ICF-basiertes Arbeiten in der Frühförderung (eBook)
199 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61391-5 (ISBN)
Prof. Dr. Manfred Pretis ist Professor für Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg, Heilpädagoge und Klinischer Psychologe.
Prof. Dr. Manfred Pretis ist Professor für Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg, Heilpädagoge und Klinischer Psychologe.
1 Einleitung
Ziel dieses Buches ist es, Frühförderung und Frühtherapie in ihrer Wirksamkeit besser darstellbar und für Eltern und Fachkräfte in Teams besser gemeinsam kommunizierbar zu machen. Als Fachkräfte in der Frühförderung und Frühtherapie benötigen Sie durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Professionen in der gemeinsamen Arbeit mit Eltern Modelle der Transparenz und Verständlichkeit. Damit werden Lernmöglichkeiten für die Familie durch eine „Übersetzung“ Ihres fachlichen Wissens in den familiären Alltag eröffnet (Guralnick 2005). Speck (2008) bezeichnete die Frühförderung als eine der komplexesten Interventionen im bio-psycho-sozialen Feld, mit höchsten Anforderungen an Sie als Fachkräfte. Was braucht es dazu, ein solches Ziel der Transparenz, Effektivität und Teilhabe zu erreichen?
■ Förder- und Behandlungseffekte, die für alle Beteiligten als Erfolg beobachtbar und messbar sind;
■ Eine gemeinsame Sprache, um Förder- und Behandlungsprozesse verständlich zu gestalten und Teilhabe aller Beteiligten auf Augenhöhe zu gewährleisten. Das bezieht sich sowohl auf die Kommunikation innerhalb Ihres Teams als auch mit Eltern;
■ Verfügbare Förder- und Behandlungsmethoden, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt ist oder wenigstens mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartet wird.
Um diese Ziele zu erreichen, wird im vorliegenden Buch auf der Basis vieler praktischer Beispiele ein Modell vorgestellt, das auf drei zusammenhängenden Aspekten (s. Abbildung 1) aufbaut:
Was bedeuten diese theoretischen Säulen?
1 „Smarte“ Formulierung und Evaluierung von Förder- und Behandlungszielen: Von Förder- und Behandlungsmaßnahmen wird erwartet, dass sie zielorientiert und wirksam sind, d. h. gewünschte Entwicklungsfortschritte einleiten oder das Beibehalten vorhandener Fähigkeiten unterstützen. Die Erreichung dieser Ziele steht dabei mit Ihrem „Handeln“ als Fachkraft in logisch-kausalem Zusammenhang: Es ist Ihr fachliches „Tun“, das Entwicklungsbedingungen für das Kind und die Familie verändert und nicht die Reifung oder der Zufall. Das Modell „smarter“ Zielformulierung bietet dafür einen Rahmen, Zielplanung und Zielevaluation zu vereinfachen und vor allem für Eltern verständlich und nachvollziehbar zu machen.
DEFINITION
Die Abkürzung (das Akronym) SMART steht dabei für „Spezifisch – Messbar – Anspruchsvoll (attraktiv, aktivitätszentriert) – Realistisch und Terminiert (vgl. Schäfer 2010).
Ziele können dabei die bestmögliche Entwicklungsförderung der Kinder, die Vermeidung von Verschlechterungen, die Selbstbefähigung („Empowerment“) der Eltern, mit schwierigen Situationen besser umgehen zu können oder die Steigerung der Lebensqualität der Familie im Allgemeinen betreffen. Ziel- und Erfolgsorientierung bedeutet in der Arbeit in und mit Familien vor allem, dass erstens sehr individuell abgestimmt wird, was ein erwünschter Effekt („Outcome“) dieses Förder- und Behandlungsprozesses sein kann. In zweiter Linie betrifft die Frage der Zielerreichung auch Ihr Team, aber auch die Leistungsträger (Krankenkassen, Sozialämter, politische Entscheidungsträger …). Im Sinne der Verwendung öffentlicher Gelder zur Prävention von Behinderung darf es auch als legitimes Interesse finanzierender Stellen angesehen werden, sich die Frage zu stellen, ob die eingesetzten Mittel auch effektiv (d. h. im Sinne der Prävention von Behinderung) bzw. effizient (im Sinne einer vertretbaren Kosten / Nutzen-Abschätzung) eingesetzt werden. Smarte Zielformulierung hilft dabei auch die Frage zu klären, WER im Team WAS macht. In dritter Line kann das Erreichen von Zielen als Indikator für die Qualität Ihrer eigenen Arbeit angesehen werden (z. B. im Sinne von Prozess- und Ergebnisqualität (Donabedian 1988). Wenn Sie smarte Ziele erreichbar und realistisch einschätzen, kann dies auch bedeuten, dass Sie als kompetente Fachkraft eingeschätzt werden, die über ein passendes Arbeitsmodell verfügt.
Smarte Zielformulierung | – Ermöglichen beobachtbarer bzw. messbarer Förder- und Behandlungserfolge |
ICF | – Verwendung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (ICF) (WHO 2011a) im Sinne einer gemeinsamen Sprache, um Verständnis und Teilhabe zu gewährleisten |
Evidenzbasierte Praxis | – Förder- und Behandlungsmethoden, die den Bedürfnissen der Zielgruppen folgen und auf wissenschaftlich nachweisbaren Modellen beruhen |
Abb. 1: Die drei theoretischen Säulen in Richtung von Transparenz, Teilhabe und Wirksamkeit in Frühförderung und Frühtherapie
! | Frühförderung und Frühtherapie sind auf Prävention langfristiger Beeinträchtigung, Vorbeugen von Verschlechterungen bzw. Beibehaltung oder Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit ausgerichtet und somit immer zielorientiert. Ziele sind für alle am Unterstüzungsprozess Beteiligten (wenn auch aus unterschiedlichen Motiven) wichtig, in erster Linie für die Eltern, die im Regelfall ein existentielles Interesse haben, dass Ziele im Sinne einer Verbesserung der Entwicklungssituation ihres Kindes erreicht werden. |
Modelle „smarter Zielformulierung“ finden in der Kinder- und Jugendhilfe bereits sehr viel stärkere Verwendung, da die Jugendämter sich im Regelfall stärker als „Auftraggeber“ verstehen, als dies in der Förderung von „Kindern mit Behinderung“ zu beobachten ist.
2 Verwendung der ICF: Um Ihre gemeinsame Arbeit mit Eltern und im Team in Richtung Zielerreichung für alle Beteiligten in gleichem Maße verständlich zu machen, kann die Verwendung einer gemeinsamen Sprache hilfreich sein. Dadurch wird sowohl für Familien als auch für das Team eine gemeinsame Wirklichkeit geschaffen. Dieses gemeinsame Verständnis und „Ziehen an einem Strang“ im Sinne eines „Teams um ein Kind“ (englisch: „Team around the child“) (Limbrick 2011) bildet dabei die Voraussetzung dafür, dass fachliche Impulse in sinnhafte lernförderliche Alltagsaktivitäten für die Familie „transferiert“ werden können:
! | Die Hauptaufgabe von Fachkräften in Frühförderung und Frühtherapie kann es somit häufig sein, einer Familie Impulse zu geben, lernförderliche Aktivitäten in den familiären Alltag integrieren zu können (Mahoney 2012). |
Abb. 2: Das Verhältnis lernförderlicher Aktivitäten zwischen therapeutischen, heilpädagogischen und elterlichen Angeboten (Mahoney 2012)
Die „Eltern“ (hier im weitesten Sinne verstanden als primäre Bindungs- bzw. Beziehungspersonen) spielen dabei eine weitaus wichtigere Rolle als vielleicht angenommen wird, da sie es sind, die bis zu zwölfmal häufiger lernförderliche Situationen schaffen können als Fachkräfte. Um einen solchen Transfer zu gewährleisten, ist gemeinsames Verständnis notwendig. Anweisungen allein („Führen Sie zuhause diese oder jene Übung durch“) erleichtern dabei eine solche Übersetzung in den Alltag kaum, da sich Eltern „fremdbestimmt und distanziert“ als „Lehrer ihrer Kinder“ fühlen könnten. Auch erweisen sich solche Ansätze langfristig als wenig wirksam (Mahoney 2012). Komplexe Situationen in Frühförderung und Frühtherapie benötigen die Übersetzung in eine Sprache, die als gemeinsame Handlungsstrategie für alle verstanden werden kann: für die Physiotherapeutin im Team, die Ärztin, die Frühförderin und die Eltern. Das spricht keineswegs gegen die einzelnen Fachtermini, sondern für ein darüber hinausgehendes übergreifendes Verständnis zwischen den Professionen und den Eltern. Es darf angenommen werden, dass nur Maßnahmen, die von allen verstanden werden oder deren Sinnhaftigkeit nachvollziehbar ist, zielführend sind. Andernfalls ist zu befürchten, dass Eltern Unterstützungsangebote abbrechen oder so umsetzen, wie sie es für richtig halten bzw. verstehen. Diese Gefahr ist gerade bei der Unterstützung extrem sozial benachteiligter Familien sehr hoch (zwischen 20 bis 66 % Abbruchquoten, Pretis 2016). Wer kennt nicht erstaunliche Praxisbeispiele, wie Familien kreativ und basierend auf eigenem Verständnis Ihre wohlgemeinten Ratschläge umsetzen (da sie diese in ihre eigenen Wahrnehmungs- und Verständnisprozesse übersetzen). Bisweilen kommt dabei im Alltag das Gegenteil dessen heraus, was von Ihnen als Fachkraft möglicherweise beabsichtigt wurde.
TIPP
Reflektieren Sie, in welchen Situationen es Ihnen erfolgreich gelingt, Ihr fachliches Wissen in lernförderliche Aktivitäten der Familie zu übersetzen.
Für ein solches gemeinsames Verständnis wird als Modell die Verwendung der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health. Children and Youth Version, WHO 2007) vorgeschlagen (deutsch: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen, Weltgesundheitsorganisation 2011). Die ICF ermöglicht die umfassende Darstellung der konkreten Daseins-Situation eines Kindes und Jugendlichen (mit einem...
Erscheint lt. Verlag | 7.9.2020 |
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Reihe/Serie | Beiträge zur Frühförderung interdisziplinär |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Förderziele • Frühförderung • Frühtherapie • Heilpädagogik • ICF • ICF-basiert • Logopädie • Psychologie • Psychotherapie • Sozialpädiatrie |
ISBN-10 | 3-497-61391-6 / 3497613916 |
ISBN-13 | 978-3-497-61391-5 / 9783497613915 |
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