Sprachförderung für ein- und mehrsprachige Kinder (eBook)
135 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61754-8 (ISBN)
Prof. Dr. phil. Wiebke Scharff Rethfeldt, Logopädin und Systemische Beraterin, ist Professorin für Logopädie an der Hochschule Bremen.
Prof. Dr. phil. Wiebke Scharff Rethfeldt, Logopädin und Systemische Beraterin, ist Professorin für Logopädie an der Hochschule Bremen.
2Entwicklung und Sprache von o bis 3 Jahren – Kleinkind
2.1Meilensteine der Sprachentwicklung
kategoriale Wahrnehmung
Die Entwicklung des Sprachverstehens und der Sprachproduktion beginnt bereits im Mutterleib. Gleich nach der Geburt ist das Neugeborene in der Lage, zwischen einzelnen Sprachlauten wie / b / und / p / zu unterscheiden. Es kann zudem nicht nur die eigene Muttersprache, sondern mehr als hundert Sprachen unterscheiden. Dies zeigt, dass Kinder von Beginn an über die Fähigkeit verfügen, kategorial wahrzunehmen, d. h. Wahrgenommenes einzuordnen, zu vergleichen, Gemeinsamkeiten zu erkennen und daraus Regeln abzuleiten. Die jeder Sprache eigenen Sprachrhythmen erlauben bereits Säuglingen, phonotaktische und grammatische Regeln einer Umgebungssprache, wie z. B. die Wortstellung in einem Satz, anhand der Prosodie (Akzent, Intonation, Sprechpausen, Rhythmus und Sprechgeschwindigkeit) zu erkennen. Nachdem das Kind in den ersten Lebensmonaten fähig ist, Laute in einer Vielzahl von Sprachen zu unterscheiden, beginnt das Kind ab dem 10. Lebensmonat, die Wahrnehmung auf die Sprache(n) seiner unmittelbaren Umgebung zu fokussieren.
BEISPIEL
Im englischsprachigen Umfeld aufwachsende Säuglinge können zwischen den Sprachlauten / y / und / i / unterscheiden (z. B. Züge vs. Ziege), obwohl ersterer nicht in der Zielsprache Englisch vorkommt, während monoIingual englischsprachige Erwachsene dazu häufig nicht in der Lage sind.
Lautentwicklung
Die Konzentration auf die Umgebungssprache(n) zeigt sich auch bei der Lautproduktion. Während der Säugling in den ersten Lebensmonaten eine Breite an vorsprachlichen Lauten und Geräuschen produziert, spezialisiert er sich etwa ab dem 6. Monat auf den Klang der Umgebungssprache(n). So können manche Erwachsene am Lallen eines Säuglings hören, ob er in einer chinesisch-, französisch- oder deutschsprachigen Umgebung aufwächst. Zu diesem Zeitpunkt beginnen die Kinder nämlich, Silben zu produzieren, die den typischen Merkmalen der Zielsprache(n) entsprechen (in Form von rhythmischen Lautketten).
BEISPIEL
In Japan aufwachsende Säuglinge produzieren in den ersten Lebensmonaten (1. Lallphase) neben / l / auch den Laut / r /. Mit Beginn der 2. Lallphase im Alter von ca. 6 Monaten, wird der Laut / r / nicht mehr in Silben eingebunden, da er in der Zielsprache nicht vorkommt.
Kinder erwerben schrittweise die Laute ihrer Sprache(n) (Kap. 1.2). Dies setzt voraus, dass sie entdecken, welche Laute (Phone) in ihrer / n Umgebungssprache(n) vorkommen, wie sie sie bilden können und nach welchen Regeln sie verwendet werden. Dies setzt wiederum voraus, dass sie sie hinreichend häufig hören können. Nicht alle Laute kommen in allen Sprachen vor, Silben und Wörter werden sehr unterschiedlich gebaut. Selbst der Klang der Vokale ist sprachenspezifisch. Die Erwerbsreihenfolge der Laute ist je nach Sprache unterschiedlich. Tab. 2 gibt einen exemplarischen Überblick für die ungefähren Erwerbsreihenfolgen bei monolingualen Kindern der Sprachen Deutsch, Türkisch, Amerikanisches Englisch und Quebecer Französisch, Russisch und Jordanisches Arabisch. Dabei sind jedoch starke methodische Unterschiede, z. B. Erhebungszeitpunkte und Kriterien des Lauterwerbs, in den angeführten Studien zu berücksichtigen, die einen direkten Vergleich erschweren.
Tab.2: Reihenfolge des einsprachigen Konsonantenerwerbs nach Alter in verschiedenen Sprachen
Ein Laut gilt dann als erworben, wenn 90% der Kinder einer Altersgruppe diesen Laut mindestens zweimal willentlich korrekt bilden können. In dieser vereinfachten Darstellung wurde die isolierte Lautbildung bzw. die LautbiIdung am Wortanfang ohne spezifische Abbildung der Artikulationsart berücksichtigt. Die spezifischen Informationen können den aufgeführten Quellen entnommen werden.
* Daten beruhen auf Querschnittserhebungen und lassen daher keine Darstellung eines durchgängigen Erwerbverlaufs zu.
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Amayreh/Dyson (1998), Crowe/McLeod (2020), Fox/Dodd (1999), Gvozdev (1961), Maphalala et al. (2014), MacLeod et al. (2011), Smit et al. (1990), Yalcinkaya et al. (2009).
Die verwendeten Lautsymbole entsprechen dem Internationalen Phonetischen Alphabet (IPA), deren aktustische Merkmale auf folgender Website ange hört werden können: https://www.internationalphoneticalphabet.org/ipa-sounds/ipa-chart-with-sounds-2/
Lauterwerb bei mehrsprachigen Kindern
Der Lauterwerb verläuft bei früh mehrsprachigen Kindern im Hinblick auf die Erwerbsraten und Erwerbsreihenfolgen ähnlich wie beim einsprachigen Erwerb in den betreffenden Zielsprachen. Prinzipiell werden artikulatorisch und strukturell einfachere vor komplexeren Strukturen erworben. Auch wenn im Vergleich zum monolingualen Erwerb insgesamt mehr Laute erworben werden müssen, bedeutet dies nicht, dass die Lautentwicklung langsamer verläuft. Im Laufe des Erwerbsprozesses kann es in allen Sprachen zu Auslassungen (Elision) oder Ersetzungen (Substitution) mancher Ziellaute kommen. Dies ist eine wichtige Strategie, um in der Kommunikation möglichst verständlich zu sein, selbst wenn das Kind noch nicht alle Laute wie erwachsene Sprecher beherrscht. Diese typischen Auffälligkeiten sind Teil einer normalen Sprechentwicklung bei Kindern und daher sowohl bei einsprachigen als auch bei mehrsprachigen Kindern zu beobachten. So artikulieren manche monolingual deutschsprachigen Kinder das Wort „Roller“ zunächst als „Holler“, indem sie das artikulatorisch komplexere / r / durch das einfachere / h / ersetzen. Einem mehrsprachig aufwachsenden Kind stehen hingegen mehr Laute für eine Ersetzung zur Verfügung, da es sich zusätzlich aus dem / den anderen Sprachsystem / en bedienen kann. So kann es vorkommen, dass ein Deutsch-Spanisch bilinguales Kind das spanische Wort „rojo“ (rot) zwar inhaltlich verständlich, jedoch mit einem scheinbar deutschen Akzent artikuliert. Denn das spanische / r / , das mit der rollenden Zungenspitze im vorderen Mundraum gebildet wird, erfordert ein feineres sensomotorisches Zusammenspiel, als das norddeutsche / R / , das eher gurgelnd im hinteren Mundraum gebildet wird.
Die zunehmende Konzentration auf die Sprache(n) des individuellen Umfeldes spiegelt sich auch in der Wortschatzentwicklung wider. Schon im Alter von ca. 7 Monaten ist das Kind in der Lage, einzelne Wörter aus dem Redefluss heraus zu erkennen. Das Wortverstehen nimmt mit ca. 10 Monaten rasant zu: Das Kind verbindet die spezifischen lautlichen Einheiten, die die Bezugspersonen artikulieren, mit den Gegenständen und Handlungen, auf die sie zeitgleich deuten oder ausführen (Triangulation zwischen Kind, Bezugsperson und Gegenstand) (Kap. 1.2). Dabei erleichtern prosodisch-rhythmische Merkmale (Betonung, Intonation und Sprechpausen) in den Äußerungen der Bezugspersonen, Subjekt, Verb und Objekt in einem Satz zu identifizieren. So versteht ein Großteil der Kinder bereits im Alter von 1 — 1,5 Jahren einfache Aufforderungen und Fragen (z. B. „ROLL’ mal den Ball!“ vs. „Roll’ mal den BALL!“).
Bezugspersonen sollten für die Interaktion mit einem Kind bereits von Geburt an jene Sprache(n) verwenden, die sie am besten sprechen können (Kap. 1.5). Denn eine natürliche Betonung und eine Benennung von Gegenständen und Handlungen, eingebettet in vollständige Sätze, fördert bereits bei sehr kleinen Kindern die Begriffsbildung. | ! |
Entwicklung der grammatischen Fähigkeiten
Die Konzentration auf prosodisch-rhythmische Merkmale und die Kombination von Sprachlauten der Umgebungssprache(n) bilden die Voraussetzung und den Einstieg in den Grammatikerwerb der jeweiligen Sprache(n). Auch wenn sprachliche Äußerungen von Kleinkindern darauf deuten mögen, dass sie scheinbar zunächst nur Inhaltswörter wie Nomen (Keks) oder Aktionsverben (essen) erwerben, verstehen und verwenden sie bereits sehr früh u. a. Funktionswörter (auf, ab, das, weg), die erste Kombinationen (aufmachen, aufessen) ermöglichen. Somit können Artikel (das) helfen, ein Nomen zu deuten, Konjunktionen geben Hinweise auf die Verbindung von gesagten Inhalten (Hauptsatz / Nebensatz: Lotta weint / weil Mama weg) und Partikel (ausmachen / aujmachen / zumachen / wegmachen) geben Auskunft über die Absicht einer Handlung. Diese sind jedoch hochgradig sprachspezifisch (Kap. 1; Tab. 1). Überdies kommen nicht alle Wortarten in allen Sprachen vor, sodass der gleiche sprachliche Inhalt je nach Sprache mithilfe unterschiedlicher Wortformen ausgedrückt wird.
BEISPIEL
Versteckt ein Erwachsener im Spiel mit einem Kleinkind einen Gegenstand, wird je nach Sprache die Handlung mithilfe unterschiedlicher Wortarten verdeutlicht: im Deutschen z. B. mit dem Partikel „weg“, im Französischen mit dem Partizip der Vergangenheit „disparu“ oder „parti“ wie im Englischen mit dem Partizip „gone“ und im Türkischen mit dem verneinenden Existenzialprädikat „yok“.
Wortschatz und...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2023 |
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Co-Autor | Bettina Heinzelmann |
Zusatzinfo | 3 Abb. 8 Tab. |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Schlagworte | Bilingual • biliteracy • Einsprachigkeit • Förderansätze • Kommunikation • Logopädie • Mehrsprachigkeit • MehrSprachInterAktion • Sprachenportrait • Spracherwerb • Sprachmischung • Sprachsozialisation • Sprachtherapie |
ISBN-10 | 3-497-61754-7 / 3497617547 |
ISBN-13 | 978-3-497-61754-8 / 9783497617548 |
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