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Kindliche Mehrsprachigkeit (eBook)

Grundlagen - Störungen - Diagnostik
eBook Download: EPUB
2022 | 3. Auflage
156 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61587-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kindliche Mehrsprachigkeit -  Solveig Chilla,  Monika Rothweiler,  Ezel Babur
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Immer mehr Kinder wachsen 'lebensweltlich zweisprachig' auf. Dieses Buch bietet eine Einführung in die kindliche Mehrsprachigkeit. Ein Schwerpunkt liegt auf der Symptomatik und Diagnose von Sprachentwicklungsstörungen bei mehrsprachigen Kindern. Beispiele, Exkurse zu speziellen Fragen und Übungen vertiefen die Ausführungen. Neu in der 3. Auflage: Diagnostik von Developmental Language Disorders im Deutschen als Zweitsprache sowie eine Erweiterung der Modelle lebensweltlicher Zweisprachigkeit um die Bedeutung von Erbsprachen, wobei auch der Deutscherwerb geflüchteter Kinder illustriert wird. Zudem wurde der Fahrplan zur sprachpädagogischen Diagnostik aktualisiert.

Prof. Dr. Solveig Chilla ist Professorin für Sprachbehindertenpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg mit den Arbeitsschwerpunkten Heterogenität und Inklusion.<a href="http://www.solveigchilla.de" target="_blank">Prof. Dr. Monika Rothweiler, germanistische Linguistin und Sprachbehindertenpädagogin, war Professorin für den Förderschwerpunkt Sprache/Sprachbehindertenpädagogik im Lehrgebiet Inklusive Pädagogik an der Universität Bremen. Ezel Babur ist Oberstudienrätin an einem Hamburger Gymnasium, Fachseminarleiterin für das Fach Türkisch im Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung und Lehrbeauftragte an der Europa-Universität Flensburg. Sie ist in der Türkei geboren und 1997 nach Deutschland eingewandert.

2Charakteristika des Sprachgebrauchs mehrsprachiger Kinder

Wir alle kommen täglich mit mehr Sprachen als nur unserer Erstsprache in Kontakt. Dies zeigt sich besonders dann, wenn sich nichtdeutsche Wörter in unseren Alltag mischen. Schon morgens beim Bäcker wird uns „Kaffee to go“ angeboten, wir essen mittags einen „Snack“ und gehen abends zum „Training“ ins „Lady-Fitness-Studio“. Diese Anglizismen, also die Übernahme oder die Neuschöpfung englischsprachiger Wörter, sind uns vertraut, auch wenn ihr zunehmender alltagssprachlicher Gebrauch immer wieder Gegenstand heißer Diskussionen im Feuilleton ist.

Doch wie kommt es zu Sprachmischungen? Wie kann es sein, dass eine „vermischte Sprache“ bei zweisprachigen Kindern und Erwachsenen besonders auffällt, wenn wir selbst alltäglich Redewendungen oder Wörter aus anderen Sprachen nutzen? Was motiviert eine/n SprecherIn, „vermischte Sprache“ zu produzieren? Und sind diese Sprachmischungen vielleicht Anzeichen eines defizitären Sprachgebrauchs? Übung 6 dient dazu, die verschiedenen Charakteristika „vermischten Sprachgebrauchs“ zu verdeutlichen.

Übung 6

Markieren Sie in den folgenden Beispielen die Stellen, an denen Sie Sprachmischungen feststellen können.

BEISPIEL

 

Beispiel 20

„Ähm, ich möchte Erzieherin werden. Bu sınıfı wiederholen yapıyom. Und ich hatte schon mal Praktikum. İki defa Kindergarten´da yaptım. Ailem de destekliyor. Onlar da istiyor. Onuncu sınıftan sonra Berufsschule´ye gitcem. Und das ist über Kindergarten. Und dann drei Jahre mach ich dann. Und danach meine Ausbildung. Und dann habe ich hier meinen Beruf. Und dann mach ich weiter.“ (Eine vierzehnjährige Schülerin spricht im türkischen Radio Köln. Funkhaus Europa 2008)

BEISPIEL

 

Beispiel 21

I: „Ah, der fährt mit dem Fahrrad auf der Straße. Guck mal, was auf dem Schild hier steht.“

Z: „Bisidek (= bisiklet).“

I: „Ja. Ein Fahrrad ist da drauf (…).“

Z: „Du bis das habe. Ich das da.“ Z zeigt auf das Polizeiauto. Sie will das Auto von ihrer Gesprächspartnerin haben und diese soll die Polizei spielen.

Z: „Çiş yapcam daha.“ Z greift sich eine Baustellentoilette und stellt sie auf den Tisch zurück.

I: „Ah, die machen schon wieder eine Rast. Dadü dada. Guten Tag. Können Sie sich vorstellen, warum wir Sie angehalten haben.“

Z: „Vielleih um tuvalet gehen?“

I: „Hm? Sie haben angehalten, weil die Kinder zur Toilette gehen müssen?“

Z: „Ja.“

(Zeren (Z), vier Jahre, wächst sukzessiv-bilingual mit Türkisch und Deutsch auf. Sie spielt mit ihrer monolingual deutschen erwachsenen Interviewpartnerin (I)).

BEISPIEL

 

Beispiel 22

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Sie werden feststellen, dass in allen drei Beispielen Morpheme, Wörter oder ganze Sätze aus einer anderen Sprache als dem Deutschen verwendet werden. Die Gesprächsausschnitte sind so für die InterviewpartnerInnen wie auch für uns als LeserInnen mehr oder weniger verständlich – je nachdem, ob uns die verwendeten Begriffe oder Bezeichnungen vertraut sind (wie in Beispiel 22) oder ob wir die Sprache, aus der diese Wendungen oder kurzen Abschnitte stammen (wie Türkisch in Beispiel 20 und 21), gut verstehen. Dem Gespräch in Beispiel 21 können wir noch gut folgen, auch wenn das Kind Zeren, die mit Türkisch und Deutsch aufwächst, zwei Substantive und einen ganzen Satz aus dem Türkischen in den Dialog einfügt, aber der vollständige Inhalt des Textes in Beispiel 20 bleibt uns möglicherweise verwehrt.

Es lässt sich anhand der Textunterschriften und der Gestaltung der Dialogsituation außerdem feststellen, dass die GesprächspartnerInnen bzw. AdressatInnen in allen drei Gesprächssituationen bzw. in dem Werbetext variieren: Während die Jugendliche in Beispiel 20 im Türkischen Radio Köln spricht, spielt das zweisprachig aufwachsende Kind Zeren in Beispiel 21 mit einer monolingual deutschsprachigen Erwachsenen. Die Information der Deutschen Lufthansa AG dagegen wendet sich an alle KundInnen, die sich über das Bonusprogramm informieren möchten.

Hat die Adressatenorientierung und das Wissen um die zweisprachige Kompetenz der Zuhörenden, Lesenden oder die / der SpielpartnerIn möglicherweise einen Einfluss darauf, wie groß der Anteil der jeweiligen Sprache in einem Gespräch ist? Oder gibt es möglicherweise weitere Faktoren, die dazu führen, dass eine Person, die mit zwei Sprachen aufgewachsen ist, in einem Dialog zwei Sprachen vermischt?

Das Kontinuum der Sprachmodi nach François Grosjean

Der Bilingualismusforscher Grosjean (2001) entwickelte ein Modell, mit dessen Hilfe erfasst werden soll, warum Menschen, die zwei Sprachen sprechen, manchmal von ihren beiden Sprachen in einem einzigen Dialog intensiven Gebrauch machen, und wie es sich erklären lässt, dass sie sich ebenso häufig auf nur eine Sprache beschränken. Ein / e bilinguale / r SprecherIn befindet sich nach Grosjean auf einem Kontinuum verschiedener Sprachmodi, das es ihm ermöglicht, je nach GesprächspartnerIn mehr oder weniger intensiv innerhalb eines Gesprächs zwischen den beiden (oder mehreren) Sprachen zu wechseln. Dieses Kontinuum hat zwei Pole: am einen Ende befindet sich die mehrsprachige Person im einsprachigen Modus. In Gegenwart einsprachiger Personen, die nur eine Sprache der mehrsprachigen Person kennen, ist die mehrsprachige Person gezwungen, sich nur dieser einen Sprache zu bedienen. Man nimmt an, dass die bilinguale Person ihre den GesprächspartnerInnen angemessene Sprache aktiviert und ihre anderen Sprachen deaktiviert. Dies geschieht mehr oder weniger unbewusst und automatisiert. So kommt es, dass bilinguale Personen, die dies vollständig schaffen und die Sprache des Gegenübers „perfekt“ (z. B. akzentfrei) sprechen, meist als einsprachig in dieser Sprache wahrgenommen werden (vgl. Grosjean 2020). In unserem Beispiel 21 weiß Zeren, dass ihre Gesprächspartnerin kein Türkisch verstehen und sprechen kann. Basissprache des Dialogs ist Deutsch, dennoch mischt sie türkische Begriffe und einen Satz in die ansonsten deutsch-basierte Konversation. Die drei aus der Erstsprache entnommenen Elemente und Strukturen führen zu unterschiedlichen (Miss-) Verständnissen: Die Gesprächspartnerin kann den ganzen auf Türkisch geäußerten Satz („Çis¸ yapcam daha.“) nicht verstehen. Sie missinterpretiert Zerens Äußerung unter Einbezug des Kontextes als Wunsch nach einer „Rast“. Leichter fällt es der monolingualen Gesprächspartnerin mit den einzelnen Substantiven, die Zeren aus der türkischen Sprache entlehnt: -„Bisiklet“ kann aus dem Kontext als „Fahrrad“ interpretiert werden (wie „bicycle“ (E) oder „bicyclette“ (F)), und „tuvalet“ ähnelt sogar phonologisch der deutschen Bezeichnung Toilette. Da Zeren aber erst mit dem Erwerb des Deutschen begonnen hat, hilft sie sich an dieser Stelle mit dem Ausdruck oder einem Satz aus der Erstsprache – ähnlich wie wenn uns in einer Konversation mit einem Briten ein Wort mal nicht einfällt (I bought a dings – Bollerwagen –, you know?).

Am anderen Pol, dem bi- oder multilingualen Modus, kommuniziert die mehrsprachige Person mit anderen Mehrsprachigen, welche dieselben Sprachen sprechen und Sprachmischungen akzeptieren und praktizieren.

Auf dem Kontinuum der Sprachmodi gibt es unzählige Abstufungen der gemischtsprachigen Kommunikation, in dem sich die GesprächspartnerInnen auf eine gemeinsame Basissprache verständigen. Gemischtsprachige Kommunikation beinhaltet das Hin- und Herwechseln zwischen verschiedenen Sprachvarianten oder Codes (Code Switching) und die Nutzung von Entlehnungen.

Der deutlichste Unterschied zwischen dem bilingualen Pol und dem gemischtsprachigen Modus liegt daher erstens in der Sprachkompetenz der beiden GesprächspartnerInnen (im bilingualen Modus müssen beide die Sprachen gut beherrschen) und zweitens in dem Sprachmischungsverhalten: Während die bilingualen SprecherInnen im bilingualen Modus eifrig zwischen den Basissprachen...

Erscheint lt. Verlag 16.5.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Vorschulpädagogik
Schlagworte Bilingual • Erziehung • Kind • Kinder • Kindergarten • mehrsprachige Erziehung • Mehrsprachigkeit • Muttersprache • Pädagogik • Sprachentwicklung • Sprachentwicklungsstörung • Spracherwerb • Sprachförderung • Sprachstandserhebung • Sprachstörung • Sprechen lernen • Vorschule • Zweitsprache
ISBN-10 3-497-61587-0 / 3497615870
ISBN-13 978-3-497-61587-2 / 9783497615872
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