Verstehen als Zugang zur Welt (eBook)
329 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45098-8 (ISBN)
Uta Karstein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Marian Burchardt ist Professor am Institut für Soziologie der Universität Leipzig. Thomas Schmidt-Lux ist Professor am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig.
Uta Karstein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Marian Burchardt ist Professor am Institut für Soziologie der Universität Leipzig. Thomas Schmidt-Lux ist Professor am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig.
Praxis verstehen
Maria Jakob
Während meines Studiums der Kulturwissenschaften in Leipzig fand immer montags ab 17:15 Uhr eine der für mich wichtigsten und prägendsten Veranstaltungen statt: die Forschungswerkstatt mit Monika Wohlrab-Sahr. Entsprechend des Grundgedankens der sozialwissenschaftlichen Forschungswerkstätten (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 49; Reichertz 2013) ging es dabei darum, die Forschungsprojekte der teilnehmenden Studierenden, Doktorandinnen und Gästen zu diskutieren und gemeinsam Datenmaterial zu interpretieren. Meist waren die Sitzungen zweigeteilt und wir besprachen zwei unterschiedliche Projekte. Dies bedeutete, sich nach der Hälfte der Zeit gedanklich aus dem bis dahin zentralen Material wieder herauszureißen und dann – nach einer kurzen Pause, in der man schnell in die Cafeteria rennen und sich einen Schokoriegel beziehungsweise Kaffee schnappen konnte – etwas völlig Anderem zuzuwenden, einem anderen Thema, anderen Fragestellungen und anderem Datenmaterial. Zusammengehalten wurden die Sitzungen von der Gruppe und den intensiven Debatten um Interpretationen, Lesarten und Bezugskontexten.
Ähnlich wie die Termine der Forschungswerkstatt sind meine Überlegungen zu Praxis verstehen zweigeteilt und inhaltlich ziemlich disparat: Es geht, nach einer grundlegenden Einleitung in (m)ein Verständnis von Verstehen, um zwei gänzlich unterschiedliche Auffassungen von Praxis. Zuerst diskutiere ich, wie sich Praxistheorie und ein verstehender Zugang zur sozialen Welt zueinander verhalten und welche methodologischen und methodischen Implikationen dies hat. Danach wechsele ich die Praxis und auch den Darstellungsmodus des Textes und erzähle, was ich in meiner Rolle als wissenschaftliche Begleiterin sozialpädagogischer Arbeitspraxis erlebt und verstanden habe. Was diese zwei verschiedenen Zugänge zu unterschiedlicher Praxis zusammenhält, ist – auch wenn diese Pointe etwas platt gerät – eine Praxis des Verstehens, die sich nicht zuletzt in den montäglichen Sitzungen der Forschungswerkstatt etabliert und eingeschliffen hat.
The operation(s) called Verstehen9
Obwohl die Diskussionen um Verstehen und verstehende Soziologie endlos und (wenn es bei einem vertretbaren Aufwand bleiben soll) unüberblickbar sind, scheint mir, dass dabei erstaunlich wenig zur Sprache kommt, was eigentlich dabei passiert, wenn wir verstehen. Bevor ich also zu meinen doppelten Überlegungen zu Praxis verstehen übergehe, möchte ich systematisch entwickeln und transparent machen, was es für mich heißt, wenn ich verstehe beziehungsweise verstehen will – es geht also zunächst um das Verstehen selbst als Praxis.10
In der verstehenden Sozialforschung, prominent mit Bezug auf Alfred Schütz’ Überlegungen zu Common Sense und wissenschaftliche Interpretation menschlichen Handelns (Schütz 2004) wird eine Kontinuität von alltäglichem und wissenschaftlichem Verstehen betont: Beides ist Sinnverstehen und Fremdverstehen. In der alltäglichen Kommunikation ist ein Verstehen beziehungsweise des Gegenübers die Voraussetzung dafür, an dessen Aussage sinnvoll anzuschließen. Wissenschaftliches Verstehen wird daran anschließend als »methodisch kontrolliertes Fremdverstehen« (Schütze u.a. 1980; vgl. auch Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 16 f.) konzeptualisiert. Die Inhalte des Verstehens werden als ähnliche betrachtet, der Hauptunterschied ist, dass das wissenschaftliche Verstehen handlungsentlastet ist: Der oder die Verstehende versteht nicht mehr um den kommunikativen Anschluss willen, das Verstehen wird vielmehr zunächst Selbstzweck (oder wird zum Mittel eines »Erklärens«, vgl. Weber 1984: 19).
Ich würde aber – und damit gehen wir zeitlich zurück zu Max Weber – akzentuieren: Das wissenschaftliche Verständnis ist nicht nur handlungsentlastet, es soll auch vom konkreten Kontext abstrahieren – nicht in dem Sinne, dass der konkrete Kontext nicht notwendig für das Verstehen wäre, sondern in dem Sinne, dass es nicht der konkrete Kontext ist, der wissenschaftlich interessiert, sondern das, was über den konkreten Kontext hinausweist. Wissenschaftlich interessant sind (für die Soziologie) »Typen des Ablaufs von Handeln« (Weber 1984: 51, kursiv im Original) oder auch Regelmäßigkeiten. Wissenschaftliches Verstehen entspricht also einer Herausarbeitung von Regeln oder Mustern, nach denen Handeln abläuft. Aufbauend darauf fasse ich wissenschaftliches Verstehen allgemein als ein Erkennen und Herausarbeiten der Muster und Relationen auf, nach und in denen soziales Handeln, aber auch darüber hinaus soziale Situationen, Kommunikationen oder Interaktionen ablaufen. Damit ergänze ich Webers Definition einerseits insofern, dass es nicht nur um Handeln, sondern allgemein um soziale Prozesse und Situationen gehen soll, andererseits ergänze ich die primär zeitlich gedachte Frage nach den Verlaufsmustern von Handeln/Situationen um den synchronen Aspekt der Relationen, in die das Handeln oder die Situation eingebettet ist beziehungsweise der Bezüge, die sich aus ihm/ihr ergeben.
Wie können solche Muster und Relationen erkannt und erforscht werden? Um ihre jeweilige Spezifik herauszuarbeiten, hilft es, Muster beziehungsweise Relationen als Selektionen zu verstehen – nicht im intentionalen Sinn, dass es unbedingt situativ einen auswählenden Akteur bräuchte, der Handlungs- oder Interaktionsoptionen selegiert – sondern in dem Sinne, dass die hier ablaufenden Muster und Bezugnahmen soziale Konstruktionen und damit kontingent sind. Dies hat für das Verstehen methodische Implikationen.
Einen Forschungsgegenstand verstehen zu wollen, verknüpft folglich die berühmte Frage von Erving Goffman »Was geht hier eigentlich vor?« (Goffman 1980: 16) methodisch mit der Komplementärfrage »Was geht hier eigentlich nicht vor?«. Was ist der Sinnzusammenhang dessen, was vor sich geht, vor dem Hintergrund dessen, was alles auch noch passieren könnte, aber eben doch nicht passiert? Um dies analytisch fassbar zu machen, helfen die zwei typischen basalen Interpretationsgrundoperationen der rekonstruktiven Datenanalyse: das sequentielle und das vergleichende Vorgehen (vgl. auch Böcker/Leistner in diesem Band).
Sequentielle Interpretation folgt der zeitlichen Struktur sozialer Vorgänge (oder auch deren Nacherzählung) und fragt Schritt für Schritt, welche Selektionen hier passieren im Sinne dessen, was situativ alles möglich und denkbar wäre und was aber tatsächlich als Nächstes geschieht (oder erzählt wird).11
Vergleichende Interpretation ist einerseits in die sequentielle Interpretation eingelagert, wenn zur Eröffnung des imaginären Möglichkeitsraums, was alles passieren könnte und welche Bezugnahmen überhaupt möglich wären, andere Situationen oder sozialen Vorgänge beziehungsweise Erzählungen vergleichend herangezogen werden. Andererseits dient das Vergleichen auch eigenständig dazu, die Spezifik der zu untersuchenden Selektion herauszupräparieren, siehe schon das Prinzip des Abgleichs mit idealtypischen Konstruktionen bei Max Weber (1922: 190 f.), das »ständige Vergleichen« in der Grounded Theory (Glaser 1965) oder die Praxis des abwegigen (»schockierenden« oder unangemessenen) Vergleichs bei Howard S. Becker (Becker 1998: 150). Für beide Operationen beziehungsweise Denkwerkzeuge hilft es ungemein, diese diskursiv im Rahmen einer gemeinsamen Interpretation in einer Forschungswerkstatt ein- und auszuüben.
Um ein solches Verstehen im Sinne der sequentiellen beziehungsweise komparativen Rekonstruktion sozialer Muster, Relationen und Selektionen soll es im nächsten Abschnitt nun zunächst in Bezug auf eine Analyse sozialer Praktiken gehen.
Praxis verstehen (I): Praxistheorie als verstehender Ansatz
Verstehen steht klassisch in starkem...
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2022 |
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Co-Autor | Maria Jakob, Sighard Neckel, Martina Löw, Hubert Knoblauch, Hubert Seiwert, Hartmann Tyrell, Nahid Mozaffari, K. C. Mujeebu Rahman, Anindita Chakrabarti, Silke Gülker, Christoph Kleine, Karl-Siegbert Rehberg, Alexander Leistner, Julia Böcker, Hans-Georg Soeffner |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
Schlagworte | Alltagsverständnis • Alltagswelt • Entschlüsseln von Sinn • Sinn • soziale Dimensionen • Soziologie • soziologische Grundkategorie • soziologisches Konzept • soziologisches Verstehen • Weber |
ISBN-10 | 3-593-45098-4 / 3593450984 |
ISBN-13 | 978-3-593-45098-8 / 9783593450988 |
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