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Ich komm da nicht mehr mit (eBook)

Wie Informationsflut und digitale Überforderung uns in den Wahnsinn treiben – wenn wir es zulassen!

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
160 Seiten
Mosaik (Verlag)
978-3-641-30865-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich komm da nicht mehr mit - Kester Schlenz
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Alles wissen müssen, alles können sollen - Kester Schlenz über eine immer komplizierter werdende Welt, die uns alle überfordert.
Wir alle sind im Visier eines gewaltigen Info-Dauerfeuers: News, Mails, Social Media, Messenger, Podcasts, Push-Nachrichten. Wir sollen informiert sein, Meinungen haben, mitreden können. Und wir sollen nicht nur immer mehr wissen. Wir sollen und müssen auch immer mehr können und selber machen: runterladen, bestätigen, eingeben, updaten, verifizieren - die digitale Welt treibt uns in den Wahnsinn, anstatt uns zu entlasten. Kester Schlenz beschreibt die alltägliche Überforderung und begibt sich auf die Suche nach Wegen zu mehr Gelassenheit.

Kester Schlenz war bis vor kurzem noch Redakteur und Ressortleiter beim Magazin Stern. Jetzt ist er Rentner, lehnt diese Bezeichnung aber für sich ab, weil sie ihm zu sehr nach »alter Knacker« klingt. Schlenz ist Autor zahlreicher Sachbücher, darunter die Besteller 'Mensch, Papa! Vater werden - das letzte Abenteuer' und 'Alter Sack, was nun?'. Außerdem schreibt er mit seinem Kumpel Jan Jepsen erfolgreiche Krimis.

2.
Warum komme ich mir so oft blöd vor?


Keiner steigt mehr richtig durch, aber niemand redet drüber. Der Mut zur Lücke ist aus der Mode. Man muss wissen, kennen, mitreden. Auch wenn die meisten nur an der Oberfläche kratzen und sich schlauer geben, als sie sind. Ich schäme mich ein wenig, das zuzugeben: In vielen Dingen kenne ich mich sehr gut aus – bei anderen tue ich auch nur so. Männer können das sehr gut. Sie lernen das schon als kleine Jungen. »Weiß ich doch. Kenn ich alles. Nee, klar, finde ich auch.« Dabei hatte man so oft keine Ahnung.

Wie heute. »Du bist schön blöd, wenn du keine Bitcoins kaufst«, sagte mir kürzlich ein Freund. Ich nickte. Aber ich bin, ehrlich gesagt, tatsächlich zu blöd dazu, denn ich weiß immer noch nicht, was Kryptowährungen genau sind und wie sie funktionieren. Und ehrlich gesagt will ich es eigentlich auch gar nicht wissen. Ich bin ja schon froh, dass ich weiß, wie man Aktien kauft, nachdem mir alle möglichen Leute gesagt haben, dass ich ein Idiot bin, wenn ich keine Aktien habe. Oder ETFs. Oder Rentenfonds.

Okay, es war sinnvoll, mich da schlauzumachen. Aber meine Steuererklärung überfordert mich immer noch, und bei der Diskussion über das Gendern musste ich seinerzeit erst noch mal nachschlagen, was genau das generische Maskulinum ist. Ebenso rätselhaft war mir, dass plötzlich in der Kulturszene und in den Medien ganz selbstverständlich der Begriff »Showrunner« verwendet wurde. Ich hatte anfangs keine Ahnung, dass damit so etwas wie »Serien-Macher« gemeint war.

»Lost in translation«


Als kürzlich bei uns in der Redaktion ein Umzug in eine andere »digitale Umgebung« anstand, erhielt ich eine Mail, in der stand: »Die Migration wird durch E-Mail-Kommunikation und Infos im Wissens-Hub begleitet.« Und schon kam ich mir wieder mal doof vor. Denn ich konnte mit dem Begriff »Wissens-Hub« nicht das Geringste anfangen. Aber alle benutzen auf einmal dieses Wort: »Hub«. Gemeint war hier ein digitaler Knotenpunkt, auf den alle zugreifen können, um Informationen abzurufen. Mir hätte die Bezeichnung »Info-Seite« durchaus gereicht. Aber ich bin ja auch ein alter, weißer Depp.

Ebenso selbstverständlich sprachen die jüngeren Kollegen aus den digitalen Abteilungen auf einmal begeistert von »Affiliate Marketing«, dem neuen heißen Ding, um Kohle zu machen. Ich war »lost«, wie man ja heute sagt, also verloren. Keine Ahnung, worum es bei »Affiliate« ging. Kurz gesagt ist das eine Methode, in redaktionellen Artikeln bei Produkterwähnungen die Möglichkeit zu schaffen, diese Produkte per Mausklick direkt zu bestellen. Dabei gibt es dann eine Provision für die Redaktionen. Und ja, das machen jetzt fast alle, die Online-Seiten betreiben. Und stolz berichtet man dann in Konferenzen von steigenden Umsätzen. Als sei das etwas, auf das man stolz sein kann.

Besonders die digitale Business-Welt bemüht sich krampfhaft um eine verwirrende Vielfalt an neuen Anglizismen. Hauptsache, man nennt das Neue anders. Hier nur mal ein paar davon: »Bot«, »Fintech«, »Emoticon«, »Big Data«, »Blockchain«, »Crowdsourcing«, »Dashboard«, »Data Mining«, »Growth Hacking«, »Lead«, »Mash-up«, »Monitoring«, »Ransomware« oder »Wearable«.

Ich erspare Ihnen und mir die Erklärungen dazu. Lasst mich doch mit diesem Bullshit in Ruhe oder drückt euch vernünftig aus! Bullshit ist zwar auch ein Anglizismus, aber den versteht wenigstens jeder.

Aber diese Begriffe schwirren nun mal um uns herum. Und wir fangen sie notgedrungen ein und versuchen, sie uns einzuverleiben. Aber selbst wenn ich noch mehr lese, googele und Nachrichten sehe oder höre, habe ich das Gefühl, immer weniger zu wissen. Denn kaum habe ich einen neuen Begriff aufgeschnappt, eine Meldung verdaut oder einen Sachverhalt auch nur ansatzweise durchdrungen, dann donnert schon die nächste Nachricht rein und will verstanden, eingeordnet und in eine Meinung umgewandelt werden. Aber genau dieses Verstehen und Einordnen wird angesichts der schieren Masse an neuen Informationen täglich schwerer. Wie, so frage ich mich, soll man angesichts dieser Überforderung so etwas wie eine fundierte Haltung entwickeln?

Identitätspolitik, Gendern, Woke-Sein – gut gemeint, aber all das fängt an zu nerven


Politische Korrektheit etwa entwickelt sich zunehmend von gut gemeinter Sensibilität zum wissenschaftlichen Pro-Seminar in Sachen Subkulturen. Nebulöse Begriffe schwirren herum. Ich bin – natürlich – gegen die Diskriminierung von Minderheiten, aber ich musste erst meine Hausaufgaben machen, um zu verstehen, worüber überhaupt geredet wird. Ich kannte den Begriff »Genderdysphorie« bisher nicht, den Aktivisten wie selbstverständlich im Munde führen. Gemeint ist, sich als Individuum im falschen Körper zu fühlen. Es hat auch etwas gedauert, bis ich verstanden habe, was genau mit »queer« gemeint ist.

Ich habe gelernt, welche kränkenden Begriffe man bitte nicht mehr aussprechen oder schreiben soll. Ich weiß mittlerweile, was die Abkürzung LGBTQ heißt. Aber – Hand aufs Herz: Kennen Sie die Erweiterung LGBTQIA+? Das Fragezeichen gehört übrigens nicht dazu, sondern markiert nur meine Frage. Ich löse kurz auf: L steht für lesbisch, G für Gay, B bisexuell, T für transsexuell, Q für queer, I für intersexuell, A für asexuell und das Plus für alles andere, bekannt und noch unbekannt.

Ich weiß, wie gnadenlos Homosexuelle auch in unserem Land staatlich verfolgt und kriminalisiert wurden. Das ist zum Glück weitgehend Geschichte. Und ich ahne, was es für eine Belastung sein muss, wenn man das Gefühl hat, im falschen Körper geboren worden zu sein. Darüber offen zu sprechen und den Betroffenen zu helfen, ist richtig und wichtig. Aber muss ich wissen, dass jemand asexuell ist, also keine Lust auf Sex hat, und dafür eine Abkürzung lernen? Ist es wichtig, den Begriff »autosexuell« zu kennen? Nein, damit ist nicht Sex im PKW gemeint. Das bedeutet, dass es jemandem absolut reicht, sich selbst zu befriedigen. Kann man machen, interessiert mich aber nicht. Muss ich wissen, dass jemand »genderfluid« ist, sich also mal mehr als Mann und mal mehr als Frau fühlt? Okay, mag ja sein. Aber ist das nicht einfach Privatsache? So wie vieles andere im Bereich der Sexualität?

Aus meiner Sicht kann das privat bleiben, ohne dass ich das alles zur Kenntnis nehmen und deswegen Vokabeln pauken muss, weil Aktivisten einen erhöhten Bezeichnungsbedarf verspüren. Man muss nicht dauernd allen alles erzählen und dann sauer sein, wenn keiner mehr zuhört.

Ich werde so bombardiert mit neuen Begriffen und harschen Forderungen nach mehr Sensibilität, dass die Masse der unterschiedlichen Ansprüche an mein Verhalten und meine Wortwahl bald zum Gegenteil führt, nämlich zur Abstumpfung. Ach, seid doch alle, was ihr wollt, aber lasst mich damit in Ruhe! Aus Verständnisbereitschaft wird so irgendwann Ärger durch Überforderung. Tatsächlich spüre ich das bei mir selbst. Ich will niemanden verletzen, aber vor lauter Opfern links und rechts des Weges weiß ich kaum noch, was erlaubt ist und was nicht. Ich soll mir Wissen aneignen, Forderungen erfüllen, Sprachregeln beachten und gleichzeitig zugeben, dass ich nichts wirklich wissen kann, weil Wissen und Wahrheit, so die identitätspolitische Sichtweise, immer nur soziale Konstrukte innerhalb heteronormativer Machtdiskurse seien, aus denen wir nicht heraus können. Schwirrt Ihnen beim Lesen der Kopf? Kann ich gut verstehen.

Was mich daran besonders stört, ist, dass die Verwirrung offenbar gewollt ist. Das Verwischen von Grenzen und das Vermeiden klarer Begrifflichkeiten ist bei den kompromisslosesten Vertretern der Queer-Theorie und des so genannten Postkolonialismus Methode und keine versehentliche Unschärfe. Die Unschärfe ist Programm und sorgt bei mir und vielen anderen für zusätzliche Verwirrung und Überforderung. Ich soll einsehen, dass es keine klaren Grenzen gibt und alles »fluide« ist, dass »Mann« und »Frau«, »Heterosexualität«, »Geschlecht«, ja, auch »Wissenschaft« überholte, sozial konstruierte Begriffe sind, die keine adäquate Beschreibung der Realität ermöglichen und die dekonstruiert werden müssen. Gesellschaftlich wirksame Kategorien werden so absichtlich verunklart. Ihre objektive Gültigkeit wird in Abrede gestellt, um die angeblich darunterliegenden Machtstrukturen aufzudecken und abzuschaffen.

Selten hat eine politische Bewegung sich so sehr von Verständlichkeit, evidenzbasierter Forschung und Objektivität verabschiedet wie die Hardcore-Variante der so genannten Identitätspolitik. Dabei ist sie sicherlich im Kern gut gemeint. Sie versteht sich ja als Emanzipationsbewegung für Gruppen, die Diskriminierung und Ausgrenzung aufgrund von ethnischer Herkunft, Geschlecht oder sexueller Orientierung erleben. Diese Emanzipation ist wichtig. All diese Gruppen müssen gesehen, gehört und respektiert und Transfeindlichkeit selbstverständlich bekämpft werden. Aber wenn der Kampf um die Rechte dieser Minderheiten zu autoritären Positionen führt, die einen Meinungsaustausch auf Augenhöhe und das einander Zuhören schwierig bis unmöglich machen und im Extremfall die Grundlagen der liberalen Demokratie und der Wissenschaft in Frage stellen, wird es für mich gefährlich.

Aber habe ich eigentlich recht mit meinem Unverständnis? Mit meiner Haltung? Meiner Kritik? Woher weiß ich, dass mein Standpunkt der richtige ist? Ich versuche ja zu verstehen. Gebe mir immer noch Mühe und will kein zementiertes Weltbild vertreten. Dinge und Sichtweisen verändern sich. Ich will ja dazulernen. Und vieles versteht...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • abgehängt • Achtsamkeit • ADHS • Alltagsstress • BIPOC • digital detox • Digitale Erschöpfung • Digitalisierung • Dobelli • eBooks • ETFs • Flugscham • Gendern • Gesellschaftskritik • Gesundheit • Gluten • ich komm nicht mehr mit • Informationsflut • KI • Klimawandel • Kryptowährung • lgbtqia+ • Meinungsbildung • Meinungsfreiheit • Nachrichtenflut • Netflix • Neuerscheinung • Newsfeed • new work • push-nachrichten • Reizüberflutung • Servicewüste • shitstorms • Social Media • Soziale Medien • Stress • Tempolimit • Überforderung • Veganismus • woke
ISBN-10 3-641-30865-8 / 3641308658
ISBN-13 978-3-641-30865-0 / 9783641308650
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