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Soziale Bewegungen (eBook)

Entstehung und Stabilisierung am Beispiel der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
412 Seiten
Herbert von Halem Verlag
978-3-7445-1091-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Soziale Bewegungen -  Alexander Leistner
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Alexander Leistner geht in seiner Studie der Frage nach, wie soziale Bewegungen als eine fragile Form sozialer Ordnung entstehen und sich stabilisieren. Eine hier vorgeschlagene biographietheoretische Bewegungsforschung liefert analytische Bausteine, um diese Form der Ordnungsbildung zu fassen. Dabei kommen gesellschaftliche und biographische Konfliktkonstellationen in den Blick, in denen Engagement entsteht. Es werden die sozialen Kontexte herausgearbeitet, in denen es sich (pfadabhängig) stabilisiert. Schließlich wird gezeigt, dass Schlüsselfiguren sozialen Bewegungen als informelle Rollenordnung eine (relativ) stabile Gestalt geben. Alexander Leistner entwickelt damit ein analytisches Instrumentarium zur Historisierung sozialer Bewegungen und wendet dieses exemplarisch und damit auch als Beitrag zur Zeitgeschichte auf die unabhängige Friedensbewegung in der DDR (und deren Entwicklung nach 1989) an. Zur Untersuchung wurden biographische Interviews mit langjährigen Aktivisten und Aktivistinnen geführt und um weitere Zeitzeugnisse ergänzt.

Dr. Alexander Leistner ist wissenschaftlicher Referent in der Fachgruppe 'Politische Sozialisation und Demokratieförderung' des Deutschen Jugendinstituts. Er studierte Soziologie, Evangelische Theologie und Erziehungswissenschaft an der TU Dresden. An der Universität Leipzig promovierte er mit der hier vorliegenden Studie im Fach Soziologie. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Konflikt- und Gewaltforschung, soziale Bewegungen, Kultursoziologie und Qualitative Methoden der Sozialforschung.

Dr. Alexander Leistner ist wissenschaftlicher Referent in der Fachgruppe 'Politische Sozialisation und Demokratieförderung' des Deutschen Jugendinstituts. Er studierte Soziologie, Evangelische Theologie und Erziehungswissenschaft an der TU Dresden. An der Universität Leipzig promovierte er mit der hier vorliegenden Studie im Fach Soziologie. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Konflikt- und Gewaltforschung, soziale Bewegungen, Kultursoziologie und Qualitative Methoden der Sozialforschung.

2 Soziale Bewegungen: Prekäre Ordnungsbildung und die Bedeutung des Langzeit-Engagements am Beispiel der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR


„Eine Erklärung sollte ihren Ausgang davon nehmen, das zu erklärende Phänomen so genau zu beschreiben, dass klar ist, worin der erklärungsbedürftige Tatbestand besteht.“

(Schimank 2008, S. 210)

In diesem Kapitel wird gezeigt, dass die Frage nach den Bedingungen für die Stabilisierung des Engagements sich nicht von der Frage trennen lässt, was soziale Bewegungen sind, wie sie entstehen, sich stabilisieren und wieder verschwinden. Wichtige Ansätze für die Erklärung der Entstehung und Entwicklung von sozialen Bewegungen liefert der Blick auf die Biographien der Aktivisten.

Was wird aus einer sozialen Bewegung, wenn Erfolg und Bedeutung von einst verblassen; wenn die politischen Rahmenbedingungen, unter denen sie entstand, sich wandeln; wenn der Kalte Krieg beendet und die Mauer gefallen, wenn die unmittelbare Kriegsbedrohung gewichen ist und sich militärische Gewalt nunmehr fernab in den Kriegen und Kleinstkonflikten dieser Welt blutig austobt; wenn die Wut und Angst von damals verpufft und die Empörung glatt geschliffen ist; wenn der Idealismus der immer noch Aktiven abgekämpft klingt, zuweilen melancholisch und nicht selten verbittert?

Was wird aus einer sozialen Bewegung? Diese Frage stellte der ZEIT-Journalist Christof Siemes im Jahr 2002 der gesamtdeutschen Friedensbewegung angesichts der drohenden Irak-Invasion und besuchte für eine große Reportage verschiedene Gruppen und Initiativen in Ost und West. Und auch wenn es in seinem Porträt nicht um die ostdeutschen Gruppen der 1980er Jahre geht, so ist das Beispiel doch exemplarisch für das hier verhandelte Grundproblem. Siemes’ Antwort lautet – und man mag hier an die Stagnation der Friedensgruppen in Ost und West nach der beschlossenen Pershing-II-Stationierung denken: Die Friedensbewegung schmilzt zusammen auf einen heterogenen Kern von wenigen Gruppen und Langzeitaktivisten. Sie hält Winterschlaf. Mit Blick auf die öffentlichkeitswirksamen Proteste gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik schreibt der Journalist:

„Die letzten Mutlanger Pershings verschwanden 1990 und mit ihnen die German Angst vor dem atomaren Schlachtfeld Deutschland. ‚Besuchen Sie Europa, solange es Europa noch gibt‘ – das Flugblatt aus dieser bewegten Zeit mutet heute an wie eine hethitische Keilschrifttafel. Wo einst die Abschussrampen standen, wird jetzt an einer Einfamilienhaussiedlung geheimwerkelt, in den beiden Bunkern fühlen sich Schafe, Heavy Metaller und ein paar Fuder Straßenbelag zu Hause. Geblieben ist die Pressehütte, ursprünglich ein geräumiger Stall […] Was bleibt von der Friedensbewegung außer Brennholz und ein paar Devotionalien? ‚Wir waren nicht erfolgreich‘, sagt einer aus der Tiefe eines ausrangierten Sofas in der Pressehütte. ‚Keine Raketen nach Mutlangen‘, war die einfache Losung. Und heute? Lagern sie halt woanders, in Büchel in der Eifel zum Beispiel, 36 Sprengköpfe. Aufregen tut das niemanden mehr. Jetzt ist der Krieg woanders und alles nicht mehr so einfach. Wer ist gut, wer böse in einer Welt monströser Terroranschläge und ethnischer Säuberungen? Der warme Mantel der Betroffenheit schützt nicht mehr vor den bitteren Wahrheiten. Wenn die Alten von den einst 20 000 Demonstranten reden, leuchten die Augen der Jungen. Wenn sie zum Protest gegen Rechts oder Kriegseinsätze oder irgendwas rufen, kommen 300 Leute. Totale Ignoranz hat einer bei seinen Altersgenossen ausgemacht. ‚Als ich vom Engagement für Menschenrechte erzählt habe, fragt mich einer: ‚Hast du was verbrochen? Bist du dazu verknackt worden?‘

‚Man muss aber auch mal nix tun dürfen‘, wirft eine alte Kämpin zaghaft ein. Der Job, die Kinder, das Haus, der Garten – irgendwann ist alle Kraft aufgezehrt, nichts bleibt für das Ehrenamt des Pazifismus. Und nichts ist leichter, als bei der Friedensbewegung nicht mehr mitzumachen: Man geht einfach nicht mehr hin. Es gibt keine Mitgliedschaft, die man kündigen müsste. Sie ist nur eine soziale Bewegung, an der man teilhat, weil man an die Bergpredigt glaubt oder an Mahatma Ghandi. Andere können die Bombennächte des letzten großen Krieges nicht vergessen, und viele wollen bloß, dass man um Ressourcen nicht kämpft, sondern sie gerecht verteilt. Unberechenbar wie ein Gebirgsbach ist die Bewegung, mal mitreißend, mal fast versickert.“ (Siemes 2002)

Der Journalist zeichnet das Porträt einer Bewegung in einer Phase der Stagnation und Marginalisierung zwischen den Zeiten starker Mobilisierung und öffentlich aufbrandender Protestwellen. Sie ist öffentlich kaum sichtbar und findet wenig Resonanz, aber das informelle Netzwerk von Aktivisten, Gruppen und Initiativen bleibt bestehen; ebenso wie die aus gemeinsam geteilten Schlüsselerfahrungen, Initialerlebnissen und Gründungsmythen gespeiste und in Erzählungen, Symbolen und Ritualen tradierte kollektive Identität. Das ist ein Zustand, den die Soziologin Verta Taylor mit Blick auf die US-amerikanische Frauenbewegung „movement in abeyance“ (Taylor 1989) nannte, eine Bewegung in der Schwebe, die zyklisch und teilweise machtvoll wieder erstarkt: abhängig vom Anlass, von den entsprechend günstigen politischen Gelegenheitsstrukturen, von der Bündnispolitik der Organisatoren und deren Mobilisierungsstrategien (für die Protestzyklen der Friedensbewegung vgl. Klandermans 2010) und doch unberechenbar. Um es an einem aktuellen Beispiel zuzuspitzen: Kein Jahr nach Erscheinen der ZEITReportage am 15. Februar 2003 demonstrierten in Deutschland Hunderttausende gegen den drohenden Angriff der USA und ihrer Alliierten auf den Irak. Allein in Berlin versammelten sich 500 000 Menschen und weltweit zeitgleich viele Millionen zur größten parallelen Protestaktion der Menschheitsgeschichte (vgl. Walgrave/Rucht 2010), circa 10 Millionen auf den zentralen Demonstrationen in 22 Ländern (Verhuulst 2010, S. 16 f.). Und es gehört zu besagter Unberechenbarkeit, dass sich im Februar 2010 zur Großdemonstration gegen den Kriegseinsatz in Afghanistan, für die bundesweit aufgerufen wurde, wiederum nur einige Hundert Teilnehmer nach Berlin verirrten – obwohl in der Öffentlichkeit hitzige Debatten geführt wurden, um die Bombardierung von afghanischen Zivilisten und kritische Äußerungen der damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann – „wie ein Gebirgsbach ist die Bewegung mal mitreißend, mal fast versickert“.

Es sind denn auch vor allem öffentlichkeitswirksame Massendemonstrationen wie 1983 im Bonner Hofgarten und aufsehenerregende Aktionen wie die Blockade des Mutlangener Pershing-II-Depots durch die blumenbehelmte Petra Kelly oder den Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, die aufmerken ließen und bis heute das Bild und die Erinnerung an die bundesdeutsche Friedensbewegung prägen. Überblendet wird dabei die Vielgestalt der Bewegung, deren frühe, weitgehend „unsichtbaren“ Anfänge, die unterschiedlichen Strömungen, Friedenskonzeptionen und Aktionsformen.

Bevor also die Frage verhandelt wird, was aus einer Bewegung wird und wie sich das Langzeit-Engagement ihrer Mitstreiter erklären lässt, gilt es grundsätzlicher zu klären, was eine soziale Bewegung überhaupt ist und mehr noch, warum die unabhängige Friedensbewegung in der DDR dazu zu zählen ist. Darüber entbrannte in den 1990er Jahre eine Debatte in der DDR-Forschung, was die Begriffsverwendung daher begründungsbedürftig macht.

2.1 Soziale Bewegungen – Begriff und Definition


Eine gängige wissenschaftliche Definition lautet:

„Eine soziale Bewegung ist ein auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protests – notfalls bis hin zur Gewaltanwendung – herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen.“ (Rucht 1994a, S. 76 f.)

Die auf Joachim Raschkes frühe Bestimmung (1988, S. 75–90) aufbauende Definition Dieter Ruchts bestimmt soziale Bewegungen, zu denen klassisch auch die Friedensbewegung zählt, über a) deren soziale Gestalt, b) den Inhalt und die Richtung des Protestes sowie c) die verschiedenen Formen, aktiv zu sein.

  1. Zur Besonderheit von Struktur und Gestalt bewegungsförmigen Protestes gehört zunächst und ganz zentral sein vergleichsweise geringer Organisationsgrad: Es gibt keine formalisierte Mitgliedschaft wie etwa in Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen, auch wenn diese Organisationen Teil sozialer Bewegungen sein können. „Bewegungen existieren vielmehr als ein netzförmiger Verbund von Personen, Gruppen und Organisationen“ (Rucht 2007, S. 16 f.), als „gleichberechtigtes Nebeneinander Aberhunderter Kleinstinitiativen, in Nischen hoch spezialisierter Anteilnahme.“ (Siemes 2002). Entsprechend heterogen sind die Organisationen in der Friedensbewegung (vgl. Buro 2008, S. 278–281). Es gibt Gruppen und Initiativen, die sich lokal organisieren und die jährlichen Ostermärsche durchführen...

Erscheint lt. Verlag 4.4.2016
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Aktivismus • Aktivisten • Bewegungsforschung • Biografie • Biographie • DDR • Friedensbewegung • Interview • Politik • Politisches Engagement • Soziale Bewegung • Soziale Ordnung • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-7445-1091-3 / 3744510913
ISBN-13 978-3-7445-1091-2 / 9783744510912
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