Einige Gedanken über Erziehung (eBook)
320 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11847-6 (ISBN)
John Locke (1632-1704) - englischer Philosoph und in Oxford approbierter Arzt - war der entscheidende Vordenker und Wegbereiter des Bildungsideals der Aufklärung. Nach ersten Unterrichtsexperimenten als Universitätsdozent am Christ Church College arbeitete er als Londoner Hauslehrer mit ganz neuen didaktischen Methoden und innovativen Studieninhalten. Sein großer Erfolg als Erzieher der ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen trug ihm schon bald den Ruf ein, einer der begabtesten Pädagogen seiner Zeit zu sein.
John Locke (1632-1704) – englischer Philosoph und in Oxford approbierter Arzt – war der entscheidende Vordenker und Wegbereiter des Bildungsideals der Aufklärung. Nach ersten Unterrichtsexperimenten als Universitätsdozent am Christ Church College arbeitete er als Londoner Hauslehrer mit ganz neuen didaktischen Methoden und innovativen Studieninhalten. Sein großer Erfolg als Erzieher der ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen trug ihm schon bald den Ruf ein, einer der begabtesten Pädagogen seiner Zeit zu sein. Jürgen Overhoff, geboren 1967 in Lippstadt, studierte in Berlin, London und Cambridge Neuere Geschichte, Evangelische Theologie, Philosophie und Politologie. Seit 2013 ist er Professor für Historische Bildungsforschung an der Universität Münster. Die dortige Arbeitsstelle für Deutsch-Amerikanische Bildungsgeschichte gründete er 2014. Zwischen 2018 und 2022 amtierte er als Präsident der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts. Jürgen Overhoff, geboren 1967 in Lippstadt, studierte in Berlin, London und Cambridge Neuere Geschichte, Evangelische Theologie, Philosophie und Politologie. Seit 2013 ist er Professor für Historische Bildungsforschung an der Universität Münster. Die dortige Arbeitsstelle für Deutsch-Amerikanische Bildungsgeschichte gründete er 2014. Zwischen 2018 und 2022 amtierte er als Präsident der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts.
Einige Gedanken über Erziehung
§1 »Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper«, das ist eine knappe, aber vollständige Beschreibung eines glücklichen Zustandes in dieser Welt: Wer diese beiden hat, der braucht sich nicht viel anderes zu wünschen, und wenn ihm eines von beiden fehlt, wird ihm irgendetwas anderes kaum nützen. Das Glück oder Elend des Menschen ist zum größten Teil von ihm selbst gemacht. Der, dessen Geist ihn nicht weise lenkt, wird nie den rechten Weg einschlagen, und der, dessen Körper krumm und schwach ist, wird nie in der Lage sein, darin vorwärtszukommen. Ich räume ein: Es gibt manche Menschen, bei denen die Verfassung von Leib und Geist so kräftig und von der Natur so wohlgeordnet ist, dass sie wenig Hilfe von anderen brauchen, sondern durch die Stärke ihres natürlichen Genius von klein auf dem Ausgezeichneten entgegeneilen und durch das Privileg einer glücklichen Konstitution Wunder vollbringen können. Doch Beispiele dieser Art sind rar, und ich darf wohl sagen, dass von allen Menschen, die einem begegnen, neun Zehntel das, was sie sind (gut oder böse, nützlich oder nicht), ihrer Erziehung wegen sind. Die ist es, die den großen Unterschied in der Menschheit macht: Die kleinen und fast unmerklichen Eindrücke unserer zarten Kindheit haben sehr wichtige und dauerhafte Folgen. Und hier ist der entscheidende Punkt, wie bei den Quellen mancher Flüsse, wo ein leichter Handgriff das fügsame Wasser in Bahnen lenkt, die es ganz verschiedenen Lauf nehmen lassen, und durch diese kleine Lenkung an der Quelle empfangen die Wasserströme verschiedene Tendenzen und langen schließlich an fernen und entlegenen Orten an.
§2 Man stelle sich den Geist des Kindes so vor, dass er ebenso leicht in diese oder jene Richtung gelenkt werden kann wie das Wasser. Und wenn auch dies der hauptsächliche Teil ist und unsere vorzügliche Sorge dem Inneren gelten sollte, so darf doch das tönerne Häuschen nicht vernachlässigt werden. Ich beginne deshalb mit diesem Casus und betrachte zuerst die Gesundheit des Körpers – mit dem, wie Ihr vielleicht von dieser Untersuchung erwarten möget, ich mich, wie mein Ruf es will, besonders befasst habe. Und außerdem ist dieses Thema auch rasch abgehandelt, da es, wenn ich mich nicht täusche, in einem kleinen Umkreis liegt.
§3 Wie notwendig Gesundheit für unser Geschäft und unser Glück ist, und wie sehr es eine kräftige Konstitution braucht, mit der man Härten und Müdigkeit ertragen kann, das ist für jeden, der in der Welt etwas darstellen möchte, allzu offensichtlich, als dass es noch eines Beweises bedürfte.
§4 Meine Betrachtung der Gesundheit, die ich hier vortrage, wird nicht der Frage gelten, was der Arzt mit einem kranken oder verwirrten Kind machen solle, sondern jener, was die Eltern ohne Hilfe von Arznei für die Bewahrung und Verbesserung einer gesunden oder doch wenigstens nicht kränklichen Verfassung ihrer Kinder tun sollen. Dies ließe sich insgesamt wohl in der einzigen kurzen Regel abtun: dass Gentlemen ihre Kinder so halten sollten, wie es die ehrlichen Bauern und wohlhabenden Pächter mit den ihrigen tun. Doch weil dies den Müttern vielleicht ein wenig zu hart erscheint und den Vätern zu kurz, will ich mich genauer erklären, wobei ich nur als allgemeine und gesicherte Beobachtung vorausschicke, welche die Frauen bedenken mögen: Dass die Verfassung der meisten Kinder verdorben oder mindestens beeinträchtigt wird durch Verziehen und Verzärteln.
§5 Das Erste, wofür zu sorgen wäre, das ist, dass Kinder nicht zu warm gekleidet oder zugedeckt werden sollen, winters wie sommers. Das Gesicht ist, wenn wir geboren werden, nicht weniger zart als irgendein anderer Teil des Körpers: Es ist der Gebrauch allein, welcher es abhärtet und es die Kälte besser ertragen lässt. Und deshalb gab der skythische Philosoph jenem Athener, der erstaunte, dass er nackt in Frost und Schnee einhergehen konnte, eine sehr bedeutsame Antwort. Wie, sagte der Skythe, kannst du es denn ertragen, dass dein Gesicht der scharfen Winterluft ausgesetzt ist? Mein Gesicht ist das gewohnt, sprach der Athener. So denke, dass ich ganz Gesicht bin, erwiderte der Skythe. Unsere Körper werden alles ertragen, wenn sie von Anfang an daran gewöhnt werden.
Ein vorzügliches Beispiel hierfür – auch wenn es das gegensätzliche Übermaß, das an Hitze, betrifft, gehört es doch zu unserer gegenwärtigen Erörterung, weil es zeigt, was Gewöhnung vermag – will ich mit den Worten des Autors hierhersetzen, denen ich in einer kürzlich erschienenen ingeniösen Reisebeschreibung begegnet bin. »Die Hitze«, sagt er, »ist in Malta intensiver als in irgendeinem anderen Teil Europas; sie übertrifft selbst die in Rom und ist sehr lastend, dies umso mehr, als es selten kühlende Winde gibt. Das macht die gemeinen Leute schwarz wie die Zigeuner. Und doch trotzen die Bauern der Sonne; sie arbeiten während der heißesten Zeit des Tages ohne Pause und ohne vor ihren sengenden Strahlen Schutz zu suchen. Dies hat mich zu der Überzeugung gebracht, dass die Natur sich vielem anpassen kann, das zunächst unmöglich scheint, wenn wir uns nur von Kindheit daran gewöhnen. Die Malteser tun dies; sie härten die Leiber ihrer Kinder ab und söhnen sie mit der Hitze aus, indem sie sie splitternackt gehen lassen, ohne Hemden, Hosen oder irgendeine Kopfbedeckung, von der Wiege bis ins zehnte Jahr.«
Lasst mich also Euch raten, nicht zu angestrengt wider die Kälte unseres einheimischen Klimas anzukämpfen. Es gibt Leute in England, die winters wie sommers dieselben Kleider tragen, ohne irgendeine Unbequemlichkeit oder eine größere Empfindung von Kälte, als andere Leute sie haben. Doch wenn die Mutter unbedingt bei Eis und Schnee eine Ausnahme machen möchte, weil sie ein Leid für das Kind befürchtet, und der Vater, weil er den Tadel anderer scheut, dann gehe man sicher, dass die Winterkleider des Kindes nicht allzu warm seien. Und neben anderen Dingen erinnere man sich: Wenn die Natur den Kopf des Knaben gut mit Haar bedeckt und ihn durch ein, zwei Lebensjahre hindurch gekräftigt hat, dass er bei Tag ohne eine Mütze herumrennen kann, dann ist es auch das Beste, dass er bei Nacht ohne eine solche liege, denn nichts macht mehr geneigt zu Kopfschmerzen, Schnupfen, Katarrh, Husten und diversen anderen Erkrankungen als das Warmhalten des Kopfes.
§6 Ich habe hier von einem Knaben gesprochen, da es das Hauptthema meiner Abhandlung ist, wie ein junger Gentleman von Kindesbeinen an erzogen werden sollte – was nicht in allen Stücken ebenso für die Erziehung der Töchter gelten kann; doch wo der Unterschied der Geschlechter verschiedene Behandlung erfordert, wird dies im Folgenden leicht zu erkennen sein.
§7 Ich würde auch raten, dass seine Füße jeden Tag in kaltem Wasser gewaschen werden und dass seine Schuhe so dünn sein mögen, dass sie lecken und das Wasser hereinlassen, wenn er diesem nahekommt. Hier, fürchte ich, werde ich die Hausherrin und die Dienstbotinnen wider mich haben. Die eine wird es für allzu schmutzig halten, die anderen vielleicht für zu mühselig, die Strümpfe sauberzumachen. Doch die Wahrheit muss darauf bestehen, dass seine Gesundheit viel mehr wert ist als alle diese Erwägungen, und zehnmal mehr. Und wer bedenkt, eine wie schlimme und gravierende Sache nasse Füße für jene sind, die proper aufgezogen wurden, der möchte sich wohl wünschen, dass er zusammen mit den Kindern armer Leute barfuß gegangen wäre – die auf solche Weise durch den Brauch an nasse Füße gewöhnt werden, so dass sie davon nicht mehr Erkältung oder Schaden davontragen als von nassen Händen. Und was ist es, das den großen Unterschied zwischen den Händen und Füßen bei den anderen ausmacht, frage ich, als die Gewohnheit? Ich zweifle nicht daran, dass ein Mann, der von der Wiege an gewohnt gewesen ist, barfuß zu gehen, während seine Hände immerfort in warmen Fäustlingen verpackt waren oder in Hand-Schuhen, wie die Holländer sie nennen – ich zweifle nicht...
Erscheint lt. Verlag | 19.3.2022 |
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Übersetzer | Joachim Kalka |
Vorwort | Jürgen Overhoff |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
Schlagworte | Affektkontrolle • Aufklärung • Betragen • Bildungsziele • Didaktik • Erziehung • Freiheit • Frühe Neuzeit • glorreiche Revolution • Großbritannien • John Locke • Kinder • Lebenslanges Lernen • Leibesübungen • Liberalismus • Mitgefühl • Mündigkeit • Muße • Niederlande • Pädagogik • Philosophie • Sport • Toleranz • Unterrichten • Vernunft |
ISBN-10 | 3-608-11847-0 / 3608118470 |
ISBN-13 | 978-3-608-11847-6 / 9783608118476 |
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