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Herrschaft und Handlungsfähigkeit in der Lohnarbeit (eBook)

Eine Metastudie zu betrieblichen Machtordnungen
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
420 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45100-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Herrschaft und Handlungsfähigkeit in der Lohnarbeit -  Isabell Mader
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In welchem Verhältnis stehen unternehmerische Herrschaft und Handlungsfähigkeit der Arbeitenden zueinander? Um diese Frage zu beantworten, führt Dimitri Mader eine Metastudie zur Form betrieblicher Macht- und Herrschaftsordnungen in ausgewählten Arbeitsfeldern durch und ermöglicht einen Einblick in ein breites Spektrum an Arbeitskontexten - von einfacher Dienstleistungsarbeit über Altenpflege bis hin zum mittleren Management. Die Ergebnisse widersprechen der verbreiteten Diagnose einer zunehmenden »Selbstbeherrschung« der Arbeitenden. In der Gesamtbetrachtung hat sich die Ausprägung betrieblicher Herrschaft - verstanden als durch Zwang gestützte Macht von Menschen über Menschen - in einigen Klassenlagen sogar drastisch verstärkt.

Isabell Mader, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Osnabrück und der Universität Braunschweig. https://orcid.org/0009-0001-1392-0899

Isabell Mader, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Osnabrück und der Universität Braunschweig. https://orcid.org/0009-0001-1392-0899

2.Theoretische Vorüberlegungen: Lohnarbeit, Herrschaft und Klasse


2.1Lohnarbeit als Herrschaftsverhältnis


Der Zuschnitt des Untersuchungsgegenstandes beruht einerseits auf der vorempirischen Annahme, dass gegenwärtige Wirtschaftsunternehmen bzw. -betriebe tatsächlich einen Herrschaftszusammenhang darstellen. Er folgt damit in Grundzügen einer marxschen Perspektive auf den kapitalistischen Arbeitsprozess, der zufolge die Beziehung zwischen Unternehmensleitung (die Eigentümerinnen oder das in deren Auftrag agierende oberste Management) und den im Unternehmen angestellten weisungsgebundenen Arbeitenden ein soziales Herrschaftsverhältnis darstellt.6 Auf der Basis ungleicher Verfügung über die gesellschaftlichen Produktionsmittel besteht eine gesamtgesellschaftliche Machtasymmetrie zwischen Mitgliedern der Klasse der Kapitalistinnen und der Lohnarbeitenden, welche im Arbeitsprozess zur Bedingung von Herrschaft ersterer über letztere wird. Unternehmerische Herrschaft sichert die Ausbeutung der Lohnarbeitenden im Sinne der Aneignung ihrer Mehrarbeit ab. Ausbeutung in der Lohnarbeit wiederum ist der zentrale Mechanismus zur Reproduktion ökonomischer Ungleichheit zwischen den Klassen und damit die Voraussetzung für Herrschaft im Arbeitsprozess.7 Andererseits sollte es mit dem in Band 1 entwickelten Herrschaftskonzept aber prinzipiell möglich sein, diese Ausgangsthese am empirischen Gegenstand aufzuzeigen und zu konkretisieren bzw. gegebenenfalls auch zu falsifizieren. Der Herrschaftsbegriff formuliert klare Kriterien, nach denen die gegenstandsbezogene Analyse gezielt suchen kann.

Die allgemeine Form des kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnisses – namentlich die rechtliche Freiheit der Lohnarbeitenden, freiwillig in ein Arbeitsverhältnis eintreten und dieses jederzeit verlassen zu können – stellt allerdings eine besondere Herausforderung einer solchen Anwendung des allgemeinen Herrschaftskonzeptes auf den spezifischen Gegenstand der Lohnarbeit dar. Es ist daher ein theoretischer Zwischenschritt nötig, um zu klären, wie sich die Kriterien für Herrschaft überhaupt auf Lohnarbeit beziehen lassen: Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit Lohnarbeit auch angesichts der Wahlfreiheit der Arbeitsstelle ein Herrschaftsverhältnis darstellt? Die folgenden Vorüberlegungen hierzu sollen nicht nur ein prima facie Argument für den grundsätzlichen Herrschaftscharakter von Lohnarbeit liefern, sondern zugleich auch Kriterien für dessen empirische Überprüfbarkeit benennen.

Ein zentrales Argument gegen die Herrschaftsförmigkeit der Lohnarbeitsbeziehung lautet, dass es sich um ein Tauschverhältnis zwischen rechtlich gleichgestellten Akteuren handelt, in das beide Parteien, vereinfacht Kapitalistin und Arbeiterin, freiwillig einwilligen müssen und das jederzeit wieder aufgekündigt werden kann.8 Insbesondere die Freiheit der Arbeiterin ein Arbeitsverhältnis jederzeit verlassen zu können, spräche dagegen, dass hier ein Abhängigkeitsverhältnis und damit Zwang zum Verbleib in der Machtbeziehung vorliegt.

Dieser Einwand ist in der Tat von Relevanz für das in Band 1 entwickelte und hier zugrunde gelegte Herrschaftskonzept9, demzufolge es eine notwendige Bedingung für das Vorliegen von Herrschaft ist, dass der mächtigere Akteur in einer Beziehung seine Macht im Zweifelsfall auch gegen den freien Willen des weniger mächtigen Akteurs durchsetzen kann. Das heißt, dass letzterer sich in einer Situation befinden muss, in der er sich dieser Macht nicht, oder nur um den Preis erheblichen Schadens, entziehen kann. Dies kann entweder auf Grund von innerem oder äußerem Zwang der Fall sein. Klammern wir inneren Zwang (diverse Formen systematisch verzerrter Urteilskraft und fehlender Selbstzugänglichkeit) an dieser Stelle aus indem wir annehmen, es liege kein innerer Zwang vor. Damit Zwang vorliegt, müssen dann die beiden (in Band 1 herausgearbeiteten) Bedingungen äußeren Zwanges zugleich gegeben sein: die Arbeiterin muss sowohl von der gleichberechtigten Mitsprache über die Rahmenbedingungen ihres Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen sein als auch über keine guten Alternativen zum Verbleib in der Beziehung verfügen. Nur wenn beide Kriterien erfüllt sind – d.h. weder gute Voice- noch gute Exit-Optionen bestehen – hat die Arbeiterin keine guten Möglichkeiten, sich der Macht ihres sogenannten »Arbeitgebers«10 ohne Schaden zu entziehen (vgl. Band 1, Kap. 4). Nun würde kaum jemand behaupten, dass Angestellte in einem Lohnarbeitsverhältnis per se über gleichberechtigte Mitsprache über wesentliche Arbeitsbedingungen verfügen. Im Gegenteil ist die hierarchische Entscheidungsstruktur des Arbeitsprozesses, rechtlich festgehalten im »Direktionsrecht des Arbeitgebers«, wohl eher die Regel als die Ausnahme. Nach einem weberschen Herrschaftsbegriff sind kapitalistische Wirtschaftsorganisationen daher auch problemlos als Herrschaftsverbände einzuordnen (Band 1, Kap. 3.2.1). Da in dieser Arbeit aber Zwang als ein notwendiges Kriterium von Herrschaft gesetzt wird, würden gute Alternativen zum Lohnarbeitsverhältnis dessen Herrschaftscharakter in Frage stellen. Es handelte sich dann höchstens um Autoritätsbeziehungen, denen sich die weisungsgebundenen Arbeitenden jedoch aus gänzlich freien Stücken unterordnen und die sie jederzeit, insbesondere, wenn sie mit der Art der Machtausübung ihrer Vorgesetzten nicht mehr einverstanden sind, ohne größeren Schaden verlassen könnten. Die entscheidende Frage ist hier also, ob und wenn ja, wovon genau Lohnabhängige abhängig sind und damit was als realistische und relevante Alternative zu ihrem jeweiligen Arbeitsverhältnis gelten kann.

Hier kann ein bekanntes Argument von Marx aufgegriffen und herrschaftstheoretisch reformuliert werden: Der freie Lohnarbeiter, so Marx, gehört im Unterschied zum Sklaven oder Leibeigenen weder einem Eigentümer noch dem Grund und Boden an, sondern verfügt selbst über sich und seine Arbeitskraft, die er an den Meistbietenden für eine bestimmte Zeitdauer verkaufen kann: »Der Arbeiter verläßt den Kapitalisten, dem er sich vermietet, sooft er will, und der Kapitalist entläßt ihn, sooft er es für gut findet, sobald er keinen Nutzen oder nicht den beabsichtigten Nutzen mehr aus ihm zieht. Aber der Arbeiter, dessen einzige Erwerbsquelle der Verkauf der Arbeitskraft ist, kann nicht die ganze Klasse der Käufer, d.h. die Kapitalistenklasse verlassen, ohne auf seine Existenz zu verzichten. Er gehört nicht diesem oder jenem Kapitalisten, aber der Kapitalistenklasse […]«. (Marx [1849] 1959, S. 401; Herv. DM)11 Demzufolge besteht also aus zwei Gründen keine persönliche Abhängigkeit von einem bestimmten Kapitalisten (als dem jeweiligen »Arbeitgeber«): Erstens hat der Kapitalist keine direkte Verfügung über andere Menschen im Sinne eines kollektiv anerkannten Eigentumsrechtes an seinen Arbeiterinnen (im Unterschied zum Verfügungsrecht des Sklavenhalters über seine Sklaven). Die Arbeiterinnen gehören ihm gemäß der bürgerlichen Eigentumsordnung nicht, sondern sind rechtlich frei und müssen daher freiwillig im Arbeitsverhältnis verbleiben. Besteht dennoch Abhängigkeit, dann ist diese sachlich vermittelt. Zweitens kann die Arbeiterin (unter »idealen« Arbeitsmarktbedingungen) zwischen unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen wählen, ihre sachliche Abhängigkeit bezieht sich daher nicht auf den jeweiligen Kapitalisten, mit dem sie einen Arbeitsvertrag hat, sondern auf die Klasse der Kapitalisten. Die sachlich vermittelte Abhängigkeit ist insofern dezentralisiert.

Was aber heißt das für das zu untersuchende Herrschaftsverhältnis zwischen jeweils konkreten Akteuren eines bestimmten Unternehmens? Kann sich eine Untersuchung von Herrschaft im Arbeitsprozess überhaupt auf die Ebene eines Betriebes oder Unternehmens beschränken oder müsste sie nicht darüber hinaus gehen und die gesellschaftlichen Klassenverhältnisse berücksichtigen? Offenbar betrifft dieses Problem den Zuschnitt des möglichen Gegenstands der Untersuchung von Herrschaft in der Lohnarbeit. Wie im Folgenden näher dargelegt wird, ist die Reproduktion betrieblicher Herrschaft an die Reproduktion der Klassenzugehörigkeit der Arbeiterin und eine Korrespondenz zwischen klassenbedingter Marktlage und Machtposition im Arbeitsprozess gekoppelt. Eine Untersuchung betrieblicher Herrschaft muss Klasse daher als wichtige Hintergrundbedingung berücksichtigen.

Erstens: Die erste Besonderheit der Lohnarbeitsbeziehung als Herrschaftsverhältnis besteht in der Vertragsfreiheit der beiden gesetzlich gleichen und freien Akteure und der damit einhergehenden formalen Freiwilligkeit des Eintritts und...

Erscheint lt. Verlag 9.2.2022
Reihe/Serie International Labour Studies
International Labour Studies
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Arbeitssoziologie • Arbeitsverhältnisse • Betriebsfallstudie • Entfremdung • Gesellschaftstheorie • Herrschaftsunterworfene • Kapitalismus • Macht • Soziologie • Ungleichheitsforschung • Zeitdiagnose
ISBN-10 3-593-45100-X / 359345100X
ISBN-13 978-3-593-45100-8 / 9783593451008
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