ICF-basierte Gutachten erstellen (eBook)
205 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61592-6 (ISBN)
Prof. Dr. Manfred Pretis, Heilpädagoge und klinischer Psychologe, lehrt transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg, EU-Projektkoordinator zur Implementierung der ICF in Schulen (www.icf-school.eu), UNICEF Berater.
Prof. Dr. Manfred Pretis, Heilpädagoge und klinischer Psychologe, lehrt transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg, EU-Projektkoordinator zur Implementierung der ICF in Schulen (www.icf-school.eu), UNICEF Berater.
2 Die ICF in Befundungen verwenden
2.1 Notwendige Basisdaten in Teamgutachten
Manfred Pretis
Wie in jedem anderen Gutachten üblich stellt in der Regel ein Deckblatt zum Gutachten den Ausgangspunkt der Gutachtenerstellung dar. Neben der Erwähnung des jeweiligen Aktenzeichens oder der Geschäftszahl enthält ein solches Basisdatenblatt den Namen der zu begutachtenden Person inklusive Kontaktdaten sowie Angaben zum begutachtenden Team und zum Adressaten des Gutachtens. Bei minderjährigen Kindern mag es noch sinnvoll sein, die jeweiligen Erziehungsberechtigten zu nennen oder Kontaktdaten derselben (Telefon, EMail). Ein ICF-orientiertes Gutachten unterscheidet sich somit organisatorisch kaum von anderen. Abweichend zu generellen Gutachtenrichtlinien kann es jedoch im Sinne der Teamarbeit sinnvoll sein, die Namen aller involvierten Teammitglieder bzw. Hauptverantwortliche anzuführen. Dies hängt von den jeweiligen juristischen Kontexten ab.
Im Regelfall folgt dem Datenblatt die Beschreibung der gutachterlichen Fragestellung. Wie üblich folgt eine solche in hohem Maße dem vorgegebenen Wording der auftraggebenden Stelle. Häufig handelt es sich dabei um juristische Fragestellungen, auf die im Gutachtenteil Bezug genommen werden soll.
Abb. 6: Der generelle Aufbau von Gutachten unter dem Aspekt der Würdigung von Informationen
BEISPIEL
–Liegen bei Mehmed Alman die Voraussetzungen für den Erhalt von Rehabilitationsleistungen vor?
–Liegt bei Frau Susanne Huber eine psychische Erkrankung vor, die ihre Teilhabe an sozialen Prozessen erheblich beeinträchtigt?
–Welche prognostischen Erwartungen sind im Rahmen der Grunderkrankung von Frau Sarah Weber zu erwarten, speziell kann ihre Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt werden?
–Liegt bei Herrn Maier eine Behinderung gemäß Steiermärkischem Landesbehindertengesetz vor?
–Kann bei der Schülerin Monika Maurer ein Sonderpädagogischer Förderbedarf gemäß dem Schulpflichtgesetz festgestellt werden?
Methodisch werden diese häufig juristischen Fragestellungen in spezifische Hypothesen und Operationalisierungen umgewandelt. D. h., eine mögliche Frage nach der Teilhabebeeinträchtigung zielt auf eine Messung und Operationalisierung dieses Aspektes ab, wobei in der Beantwortung der gutachterlichen Frage (d. h. im gutachterlichen Kalkül) diese Operationalisierung wieder auf die juristische Ebene gehoben und im Regelfall von dem jeweiligen Gericht bzw. den EntscheidungsträgerInnen juristisch gewürdigt wird.
Generell gilt, dass auf konkrete Fragen an GutachterInnen möglichst konkrete Antworten gegeben werden, da Gutachten im Regelfall Hilfsinstrumente im Rahmen von Entscheidungsprozessen sind. Die ICF stellt dabei in der Befunderhebung und der gemeinsamen Beurteilung den Verständnisrahmen dar, wie in Abb. 6 über die einzelnen Gesundheitskomponenten bzw. deren Akronyme („e“ für Umwelt, „s“ für Körperstrukturen bzw. „b“ für Körperfunktionen und „d“ für „Teilhabe“) dargelegt.
Die einzelnen Operationalisierungen, Erhebungen, Messungen sowie Ergebnisdarstellungen sind dabei in der Regel jeweils berufsgruppenspezifisch, auch wenn andere Teammitglieder eingeladen werden können, für sie (klinisch) augenscheinliche Aspekte berufsgruppenübergreifend zu beschreiben.
2.2 Gemeinsame Befundung im Team: „Shared Documentation“-Prozesse
Manfred Pretis
! | „Gemeinsame (englisch: shared) Dokumentation“ sowie Entscheidungsprozesse beziehen sich auf gleichwertige Datenerhebungen bzw. -bewertungen, die sich durch Beiträge unterschiedlicher am Begutachtungsprozess Beteiligter in einem Team und eine Perspektive auf erweiterte Optionen in einem Behandlungs- oder Gutachtenprozess auszeichnen. (Elwyn et al. 2012) |
Eine solche gemeinsame (geteilte) Vorgehensweise bezieht sich sowohl auf interne Kommunikationsprozesse in einem Team (Wie gehen wir miteinander um und wie entscheiden wir?) als auch auf Datenerhebungsprozesse (Was erheben wir gemeinsam?). Im Gutachten bezieht sich dies auf die Frage des Settings: „wer“ „wann“ „was“ bzw. (methodisch) „wie“ (d. h. mit welchen Mitteln) und die gemeinsame Beurteilung. In der Untersuchungsplanung sollten auch Aspekte der Verfahrensökonomie berücksichtigt werden, sodass nur jene Daten (einmalig) erhoben werden, die für die Beantwortung einer gutachterlichen Frage relevant sind. Im ICF-basierten Begutachtungsprozess ist das Team dabei mit einer besonderen Herausforderung konfrontiert: Im ersten Schritt erheben die jeweiligen FachexpertInnen mittels ihrer spezifischen Methodiken und Instrumente jeweilige Wirklichkeitsausschnitte (Abb. 5). Im zweiten Schritt ordnen sie ihre Untersuchungsergebnisse im Rahmen einer „Shared Documentation“ den jeweiligen ICF-Gesundheitskomponenten zu, um in einem dritten Schritt wiederum in einer Gesamtschau zu einer gemeinsamen Beurteilung zu kommen. D. h., die ICF lädt ein, aus jeweiligen fachspezifischen Blickwinkeln zu einer ganzheitlichen Gesamtsicht auf die Situation eines Menschen mit einem Gesundheitsproblem zu gelangen. Diese gemeinsame Zusammenschau vermisste z. B. Meike Hörnke, wie sie in ihrem Erfahrungsbericht beschreibt (Kap. 1.3).
Dies bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass alle alles tun. Als ökonomisch erweist sich, wenn z. B. anamnestische Daten koordiniert nur einmal erhoben sowie dokumentiert werden. Dies stellt in der Praxis eine große Herausforderung dar, da eine solche Vorgehensweise hohes Vertrauen in die Validität erhobener Daten durch andere erfordert. Eine gemeinsame Untersuchungsplanung im Team kann dabei einen konkreten Fahrplan für die zu begutachtende Person ersichtlich machen, wann genau mit wem welche Untersuchungsschritte zu erwarten sind:
BEISPIEL
Geplant ist eine ärztlich diagnostische Abklärung der beschriebenen Beschwerden durch Frau Dr. Y. im Rahmen eines Hausbesuches. Darauf aufbauend werden von der Teampsychologin Frau A. im Zeitraum von Juni bis Juli 2021 fremdanamnestische Daten gemeinsam mit Frau Schmidt eingeholt, inklusive testpsychologischer Abklärung der Daueraufmerksamkeit der Patientin. Des Weiteren ist mit Frau Schmidt eine Interaktions- bzw. Aktivitätsanalyse im häuslichen Kontext zur Einschätzung ihrer Alltagsaktivitäten geplant und zwar durch die Ergotherapeutin Frau C. im Team. Vonseiten der Heilpädagogin Frau X wird die Disability Assessment Scale (DAS) der WHO durchgeführt. Alle Daten werden im Team abgestimmt und mittels der gemeinsamen Sprache der ICF abgebildet. Über diese Vorgehensweise aufgeklärt, gibt Frau Schmidt ihren Konsens dazu. Als Hypothese wird vom Team formuliert, dass Frau Schmidt im Zusammenhang mit ihren Beschwerden (Long-COVID) langfristig ohne Leistungen gemäß Bundesteilhabegesetz ihren Alltag selbständig bewältigen kann.
Strategisch wird im Beispiel die Hypothese H0 formuliert, dass Frau Schmidt alles ohne Assistenzleitungen schaffen könne, um ein Empowerment-orientiertes Menschenbild zu vermitteln. Auch wissenschaftstheoretisch entspricht eine solche Vorgehensweise eher den Prinzipien eines empirischen Rationalismus (Popper 1984), insofern eine Hypothese so lange gilt, solange sie nicht falsifiziert werden kann. Auch im gutachterlichen Setting sollte dieser Weg der Falsifizierung begangen werden und nicht primär ein Weg der Verifizierung (was häufig zu beobachten ist, dass vornehmlich Argumente gesucht werden, die für die Alternativhypothese H1 (Frau Schmidt ist behindert im Zusammenhang mit Long-COVID und braucht Assistenz) sprechen würden. Im Einzelfall ist jedoch gerade bei Fragen der Anspruchsberechtigungen (wie im Beispielfall Assistenzleistungen) abzuwägen, ob eine H1 (Die Patientin hat ein Anrecht auf Leistungen.) teilweise der Motivationslage der AntragstellerInnen eher entspricht als z. B. die H0, dass bei einem Menschen keine Behinderung und somit keine Anspruchsberechtigungen vorlägen. Kommunikationstheoretisch mag das für die zu begutachtende Person ein „einfühlsamerer Zugang“ sein als die Hypothese „Sie können das, Sie schaffen das, Sie brauchen keine Hilfe!“. In hochstrittigen Verfahren (wenn z. B. mehrere Parteien in einem Verfahren involviert sind) mag es auch angebracht sein, eine gewisse Äquidistanz im Untersuchungssetting zu berücksichtigen. Dies zielt darauf ab, dass vergleichbare Untersuchungsinstrumente bzw. Untersuchungssituationen zu gewährleisten sind.
! | Der Befund stellt eine Erhebung eines jeweiligen Wirklichkeitsausschnittes mit dafür geeigneten Testinstrumenten dar. Im Befund werden die Ergebnisse dieser Erhebung dargestellt. Im Gutachtenteil werden Ergebnisse bewertet und in Bezug auf die gutachterliche Fragestellung schlussfolgernd beantwortet. |
BEISPIEL
ICF-Bereich b117 (Funktionen der Intelligenz): Das Ergebnis des...
Erscheint lt. Verlag | 16.5.2022 |
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Co-Autor | Andrea Jagusch-Espei, Silvia Kopp-Sixt, Meike Hörnke |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Schlagworte | Fachbuch • Förderbedarf • Gutachten • Heilpädagogik • ICF • Inklusion • Interdisziplinär • Klassifikation • Klassifikationssystem • Pretis • Schulsozialarbeit • Sonderpädagogik • Sonderschule • Teamarbeit • Teilhabe |
ISBN-10 | 3-497-61592-7 / 3497615927 |
ISBN-13 | 978-3-497-61592-6 / 9783497615926 |
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