Reproduktion sozialer Ungleichheit in Deutschland (eBook)
270 Seiten
Herbert von Halem Verlag
978-3-7445-0996-1 (ISBN)
Dr. Boike Rehbein ist Professor für Gesellschaften Asiens und Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Dr. Boike Rehbein ist Professor für Gesellschaften Asiens und Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin.
1 Klassen, Habitus und Kapital
1.1 Reproduktion
Boike Rehbein
Die Strukturen sozialer Ungleichheit sind trotz der zahlreichen Umbrüche und Veränderungen der letzten Jahrzehnte in Deutschland erstaunlich stabil geblieben. Wir beobachten eine ganz deutliche Vererbung der sozialen Position von einer Generation an die nächste. Die strukturellen Bedingungen der Vererbung bezeichnen wir als Reproduktion. Reproduktion bedeutet Stabilität über die Zeit, insbesondere Vererbung von einer Generation an die nächste. Die Reproduktion zeigt sich in der Weitergabe wichtiger Ressourcen und der relativen sozialen Position. Auch wenn die Kinder einen völlig anderen Beruf, andere Interessen und Freunde, andere Fähigkeiten und einen anderen Lebensstil haben als die Eltern, bleibt die soziale Position relativ zum Rest der Gesellschaft in den meisten Fällen sehr ähnlich – sie wird also von den Eltern zum Kind reproduziert.
In den folgenden Absätzen werden wir der Weitergabe sozial wertvoller Eigenschaften und des Zugangs zu ihnen nachgehen. Dabei wird sich herausstellen, dass die Weitergabe nicht individualisiert oder in zufälligen Konfigurationen, sondern innerhalb kaum überwindbarer Grenzen zwischen sozialen Klassen geschieht. Ferner zeigt sich, dass die Eigenschaften nicht isoliert auftreten, sondern in ganz bestimmten Kombinationen. Die Kombinationen ermöglichen uns, die sozialen Klassen genauer zu definieren. Vor diesem Hintergrund werden wir herausarbeiten, welche Eigenschaften sich für unsere Erforschung der Klassen in Deutschland als besonders aussagekräftig erwiesen haben. Im nächsten Kapitel werden wir die sozialen Klassen sowie die Grenzen zwischen ihnen eingehender darstellen und auf der Basis unserer Interviews illustrieren.
Klassen als Merkmalskomplexe
Die in Deutschland abgewerteten Menschen mit geringen Chancen des Zugangs zu wertgeschätzten Gütern und Tätigkeiten haben fast ausnahmslos Eltern, die selber der Abwertung ausgesetzt waren. Diese Kinder sind nicht allein durch die mangelnde gesellschaftliche Anpassung, die Geldknappheit, das geringe Bildungsniveau oder das schwache soziale Netzwerk der Eltern benachteiligt, sondern all diese Faktoren wirken gleichzeitig. Sie werden fast immer durch den Lebenslauf verstärkt, der – stereotyp gesprochen – nicht durch Klavierunterricht, Waldorfschule und Golfclub führt, sondern durch Drogen, Hauptschule und Straßengang. Hierzu gesellen sich die Auswirkungen der elterlichen Position, die Frustration oder Aggression bedingt. Sie äußern sich im günstigen Fall als Vernachlässigung, im ungünstigen als Missbrauch. Unsere Eingangsfrage nach ihrer Herkunftsfamilie beantwortet eine Arbeitslose mit den sechs Worten: „Also Vater Kuhstall gearbeitet, Mutter Schweinestall.“ Damit ist alles gesagt, und das Interview hätte beendet werden können. Es ist klar, dass die Eltern der Interviewten weder Bildung noch Vermögen noch einflussreiche Kontakte mitgeben konnten. Die Formulierung drückt darüber hinaus eine negative Bewertung des Elternhauses aus, geradezu eine Verachtung. Sie ist brutal. Die in ihr implizierte Gewalt wurde im Verlauf des Interviews als elterlicher Missbrauch offenkundig, der dazu führte, dass sich die Interviewte in psychiatrischer Behandlung befindet und arbeitsunfähig ist. Ihr größter Wunsch besteht darin, eine Frisörlehre zu absolvieren – um auf der untersten Ebene in den Arbeitsmarkt und damit die Gesellschaft integriert zu werden.
Wer in ein „besser“ bewertetes Elternhaus geboren wird, hat von Beginn an eine andere Perspektive, andere Ziele und andere Möglichkeiten. „Ich hab halt Volkswirtschaft studiert. Eigentlich war, eigentlich wollte ich immer, für mich war es irgendwie klar, dass ich studieren gehe, ich wusste auch nicht, woher das jetzt so kam, also es war irgendwie total selbstverständlich.“ Eine Studentin mit wohlhabenden Eltern ist überzeugt, in 20 Jahren eine Führungsposition zu bekleiden – was sonst? Und der Gründer eines bekannten Unternehmens der New Economy, sagt: „Ich wusste schon mit acht, dass ich Unternehmer werden will. Dafür bietet Deutschland hervorragende Bedingungen.“ Es ist allerdings kein Zufall, dass sein Vater Ingenieur in leitender Position war und nicht im Kuhstall gearbeitet hat. Ebenso wenig verwundert es, dass seine Freundin im Management arbeitet und aus einer wohlhabenden Familie stammt.
Man hat den Eindruck, dass die skizzierten Menschen unterschiedlichen Gesellschaften angehören, von verschiedenen Planeten stammen. Das ist eine gute Beschreibung sozialer Ungleichheit. Die Menschen leben in unterschiedlichen Welten, deren jede einen eigenen Alltag, eine eigene Sprache, eine eigene Mentalität hat. Sie gehören gleichsam mehreren Stämmen an, die sich von ethnischen Gruppen dadurch unterscheiden, dass sie eine hierarchische Ordnung innerhalb derselben Gesellschaft bilden. Genau das kennzeichnet soziale Ungleichheit. Wie entstehen und perpetuieren sich nun die Stämme oder Kulturen und ihre Hierarchie innerhalb der Gesellschaft?
Die Merkmale der sozialen Person werden in einer Umgebung erworben, die in der Kindheit von den Erziehungspersonen und sodann vom unmittelbaren Umfeld geprägt ist. Es verwundert daher nicht, dass grundlegende Handlungsmuster von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Erstaunlich ist hingegen, in welchem Maße auch Eigenschaften, die in späteren Lebensjahren ausgebildet werden, denen der Erziehungspersonen gleichen. Man würde erwarten, dass das Kind eines Sportlers oder einer Musikerin in frühen Jahren sportliche oder musikalische Fähigkeiten entwickelt, zumal diese möglicherweise zum Teil sogar biologisch vererbt werden. Man würde jedoch nicht unbedingt erwarten, dass die Menschen ähnliche Berufe ergreifen wie ihre Eltern. Genau das ist allerdings in einem überraschenden Maße der Fall.
Tabelle 1 zeigt, dass 30 Prozent der Un- und Angelernten (Berufsklasse 1; nach Oesch 2006), 62 Prozent der gelernten Arbeiter (Berufsklasse 3), 33 Prozent der mittleren Angestellten (Berufsklasse 4) und 39 Prozent der Führungskräfte einen Vater haben, der in derselben Berufsgruppe arbeitete. Dabei ist zu bedenken, dass die Töchter eher den Beruf der Mutter ergreifen als den des Vaters. Diese Korrelation ist in der Tabelle gar nicht berücksichtigt, sondern sie zeigt allein die Identität der Berufsgruppe aller von uns befragten Berufstätigen mit der Berufsgruppe ihres Vaters. Durch diese Beschränkung wollen wir aufzeigen, wie stark die Reproduktion des Berufs selbst in einer einzigen Dimension ist. Korreliert man Söhne nur mit Vätern und Töchter nur mit Müttern, steigen die Prozentzahlen für die Reproduktion des elterlichen Berufs, die in der Diagonale der Tabelle liegen, noch einmal um bis zu 20 Prozentpunkte.
Tabelle 1: Korrelation des väterlichen und des eigenen Berufs
Anm.: Berufsklassen in Anlehnung an Oesch (2006: 88): 1. Un- und Angelernte, 2. Fachkräfte, 3. Semiprofessionelle, 4. Professionelle; das Sample umfasst die aktuell Berufstätigen in der von uns erhobenen Gesamtheit, also rund die Hälfte der knapp 3000 Befragten.
Noch überraschender als der Zusammenhang zwischen dem Beruf einer Person und dem ihres Vaters ist die Ähnlichkeit der Berufe über mehrere Generationen hinweg. Ein Drittel der Deutschen, die im Berufsleben stehen, sind derselben Berufsgruppe zuzurechnen wie ihr Großvater väterlicherseits (siehe Tabelle 2). Wenn wir die Vererbung nicht allein auf den Großvater väterlicherseits beschränken, sondern alle vier Großeltern in Betracht ziehen, ist die Kontinuität der Berufswahl über die Generationen hinweg noch stärker. Außerdem ist die Hälfte der Bevölkerung weiblich, und die Berufswahl der Frauen ist nicht mit der der Männer identisch.
Ferner nimmt die Nachfrage nach manchen Berufsgruppen zu, die nach anderen ab. Beispielsweise sind immer weniger Menschen in der Landwirtschaft und im einfachen produzierenden Gewerbe beschäftigt, während die Nachfrage nach Angestellten im Dienstleistungssektor steigt (Schäfers 2004: 174ff). Diesen einflussreichen Faktoren zum Trotz haben mehr als 30 Prozent der Deutschen einen ähnlichen Beruf wie ihr Großvater väterlicherseits. Tabelle 2 zeigt diese Ähnlichkeit, sie spiegelt aber auch ein Ansteigen des beruflichen Niveaus wider. Während viele Großväter einen einfachen Beruf in Landwirtschaft und Industrie ausübten, sind diese Berufe aus der heutigen deutschen Gesellschaft beinahe verschwunden. Wie mit Tabelle 1 wollen wir mit Tabelle 2 ausdrücken, dass bereits in einer recht isolierten Dimension eine starke Reproduktion der sozialen Position über Generationen hinweg zu beobachten ist.
Tabelle 2: Beruf des Großvaters väterlicherseits und eigener...
Erscheint lt. Verlag | 1.7.2015 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
Schlagworte | Bourdieu • Brasilien • Distinktion • Gender • Gesellschaftsanalyse • Gesellschaftskritik • Habitus • Indien • Interview • Kapital • Klasse (soziologisch) • Lebensläufe • Lebensstile • Michael • Migration • Milieus • Pierre • Qualitative Forschung • Soziale Ungleichheit • Sozialstruktur • Soziokulturen • Südostasien • Symbolische Klassifikation • symbolische Rekonstruktion von Ungleichheit • Ungleichheitsforschung • Vester |
ISBN-10 | 3-7445-0996-6 / 3744509966 |
ISBN-13 | 978-3-7445-0996-1 / 9783744509961 |
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