Körper auf und spuckt sie wieder aus. »Generell werden große Gebäude durch die plötzliche Änderung des Luftdrucks zerstört, Menschen und Objekte wie Bäume und Leitungsmasten dagegen durch den Wind«, erklärt ein Archivar, der diese makabren Statistiken für das Atomic Archive zusammenträgt.[21]
Die Schockwelle des wachsenden nuklearen Feuerballs schiebt sich wie ein Bulldozer fünf Kilometer weit nach außen und richtet katastrophale Zerstörung an.[22],[23] Die Luft hinter der Druckwelle beschleunigt sich und erzeugt Winde mit außergewöhnlichen, schwer vorstellbaren Geschwindigkeiten von vielen Hundert Stundenkilometern. Im Jahr 2012 hatte Hurrikan Sandy, der einen Schaden von 70 Milliarden US-Dollar anrichtete und 147 Menschen das Leben...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2024 |
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Sprache | deutsch |
Original-Titel | Nuclear War |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Abrüstung • Atombombe • Atomkrieg • Aufrüstung • China • eBooks • Hiroshima • Krieg in der Ukraine • NATO • Neuerscheinung • Nukleare Abschreckung • Russland • Taiwan • The Day After Tomorrow • Tom Clancy • U-Boot • USA • Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-31906-4 / 3641319064 |
ISBN-13 | 978-3-641-31906-9 / 9783641319069 |
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