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Genie oder Monster (eBook)

Von der Schwierigkeit, Künstler und Werk zu trennen
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
320 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60476-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Genie oder Monster -  Claire Dederer
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Verdient Genie eine Sonderbehandlung? Ist männliche Ungeheuerlichkeit dasselbe wie weibliche? Und soll Kunst nicht die dunklen Seiten der Psyche beleuchten? Claire Dederer untersucht unsere Beziehung zu Künstlern von Woody Allen bis Michael Jackson und fragt: Wie bringen wir unsere Empörung über ihre persönlichen Fehler mit unserer Liebe zu ihrem Werk in Einklang? Und muss ein Künstler nicht sogar ein Monster sein, um etwas Großes zu schaffen. Hochaktuell, moralisch klug und ehrlich bis ins Mark setzt sich Dederer damit auseinander, ob und wie wir Künstler von ihrer Kunst trennen können.

Claire Dederer, Jahrgang 1967, ist Buchkritikerin, Essayistin und Reporterin. Sie schreibt für die New York Times und war für The Atlantic, Vogue, Slate und das New York Magazine tätig. Zudem ist sie Autorin mehrerer Bücher, darunter der New York Times-Bestseller Poser: Mein Leben in dreiundzwanzig Yogastellungen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Seattle.

Claire Dederer, Jahrgang 1967, ist Buchkritikerin, Essayistin und Reporterin. Sie schreibt für die New York Times und war für The Atlantic, Vogue, Slate und das New York Magazine tätig. Zudem ist sie Autorin mehrerer Bücher, darunter der New York Times-Bestseller Poser: Mein Leben in dreiundzwanzig Yogastellungen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Seattle.

Prolog – Der Vergewaltiger


Roman Polański


Für mich begann alles im Frühjahr 2014, als ich mich mit einem Mal in einem einsamen – wenn auch zugegebenermaßen imaginären – Kampf mit einem abstoßenden Genie wiederfand. Ich recherchierte für ein Buch, das ich damals schrieb, über Roman Polański, und seine Monstrosität ließ mich fassungslos zurück. Sie war so monumental wie der Grand Canyon, gigantisch, abgrundtief und kaum zu begreifen.

Am 10. März 1977 – und ich zitiere diese Details aus dem Gedächtnis – brachte Roman Polański Samantha Gailey in das Haus seines Freundes Jack Nicholson in den Hollywood Hills mit. Er überredete sie dazu, sich auszuziehen, und drängte sie, in den Whirlpool zu steigen. Er gab ihr eine Methaqualon-Tablette (besser bekannt unter dem Namen Quaalude), folgte ihr auf die Couch, auf der sie sich niedergelassen hatte, penetrierte sie vaginal, wechselte die Position, penetrierte sie anal und ejakulierte.[1] So viele Details, die zu einer einzigen, unbestreitbaren Tatsache führen: der analen Vergewaltigung einer Dreizehnjährigen.

Und doch. Trotz meines Wissens um Polańskis Verbrechen konnte ich mir seine Filme noch anschauen, und ehrlich gesagt freute ich mich sogar darauf. Ich sichtete seine Filme in diesem Frühjahr und Sommer 2014, und ihre auf ganz eigene Art und Weise ebenfalls monumentale Schönheit erwies sich als immun gegen mein Wissen um sein Verbrechen. Diese Werke oder diesen Mann hätte ich eigentlich nicht mögen dürfen. Er war schließlich zu Recht Gegenstand von Boykotten, Gerichtsverfahren und öffentlicher Empörung. Aber trotz alledem saß ich hier in meinem Wohnzimmer und schaute fasziniert Ekel, Rosemaries Baby und Chinatown.

Gemütlicher und sicherer kann man sich ein Szenario kaum vorstellen. Mein Haus lag inmitten einer Wiese tief in den Wäldern einer beinahe vollständig kriminalitätsfreien Insel. Das Wohnzimmer blickte nach Süden und wurde selbst an den düstersten Nachmittagen, die der pazifische Nordwesten zu bieten hatte, von Licht durchflutet. Das Zimmer war zusammengewürfelt – und ehrlich gesagt ein bisschen schäbig – möbliert und mit Büchern und Gemälden gefüllt. Es war die Art Raum, die auf der ganzen Welt als Wohnbereich einer Person erkennbar war, die im kulturellen Bereich arbeitete oder zumindest Kultur sehr liebte. Ein Zimmer, das – so versprachen es zumindest all diese Bücher – die Idee verkörperte, dass sich menschliche Probleme durch sorgfältiges Nachdenken und die überlegte Anwendung moralischer Grundsätze lösen lassen konnten. Wenn man so wollte, hätte man diesen Raum als Vermächtnis der Aufklärung bezeichnen können. Zugegebenermaßen ist das ein bisschen viel symbolische Überfrachtung für ein simples Wohnzimmer, vor allem, wenn die Bücherregale von IKEA sind. Aber es war klar zu erkennen, dass in diesem Zimmer alles Übel durch die Kraft des vernunftgesteuerten Denkens in seine Schranken verwiesen werden konnte.

Dies war das mentale Framework, mit dem ich mich daranmachte, die Filme von Roman Polański zu sichten. Oder vielmehr, das Problem Roman Polański zu lösen – das Problem, jemanden zu lieben, der etwas so Schreckliches getan hatte. Ich wollte eine tugendhafte Konsumentin und nachweislich gute Feministin sein, aber gleichzeitig auch ausgewiesenes Mitglied der Welt der Kunst, das direkte Gegenteil einer Banausin. Die Frage, die mich beschäftigte, und die Zwickmühle, in der ich steckte, war, wie ich mich angesichts dieser Zwillings-Imperative, die sich augenscheinlich diametral gegenüberstanden, korrekt verhalten konnte. Ich war mir damals aber ziemlich sicher, dass sich dieses Problem lösen lassen würde, wenn ich nur intensiv genug darüber nachdachte. Die frühen Filme hatte ich bereits hinter mich gebracht, beginnend mit Das Messer im Wasser, der kurz nach Polańskis Zeit an der Kunsthochschule entstanden war. Ich hatte den Film im College zum ersten Mal gesehen, und er hatte mich entsetzt und verwirrt zurückgelassen – so visuell ansprechend und gleichzeitig so beängstigend war er. Er fühlte sich noch genauso an. Danach schaute ich Der Mieter, Ekel, Rosemaries Baby, Chinatown, alles Filme, die ich schon mehrfach gesehen hatte. Meine Erwartung, dass die genaue Kenntnis von Polańskis Verbrechen mein Seherlebnis radikal verändern würde, bestätigte sich nicht unbedingt. Mein Wissen schwebte irgendwie einfach mit im Raum.

Nach den großartigen Filmen aus den 1960er- und 1970er-Jahren schaute ich auch die neueren Streifen. Der Ghostwriter, ein Film, der offenbar nur von ein paar Filmfreaks gesehen worden war. In ihm wird Ewan McGregor als Ghostwriter engagiert, um die Memoiren des Tycoons Pierce Brosnan zu schreiben, aber – man stelle sich vor! – es ist nicht alles so, wie es scheint. Eigentlich hätte der Streifen ein ganz normaler Thriller nach Schema F sein müssen, aber in Polańskis Händen wird er zu einem seltsameren, besseren Werk. Tatsächlich war die erste Einstellung derartig gut, dass sie mich einfach nur verwirrte: Was genau machte sie denn so großartig und meisterhaft? Es handelte sich bei ihr schließlich nur um ein schlichtes Bild: Ein einsames Auto steht im offenen Schlund des Decks einer Fähre. Aber die Szene strahlt eine ungeheure Bedrohlichkeit aus. Auch jetzt, beim Schreiben dieser Worte, sehe ich sie vor mir und spüre ihre zornige, unerbittliche Schönheit.

Irgendwie war es dieser Polański-Moment – nicht der Los Angeles River von Chinatown, nicht die hämisch-bedrohliche »Schokoladenmaus«-Szene aus Rosemaries Baby, nicht die im Negligé durch einen Flur kriechende Catherine Deneuve aus Ekel –, der mich sein ganzes Können spüren ließ. Ein wenig beachteter Moment in einem wenig beachteten Film, der mich dennoch elektrisierte. Sogar Polańskis schwache Momente glänzen – sind Perlen, die er seinen Gegnern vor die Füße schleudert.

Meine Liebe zu diesen Filmen erwuchs nicht aus irgendeiner Form von Vergebung für sein Verbrechen. Eine Vergebung war undenkbar für mich, obwohl ich die Umstände und den Kontext verstand: Sex zwischen erwachsenen Männern und Mädchen im Teenageralter war damals etwas scheinbar Normales und häufig Thema von Songs und Filmen; Gailey selbst hat gesagt, sie verzeihe ihm; Polański war selbst Opfer, seine Mutter in Auschwitz ermordet, sein Vater im Konzentrationslager eingesperrt, seine Frau und sein ungeborenes Kind von der Manson Family abgeschlachtet worden. Das Grauen in Polańskis Hintergrundgeschichte lässt sich nicht leugnen – schließlich sind ihm persönlich zwei der großen Schrecken des 20. Jahrhunderts widerfahren. Aber nichts davon brachte mich dazu, ihm vergeben zu wollen; es war nicht so, als hätte ich Für und Wider abgewogen und mich dafür entschieden, dass sein Verbrechen aufgrund dieser mildernden Umstände letztendlich doch nicht so schlimm gewesen war. Ich wollte diese Filme sehen, weil sie großartig waren. Das ist alles.

Ich sagte mir, Polański sei eben ein Genie und damit basta, Problem gelöst – aber beim Hinsehen konnte ich irgendwann etwas nicht mehr ignorieren, das sich auf verstörende Weise wie ein körperliches Stechen anfühlte. Ehrlich gesagt, ein ziemlich unangenehmes Stechen. Ich hatte Gewissensbisse. Das Gespenst von Polańskis Verbrechen wollte das Zimmer partout nicht verlassen.

Mir wurde klar, dass ich das Problem Roman Polański nicht durch Nachdenken lösen konnte. Der Dichter William Empson sagte einmal, im Leben gehe es darum, sich selbst zwischen Widersprüchen zu behaupten, die durch analytisches Denken nicht aufgelöst werden können.[2] Und ich befand mich inmitten eines solchen Spannungsfeldes. Polański wäre für den Zuschauer überhaupt kein Problem – nur ein weiteres Beispiel dafür, dass manche Männer eben schwarze Löcher sind –, wenn die Filme mies wären. Aber das sind sie nicht.

 

Keine andere zeitgenössische Figur stellt ein derart ausbalanciertes Gleichgewicht dieser beiden gegensätzlichen Kräfte dar: der Absolutheit des Monströsen und der Absolutheit des Genies.

Polański hat Chinatown gemacht, der als einer der besten Filme aller Zeiten gilt.

...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2023
Übersetzer Violeta Topalova
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Ernest Hemingway • Feminismus • Kunst • Künstler • Kunstwerke • Lolita • Männer • #metoo • metoo • Michael Jackson • Moral • Pablo Picasso • Roman Polanski • Vladimir Nabokov • Woody Allen
ISBN-10 3-492-60476-5 / 3492604765
ISBN-13 978-3-492-60476-5 / 9783492604765
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