Varianzen des Zusammenhalts (eBook)
426 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45578-5 (ISBN)
Matthias Middell ist Professor für Kulturgeschichte an der Universität Leipzig und Sprecher des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) sowie des FGZ-Teilinstituts Leipzig. An der Universität Leipzig ist er außerdem Direktor des Global and European Studies Institute sowie Sprecher des DFG-Sonderforschung »Verräumlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen« und des Leipzig Research Centre Global Dynamics.
Matthias Middell ist Professor für Kulturgeschichte an der Universität Leipzig und Sprecher des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) sowie des FGZ-Teilinstituts Leipzig. An der Universität Leipzig ist er außerdem Direktor des Global and European Studies Institute sowie Sprecher des DFG-Sonderforschung »Verräumlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen« und des Leipzig Research Centre Global Dynamics.
Vom Zensus zur Zusammenhalts-Studie. Über Wandlungen der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung seit dem 19. Jahrhundert
Dirk van Laak
Abstract
Der Beitrag versucht, kursorisch und in zwei Fällen exemplarisch unterschiedliche Modi der gesellschaftlichen Selbstbefragung zu rekonstruieren. Diese Selbstbefragung wird als eine zur Organisation moderner Gesellschaften unerlässliche Aufgabe skizziert, die vor allem empirisch-statistische Methoden, später auch systematische Befragungen nutzte, um Verwaltungswissen zu den Verhältnissen und den Bedürfnissen der Bürger:innen zu generieren. Dies diente zur Vermessung der jeweiligen Verfasstheit einer Gesellschaft, wobei sich eine spezifische Spannung zwischen den säkularen Tendenzen zu einer Individualisierung bzw. Autonomisierung gegenüber einer Vergemeinschaftung zeigten. Wiederkehrende Motive dieser Erhebungen werden am Beispiel der Jugendforschung sowie der fortgesetzten Rede von den »kleinen Leuten« diskutiert. Beide Diskurse waren von der Sorge geprägt, nachwachsende oder vermeintlich an die soziale Peripherie geratende Schichten der Gesellschaft zu »verlieren« bzw. deren Haltungen als potentielle Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu identifizieren. In der Rückschau erweist sich die starke Kontextabhängigkeit einer Interpretation der jeweiligen Ergebnisse unterschiedlicher Selbstbeobachtungen und wird schließlich die Forderung vertreten, stärker auf Vorgeschichten, fortlaufende Motive und zeitliche Abläufe zu achten, um Prozesse der Ausbalancierung zwischen Autonomisierung und Zusammenhalt einzuschätzen.
Keywords: Selbstbeobachtung; quantitative Sozialforschung; Demoskopie; Jugendforschung; kleine Leute
Moderne Gesellschaftsformen, die, zumal in ihren spätmodernen Varianten, einen weithin anonym bleibenden Bürger voraussetzen, benötigen eine rechtliche Verfasstheit, ein institutionelles Gerüst sowie möglichst umfassende Daten über die Bevölkerung, um Akte der ordnenden wie der leistenden Verwaltung zu vollziehen.34 Zeitgleich mit der Verbreiterung von politischer Souveränität und gesellschaftlicher Autonomie hat sich in Europa und den USA seit dem frühen 19. Jahrhundert, später dann auch in anderen Teilen der Welt, eine in ihrer politischen Entität zunehmende wachsende Gesellschaftsschicht herausgebildet, die sogenannte Mitte, die in ihrer Ordnung einzuschätzen für politisches Handeln immer wesentlicher geworden ist, weil gesellschaftliche Prozesse gesteuert, administriert und letztlich auch zusammengehalten werden müssen.
Dass ein »Zusammenhalt« notwendig sei, ist eine politische und soziale Grundannahme, die wiederum zu Prozessen der sozialen Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung geführt hat.35 Im 19. Jahrhundert waren diese zunächst von Vorstellungen einer kohärenten Kultur und Sprache, dann auch eines geschichtlich gewachsenen und möglichst homogenen Volkes wie auch einer wehrhaften Nation geprägt. Diese und andere kohäsive Ideologeme sind durch vornehmlich literarische, künstlerische, propagandistische und ritualisierte Bemühungen erzeugt und verstärkt worden.36
Zum nation building gehörte es, bei jedem Einzelnen so etwas wie Zugehörigkeit zu einer nationalen Einheit zu denken sowie die Bereitschaft, darin voll aufzugehen, vorauszusetzen, um Staatsbürger eines Landes, einer Volkswirtschaft, einer Kultur, möglichst auch einer Sprache sowie einer Kommunikationsgemeinschaft zu sein. Die damit erzeugten Kohäsionskräfte sind inzwischen ebenso gut erforscht wie die Verwerfungen dieser Bestrebungen, namentlich die Konstruktion von auswärtigen Feinden und die Marginalisierung von Minderheiten, die problematische Kontrolle und Abwehr von Migrationsprozessen oder die Bereitschaft zu »ethnischen Säuberungen«, die vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um sich griffen, um so etwas wie eine »völkische« Homogenität herzustellen.37 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser politischen Entwicklungen stehen Beschwörungen eines Zusammenhalts wie sie mitunter auch in den Schwüren zur »Nation« oder »Vaterlandsliebe« gefordert wurden, seither zurecht unter Verdacht.
Zu den ab dem frühen 19 Jahrhundert einsetzenden Prozessen von nation building gehörte es, dass die jeweiligen Positionen stark an politische und soziale Milieus rückgebunden waren. Daher waren das politische Diskutieren und Entscheiden in diesem langen Jahrhundert noch relativ kalkulierbar. Die Verflüssigung der Stände und Milieus einerseits sowie die Verbreiterung der Wahlberechtigung sollte im Verlauf des Jahrhunderts die Notwendigkeit für Entscheider erhöhen, sich über Stimmungen in der weit gefassten Bevölkerung, die zugleich Konstituante als auch Konsumgruppe war, ein genaues Bild zu machen. Während sich aus der vormodernen Ständeordnung eine Klassengesellschaft formte, war der Zusammenhalt vor allem durch die Klammer des Nationalen bestimmt, differenzierten sich Haltungen aber gerade bei innenpolitischen Fragen weiterhin sehr schichtenspezifisch aus. Spätestens seit der Französischen Revolution hatten politische Entscheider eine Furcht vor entfesselten »Massen« ausgebildet.38 Daher suchten Politik und Verwaltung nach Methoden, den »Volkswillen« bzw. die »Volksmeinung« nicht nur zu erkennen und zu »ermessen«, sondern gegebenenfalls auch zu steuern, etwa durch ein »social engineering« oder eine umfassendere Planung von Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft.39
Das hat zu zahlreichen Überschneidungsfeldern zwischen Demokratie, Populismus und Diktatur geführt, zwischen diskursiver öffentlicher Meinung, Werbung und Propaganda. Die historischen Erfahrungen mit dem Missbrauch von Parolen des Zusammenhalts zu partikularistischen Zwecken und deren einhergehenden Folgen zogen im 20. Jahrhundert andere Arten der Selbstbeobachtung nach sich, die zumindest dem Selbstverständnis nach neutraler ausgerichtet waren, um der gewachsenen Pluralität der meisten modernen Gesellschaften gerecht zu werden. Sie wurden als Sonden in den jeweiligen »Zeitgeist« oder genauer: in die Verfasstheit der Gesellschaft verstanden, als Messinstrumente, die jenseits autosuggestiver Ideologien den Grad des Zusammenhalts in den jeweiligen Gesellschaften erfragen sollten.
Um deren historische Charakterisierung soll es im Folgenden gehen. Denn auch das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist ein solches Instrument, das seine analytische Tiefe, so die hier vertretene These, durch eine historische Selbstverortung zu intensivieren vermag.40 Hierbei gilt es auch, an die Leistungen der historischen Sozialwissenschaften zu erinnern, mit der nicht nur synchrone, sondern auch diachrone Sonden in die Gesellschaft gelegt wurden.41 Denn die vielfältigen Äußerungsformen der Selbstbefragung mit ihrem variablen Vokabular dienten oft als »Geigerzähler« für gesellschaftliche Trendaussagen, vor allem aber für Krisenphänomene, denen das Potential einer vermeintlich schädlichen Spaltung der »Gemeinschaft« zugesprochen wurde.42
1.»Gemeinschaft« oder »Gesellschaft der autonomen Individuen«?
»Autonomie«, so fasst es der Philosoph Robert Spaemann in einer zu Beginn der 1970er Jahre formulierten Definition zusammen, umschreibe »den Tatbestand der Unabhängigkeit eines Gemeinwesens und seiner Gesetzgebung von fremder Oberherrschaft«, also »ungefähr das, was der neuzeitliche Begriff der Souveränität besagt«.43 Tatsächlich ist der Begriff der »Autonomie« in westlichen Gesellschaften schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit einer weiteren Wortbedeutung aufgeladen worden, nämlich mit dem Anspruch des Individuums, »sich selbst zu bestimmen«.44 Darin ist die berühmte Aufklärungsformel vom »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« enthalten, wie Immanuel Kant sie formulierte. Doch ist dies kein geradliniger oder einseitiger Prozess, vielmehr muss er als dichotomisches Spannungsverhältnis zwischen dem Autonomiestreben...
Erscheint lt. Verlag | 10.4.2024 |
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Reihe/Serie | Gesellschaftlicher Zusammenhalt | Gesellschaftlicher Zusammenhalt |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
Schlagworte | Begriffsgeschichte • Einwanderungsgesellschaft • Eurozentrismus • FGZ • Forschungszentrum Gesellschaftlicher Zusammenhalt • Gesellschaftlicher Zusammenhalt • Gesellschaftsmodell • Historischer Vergleich • Konzepte • Migration • Migrationsgesellschaft • Normative Ordnungen • Praktiken • Rechtspopulismus • Sozialstruktur • Strukturwandel der Öffentlichkeit • transregionale Studien • Verschwörungstheorie |
ISBN-10 | 3-593-45578-1 / 3593455781 |
ISBN-13 | 978-3-593-45578-5 / 9783593455785 |
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