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Kulturpoetik des Moores (eBook)

Ressource, Phobotop, Reservoir
eBook Download: EPUB
2023
332 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-078678-1 (ISBN)

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Kulturpoetik des Moores -
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Moor hat Konjunktur. Renaturierungsprojekte, die Moore wieder in frühere Zustände zurückversetzen sollen, werden durch den Umweltschutz und die Hoffnung motiviert, durch die Wiederherstellung des CO2-Speichers Moor, dem anthropogenen Klimawandel entgegenzuwirken. Zugleich wagte die Literatur in den vergangenen Jahren zahlreiche Moorgänge. Hierbei wird einerseits an Traditionen des 18. und 19. Jahrhunderts, etwa Anette von Droste-Hülshofs 'Knaben in Moor' angeknüpft, zugleich werden neue Formen des Nature Writings aber auch der Etablierung devianter literarischer Räume erprobt. Der Band vereint Beiträge unterschiedlicher Literatur- und Kulturwissenschaften, die neben Texten der Urbarmachungsbestrebungen des 18. Jahrhundert, den literarischen Moorsemantiken der Romantik und der Lyrik des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts auch Beispiele der südamerikanischen, russischen und belgischen Literatur versammelt. Er bietet damit erstmals eine umfassende literatur- und kulturwissenschaftliche Sondage dieses bislang kaum erforschten literarischen Feldes.



Joana van de Löcht, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster; Niels Penke, Universität Siegen, Siegen.

Zur Kulturpoetik des Moores


Eine Einleitung

Joana van de Löcht
Frankfurt, Germany
Niels Penke
Göttingen, Deutschland

1 Literarische Moorgänge


Moor hat Konjunktur. Wiedervernässung und Renaturisierungsprojekte, die Moore wieder in intakte Zustände zurückversetzen sollen, werden motiviert durch den Umweltschutz und die Hoffnung, durch die Wiederherstellung des CO2-Speichers Moor, dem anthropogenen Klimawandel entgegenzuwirken. Zugleich hat die Literatur in den vergangenen Jahren zahlreiche Moorgänge unternommen und dabei unterschiedliche Zugänge gewählt, sei es im Nature Writing bei Robert Macfarlane und William Atkins, im historischen Roman bei Elke Loewe und Norman Ohler oder in zahlreichen Krimis (u. a. Arnaldur Indriðason, Val McDermid, Felicity Whitmore). Auch in Film und Computerspiel sind Sumpf und Moor ein beliebtes Setting, da sie als liminaler, unzivilisierter und häufig von devianten Charakteren und Monstern belebter Raum Bewährungsproben fordern, an denen Protagonist*innen scheitern oder gestärkt in den geordneten Kulturraum zurückkehren. Solche „Sondagen“ ins „unverzeichnete“, wie es bei Thomas Kling heißt, gehören zum Inventar unserer literarischen Gegenwart.

Das war nicht immer so. Mit Beginn des 18. Jahrhunderts wird in Deutschland die Moorfläche im Rahmen von herrschaftlichen Landgewinnungsprojekten (Oderbruch ab 1747; Urbarmachungsedikt Friedrichs II., 1765), durch Trockenlegung und Flussbegradigungen reduziert. Der Torf als industrielle Ressource wird etwa zur gleichen Zeit ökonomisch relevant und ergänzt die durch Rodung stark dezimierten Baumbestände als Heizmaterial. Nicht zuletzt zielt die Trockenlegung der Moore auf eine Bekämpfung von möglichen Krankheitsherden, der die Idee von Miasmen als schädliche Dämpfe, die zu Erkrankungen führten, zugrunde liegen. Es verwundert also nicht, dass das Moor als literarischer Raum im Laufe des 18. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt.

Im Zuge der fortschreitenden Moorkolonisierung erweisen sich die Naturräume als widerständig, weil das Wasser sich nur unter großem Aufwand bezwingen lässt. Daher werden sie schließlich für die Romantik zum Inbegriff des wilden ungezähmten Raumes, dem man sich nur unter Gefahren aussetzt, der abschreckt, aber zugleich auch lockt. Als Sphäre des Übergangs beherbergt das Moor ein Personal, das in der zunehmend eingehegten ‚Zivilisation‘ keinen Platz mehr findet: Wer, auf welchem Weg auch immer, eintritt, kann Gestalten aus Sagen, Märchen und Albträumen begegnen – dem Teufel, Irrlichtern, Geistern und anderen Grenzlandbewohnern, von denen die Literatur vieles zu erzählen weiß. Beim (imaginären) Gang durch das Moor wird der Mensch gezwungen, sich einer fremden Ordnung zu unterwerfen, der geplante Weg erweist sich zuweilen als ungangbar, weshalb die Moorbesucherin in die Irre geht. Das Moor ist damit nicht allein literarischer Naturraum, sondern im speziellen als Phobotop konturiert, das, wie etwa bei Annette von Droste-Hülshoff, trotz aller Gefährdung auch faszinieren und anziehen kann. Mit Blick auf das Tableau der in diesem Band untersuchten Texte aus der Zeit vor 1900 lässt sich davon ausgehen, dass die Ressource des Fortschritts und das ungezähmte Phobotop zwei Seiten derselben Wahrnehmung sind, von denen die eine um die Aufhebung des Naturraums Moor bemüht ist und die andere den lustvollen Schauder kultiviert, der auch ohne reales Pendant wirksam bleibt.

2 Moore und Sümpfe als semantische Räume


Zu Beginn sei den literarischen Feuchtgebieten ein semantisch und lexikographisch sicherer Grund bereitet. Für das 16. und 17. Jahrhundert ist es noch vergleichsweise schwer, Moor oder Sumpf als literarische Räume ausfindig zu machen, doch tradieren gerade wissensvermittelnde Texte verschiedene Begriffe, um Feuchtgebiete zu beschreiben. Der Blick in das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch zeigt, dass das ‚mur‘ bedeutungsverwandt ist mit Dreck, Kot, Unflat, Schlamm und Schleim (FWb 2019, 3005, mur). Ähnlicher Bedeutung ist ‚mos‘, das eine „wasserreiche Aue, Flußniederung; Wiese, Matte“ bezeichnet und Landschaften meint, die „von der für Mensch und Vieh potenziell bewegungs- und bewirtschaftungsfeindlichen Sumpflandschaft bis hin zur grasreichen, fruchtbaren Wiese, Weide, Matte, seltener auch zum Wald“ reichen (FWb 2019, 2877, mos). Ein weiteres Synonym ist ‚mot‘, das zum einen „Schmutz, Schlamm, Morast, Dreck, Feuchtigkeit, in der man zu versinken droht“ bezeichnet, jedoch auch auf Gegenstände und Personen bezogen werden kann und hier etwa „Niederträchtigkeit“ meint (FWb 2019, 2888, mot). Auch das ‚mur‘ dient zu Wortbildungen wie „murecht, murente, murig“ mit der Bedeutung „unrecht, in Sünden verstrickt“ (FWb 2019, 3006, mur). Hier besitzt es eine Nähe zum „pful“ – Pfütze oder Wasserloch – der als „Sündenpful“ den frühneuzeitlichen Autoren als Beschreibung einer gottvergessenen Gegenwart diente (FWb 2011, 277f., pful). Das Moor hat also bereits in der frühen Neuzeit eine moralische Dimension, die sich aus der Beschmutzung ableitet.

Zedlers Universal-Lexikon legt beredtes Zeugnis über die Ökonomisierung der Moorlandschaften im 18. Jahrhundert ab und verweist unter dem Lemma „Mor“ zunächst auf die Nähe zum „Meer“ (Zedler, Bd. 21, Sp. 1448, Mor), erst im zweiten Schritt wird das Wort „Mor“ erklärt: „Bei denen am Belt hin wohnenden Völckern eine gewisse Art von dunckelbrauner oder schwärtzlichter Erde, deren man sich die Tücher zu färben bedienet, ingleichen schwartze Torff-Erde“ meint. Ergiebiger ist das Lemma „Morast“:

[E]in niedriges, mit faulem und stillstehendem Wasser bedecktes oder untermengtes Land welches, weil das Wasser keinen Fall zum Ablauffen hat, zum Anbau allerdings untauglich ist. […] Dergleichen Moräste auszutrocknen, und das Wasser daraus abzuführen, ist zwar eine kostbare und mühsame, doch überaus nützliche Arbeit, die alle darauf gewandte Mühe u. Unkosten reichlich wieder erstattet. (Zedler, Bd. 21, Sp. 1550, Morast)

Es folgen umfangreiche Ausführungen zu den unterschiedlichen Möglichkeiten der Moor-Entwässerung und zu den Tücken moorigen Untergrunds beim Festungsbau. Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts gehört die Nutzbarmachung des Moores folglich zum Horizont allgemeinen Wissens.

Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache gibt Auskunft über das gegenwärtige semantische Feld und führt als Synonyme für Moor: „Bruch“, „Feuchtgebiet“, „Moorland“, „Morast“ und „Sumpf“. Typische Verbindungen sind zum einen Landschaften wie die „Geest“, die „Feuchtwiese“, die „Heide“ und die „Tundra“ mit pflanzlichem Bewuchs wie dem „Heidekraut“, der „Birke“, der „Latschenkiefer“ oder dem „Trockenrasen“. Weitere Begriffe im semantischen Feld stammen aus dem Bereich der Ökonomisierung des Moors wie „trockenlegen“, „entwässern“, „Kultivierung“ und „Urbarmachung“, der „Torfstecher“, aber auch „renaturieren“. Ein dritter, kleinerer Bereich weist in die Wellness-Industrie, so die „Sole“, das „Thermalwasser“ oder der „Fango“ (DWDS, Moor, das).

Der „Sumpf“ hat weiterreichende Bedeutungen, wenn er neben dem Naturraum auch ökonomische und politisch dubiose Verhältnisse beschreibt und mitunter ein Synonym zur „Kungelei“, „Günstlingswirtschaft“, „Filz“ und „Nepotismus“ bildet. Stärker als das Moor verweist der Sumpf auf südliche Feuchtgebiete, so finden sich unter den typischen Verbindungen der „Dschungel“, der „Urwald“ und die „Lagune“ (DWDS, Sumpf, der). Wenn man einen Sumpf trockenlegt, so kann man das auch im übertragenen Sinne als Korruptionsbekämpfung meinen und der „braune Sumpf“ hat wiederum eine politische Dimension. Anthony Wilsons semantische Bestimmung der Sümpfe „as apt metaphors for a civilization in moral and cultural decay“ (Wilson 2006, 22), bestätigt sich folglich auch im Deutschen.

Die historisch über Jahrhunderte nachvollziehbare weitestgehend synonyme Verwendung von Moor, Morast und Sumpf zeigt an, dass eine Differenzierung verschiedener hydrogenetischer Typen jenseits von Expertendiskursen kaum stattgefunden hat. Die historische Erschließung des Moores geht daher nicht alleine in einer Begriffs˗, Ideen˗, Wissens˗ oder Technikgeschichte auf. Stattdessen bedarf es einer Rekonstruktion der historischen Semantik des Moores, die die „Veränderungen sowohl im regelhaften Gebrauch sprachlicher (und anderer) Zeichen als auch in der Beziehung dieser Zeichen zu kognitiven Korrelaten (Begriffen) als auch in der Referenz dieser auf außersprachliche Sachverhalte“ (Steinmetz 2008, 183) in den Blick nimmt. Zugleich bedarf es einer Analyse der Formen, mit und in denen diese Veränderungen vollzogen werden, also auch jener Medien und Gattungen, die nicht-literarische Schreibweisen miteinbeziehen. Die literarische Kommunikation ist nämlich stets nur ein Teil des Sprechens über das Moor, ein wirkmächtiger zwar, was die kulturelle Imagination betrifft, aber nicht derjenige, der die physischen Zugriffe auf reale Moore anregt und...

Erscheint lt. Verlag 8.5.2023
Zusatzinfo 7 col. ill., 2 b/w tbl.
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Cultural Metaphorology • Historical Environmental Studies • historische Umweltforschung • Kulturmetaphorologie • Moorland Landscape • Moorlandschaft • Nature writing
ISBN-10 3-11-078678-8 / 3110786788
ISBN-13 978-3-11-078678-1 / 9783110786781
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