Die Macht der Diaspora (eBook)
432 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2765-5 (ISBN)
Alexander Clarkson forscht am King's College in London zu Deutschland und Europa. Geboren ist er in Kanada, aufgewachsen in Hannover, sein Vater ist Brite, seine Mutter Ukrainerin. In den Neunzigerjahren studierte er in Oxford und lebte dann in Ostberlin, bevor er nach Großbritannien zog. Der Schwerpunkt seiner Forschungen liegt auf den Beziehungen zwischen Diaspora-Gruppen und deutschen politischen Bewegungen nach 1945.
Alexander Clarkson lehrt am King's College in London "German and European Studies" mit dem Schwerpunkt Diasporaforschung. Geboren ist er in Kanada, aufgewachsen in Hannover, sein Vater ist Brite, seine Mutter Ukrainerin. In den Neunzigerjahren studierte er in Oxford und lebte dann in Ostberlin. Er wird gefeatured u.a. von Die Zeit, Tagesschau.de und ZDF heute.
EINLEITUNG
Diasporageschichte als deutsche Geschichte
Diaspora und Identität
Für jemanden wie mich, der ich in Deutschland aufwuchs, war die Frage so unausweichlich wie nervig. Es konnte in der Schule sein, auf einer Party oder mit Freunden in einer Kneipe. Ein Gespräch über ein unverfängliches Thema mit einem mir noch nicht bekannten Deutschen kam auf. Ob es eine nette Fachsimpelei über Fußballergebnisse oder eine politische Diskussion war, stets endete alles mit einem fragenden Blick, bei dem mir das Herz schwer wurde. Mein Gesprächspartner lehnte sich dann zurück und stellte die Frage, die so viele Menschen mit Migrationshintergrund zu fürchten gelernt haben:
»Wo kommst du eigentlich her?«
Mit einem Anflug von Verzweiflung pflegte ich darauf zu antworten:
»Aus Langenhagen bei Hannover.«
Und mit deprimierender Zwangsläufigkeit sah mich mein Gegenüber irritiert an und fragte:
»Nein, ich meine, wo du eigentlich herkommst?«
Einmal mehr wurde ich daran erinnert, dass es im Deutschland der 1990er-Jahre keine Frage der persönlichen Entscheidung war, zu bestimmen, wer man ist und woher man kommt.
Eine alte Frage: Wer ist Deutscher?
Der Kampf um die Definition, wer Deutscher ist und wer nicht, ist so alt wie der Kampf um den Aufbau eines beständigen deutschen Nationalstaats. Jeder Ausgangspunkt für die Ausbildung des deutschen Nationalbewusstseins, den Historiker angesetzt haben, wirft seine eigenen spannungsreichen Fragen danach auf, wann sich unterschiedliche regionale, Klassen-, Geschlechts- und andere kulturelle Identitäten zu etwas vereinten, was wir heute als erkennbar deutsch betrachten würden. In jeder Gesellschaft ist Integration ein wechselseitiger Prozess, in dem die allmähliche Integration von Einwanderern in das kulturelle und politische Leben auch Rückwirkungen darauf hat, wie die alteingesessene Bevölkerung ihre eigene kollektive Identität versteht. Wenn wir sie als Geschichten über aufeinanderprallende ethnische, religiöse, regionale oder klassenspezifische Traditionen verstehen und uns diese Geschichten genauer ansehen, dann erscheinen die Konflikte und Kontroversen, die zur Herausbildung des heutigen Deutschlands geführt haben, weniger geradlinig als die Erzählungen, die wir aus Schulbüchern oder Fernsehdokumentationen kennen. Zu untersuchen, wie diese Migrations- und Integrationsprozesse die Politik und Identität der Bundesrepublik verändert haben, ist das zentrale Vorhaben des vorliegenden Buches.
Mögen manche auch an der Überzeugung festhalten, dass sich Vorstellungen von einer modernen deutschen Identität bereits in der Welt des Mittelalters finden lassen, so war das Heilige Römische Reich deutscher Nation doch ein Rechtsgebilde, das ein enormes Spektrum an Sprachgemeinschaften von Norditalien bis Flandern umfasste, deren Vorstellung von Zugehörigkeit den späteren, gefestigten Zügen der nationalen Identität und Volkszugehörigkeit nur vage entsprach. In der frühneuzeitlichen Welt eines Martin Luther oder Kaiser Karl V. überwog der konfessionelle Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten Unterschiede der Sprache und Volkszugehörigkeit in einer Weise, die noch lange nach dem Ende der Religionskriege in Deutschland fortdauern sollte. Derartige konfessionelle Unterschiede innerhalb der deutschen Gesellschaft erwiesen sich als so hartnäckig, dass sie noch bis tief ins 20. Jahrhundert hinein die Grundlage für das parteipolitische Leben bildeten.1
Die territoriale Ausdehnung Deutschlands blieb im Fluss, während die institutionellen Grundlagen des Heiligen Römischen Reiches erodierten, bis es schließlich 1806 auf Napoleons Geheiß aufgelöst wurde. Die Niederschlagung der demokratischen Revolution von 1848 und der Ausschluss Österreichs 1866 führten zu einer durch Otto von Bismarck geformten politischen Einheit, die nach außen stark wirkte, gesellschaftlich indessen zerbrechlich war. Das Deutsche Kaiserreich des späten 19. Jahrhunderts blieb von konfessionellen Spannungen zwischen Katholiken, Protestanten und Juden durchzogen; gleichzeitig nährten die Bemühungen zur Integration ethnischer Minderheiten wie der Polen im Osten ethnische Herausforderungen der staatlichen Autorität. Parallel dazu prägten die Herausbildung einer klassenbasierten Politik um den Aufstieg von Gewerkschaften und Sozialdemokratie sowie Spannungen zwischen verschiedenen Fürstentümern und regionalen Traditionen eine Gesellschaft, in der es ausgesprochen umstritten blieb, was es hieß, deutsch zu sein. Während der ganzen Zeit des Kaiserreiches hielt sich der Nord-Süd-Gegensatz (»Bayern – Preußen«) unverändert stark. Erst die kollektive nationale Begeisterung im August 1914 – »Nation« siegt über »Klasse« – überdeckte für eine gewisse Zeit die sozialen und regionalen Gegensätze. Es ist kein Zufall, dass separatistische Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg durchaus Zulauf hatten. Die Auseinandersetzung darüber, inwieweit eine kollektive deutsche Identität unterschiedliche kulturelle Traditionen umfassen konnte, spitzte sich mit der Entstehung der nationalsozialistischen Diktatur zu, stellte diese doch einen Versuch dar, die Vielfalt zugunsten einer nationalen Gemeinschaft (»Volksgemeinschaft«) auf der Grundlage einer abscheulichen Rassenhierarchie zu unterdrücken.
Die Bundesrepublik ist somit nur das jüngste Beispiel einer langen Geschichte deutscher Staaten, die darum ringen, die Notwendigkeit der Loyalität zu einer neuen Machtstruktur durch ein gemeinsames Identitätsgefühl mit einer von kultureller Vielfalt bestimmten sozialen Realität ins Gleichgewicht zu bringen. Unmittelbar vom Moment ihrer Bildung in den späten 1940er Jahren an mussten die Regierungen in West- wie Ost-Deutschland die politischen und kulturellen Auswirkungen massenhafter Wanderungsbewegungen bewältigen. Die ersten Wellen deutscher Vertriebener und osteuropäischer Heimatloser (»Displaced Persons«) in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs und der Beginn des Kalten Krieges pflügten die demografische Struktur nicht nur Deutschlands, sondern auch jeder anderen europäischen Gesellschaft um.2 Im und nach dem Kalten Krieg folgten weitere Flüchtlingswellen, die ihre Spuren in jeder Stadt und jedem Dorf in Deutschland hinterlassen haben.
Auch der Zustrom von Arbeitsmigranten aus ganz Europa und dem Nahen Osten in der Nachkriegszeit hatte bleibende Auswirkungen auf die Gesellschaft. Der Arbeitskräftemangel infolge massiver Verluste an Menschenleben im Zweiten Weltkrieg führte zu Gastarbeiterabkommen mit Ländern wie Italien, der Türkei, Jugoslawien, Spanien, Griechenland und Algerien, denen es ihrerseits schwerfiel, genügend Arbeitsplätze für ihre Bevölkerungen zu schaffen. Die Gastarbeiterprogramme beruhten ursprünglich auf der Annahme, ein System befristeter Arbeitsgenehmigungen werde dafür sorgen, dass die Arbeitsmigranten schließlich in ihre Herkunftsländer zurückkehrten. Stattdessen führten sie dazu, dass sich Millionen von Menschen dauerhaft in der Bundesrepublik ansiedelten, ohne dass die Voraussetzungen dafür geschaffen worden wären. Obwohl sie sich abschätzig über die Behandlung der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in der Bundesrepublik äußerte, legte die DDR selbst ein Vertragsarbeiterprogramm auf, um Arbeitskräfte aus Bruderstaaten des Sowjetblocks wie Angola, Kuba oder Vietnam ins Land zu holen, die sich dort ebenso dauerhaft niederließen wie die Gastarbeiter in West-Deutschland.
Diese ersten Wellen der Flüchtlings- und Arbeitsmigration stellten sich für Millionen Einwanderer als Beginn einer Anpassung an das Leben in Deutschland heraus, die bis auf den heutigen Tag andauert. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung kam es neben den Millionen von Deutschen, die von der ehemaligen DDR in die BRD umzogen, zu weiteren Migrationsströmen, die spürbare Folgen für jede Region in Deutschland hatten. Ausgelöst durch verschiedene Konflikte in Europa und im Nahen Osten, brachte eine Reihe von Flüchtlingskrisen die deutschen staatlichen Institutionen oft an die Grenze ihrer Fähigkeit, massenhafte Wanderungsbewegungen von Menschen zu bewältigen.3 Ob es die jugoslawischen Nachfolgekriege waren oder der Kurdenaufstand in der Türkei, solche Konflikte wirkten sich unmittelbar auf das politische und kulturelle Leben von Gemeinschaften in ganz Deutschland aus, die sich mit der Ankunft heimatloser traumatisierter Flüchtlinge konfrontiert sahen.
Die Lebenslüge von der homogenen Gesellschaft
Obwohl die Massenbewegung von Menschen ein fester Bestandteil des Lebens in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war, blieben die führenden politischen Parteien der Bundesrepublik wie auch die SED der Vorstellung verhaftet, sie regierten kulturell homogene Gesellschaften. Sowohl das westdeutsche Gastarbeiterprogramm als auch das ostdeutsche Vertragsarbeitersystem stellten Versuche dar, billige Arbeitskräfte zu finden, um einen vorübergehenden Arbeitskräftemangel auszugleichen, ohne das ethnische oder demografische Gleichgewicht beider Gesellschaften zu verändern. Während beide deutschen Staaten Flüchtlinge und politische Exilanten nach Kriterien aufnahmen, in denen sich ihre jeweiligen ideologischen Weltanschauungen widerspiegelten, ging man in beiden Systemen zugleich von der Annahme aus, dass deren gesellschaftlicher Einfluss begrenzt bleiben würde. Obwohl sowohl die DDR als auch die BRD für sich in Anspruch nahmen, Teil eines...
Erscheint lt. Verlag | 29.9.2022 |
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Übersetzer | Michael Adrian |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Asyl • Asylantrag • Balkan • Einwanderung • Emigration • Exil • Flüchtling • Gastarbeiter • Geflüchtete • Iran • Islam • Krieg • Lobbyismus • Migration • Russland • Terrorismus • Türkei • Ukraine |
ISBN-10 | 3-8437-2765-1 / 3843727651 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2765-5 / 9783843727655 |
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