Menschen mit geistiger Behinderung (eBook)
419 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61046-4 (ISBN)
Prof. Dr. Otto Speck ist emeritierter Ordinarius für Sonderpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Prof. Dr. Otto Speck ist emeritierter Ordinarius für Sonderpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Mehr als vierzig Jahre nach Wiedereinführung des Bildungsrechtes für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung sind zahlreiche Zielvorstellungen verwirklicht, die damals als völlig neue Ideen, zumeist nur zaghaft, in der Öffentlichkeit geltend gemacht worden waren. Die nötigen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, angefangen von der Frühförderung, über den Kindergarten und die Schule bis zur beruflichen Bildung und Erwachsenenbildung sind weithin geschaffen und in rechtlichen Bestimmungen verankert.
Die soziale Eingliederung hat große Fortschritte gemacht, auch wenn immer noch da und dort Vorurteile ein gemeinsames Leben und Lernen erschweren. Der Sinn sozialer Teilhabe hat sich im Ganzen gesehen im öffentlichen Bewusstsein verankert, auch wenn deren Umsetzung keine vollständige ist. Von einer Erfüllung aller Visionen kann keine Rede sein.
Das Grundgesetz wurde geändert: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Geht man von dem Nullpunkt von einst aus, so ist es eine insgesamt beachtliche Aufbauleistung, die hier vorliegt. Man kann sagen: Die Erziehung und Bildung von Menschen mit einer geistigen Behinderung ist ein selbstverständlicher und integrierter Bestandteil unserer Kultur geworden.
Der inzwischen erreichte Fortschritt sozialer Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zeigt sich im Besonderen in der hohen öffentlichen Akzeptanz des von den Vereinten Nationen 2006 verabschiedeten „Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“. Diese UN- Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist ohne besondere Probleme am 21. Dezember 2008 vom Deutschen Bundestag als Bundesgesetz übernommen worden und hat über die Medien einen starken positiven Widerhall gefunden. Der neue Leitbegriff der „Inklusion“ ist zu einem alles beherrschenden Signalbegriff in der Behindertenarbeit geworden. Er hat höchste Erwartungen an eine demnächst mögliche Verwirklichung einer „inklusiven Gesellschaft“ geweckt. Die neuen Devisen lauten: „Eine Schule für alle!“ und keinerlei institutionelle Besonderungen („Exklusionen“) für Menschen mit Behinderungen!
So sehr dieser Inklusionsschub zu begrüßen ist und mit Sicherheit die Integration/Inklusion von Menschen mit Behinderungen weiter voranbringen wird, so sind doch auch Differenzierungen bezüglich der realen Chancen nötig. Auf dem Wege zu weiterem Fortschritt muss man sich auch mit Hindernissen und Problemen auseinandersetzen, die in einer freien Demokratie und in der Vielfalt der gesellschaftlichen Mentalitäten und Interessen unausbleiblich sind. Ideen und Ideologien sind wichtig, aber eben auch ihr Anschlusswert in der Realität ist es.
Unter diesem Aspekt wären einige Entwicklungen und Tendenzen zu benennen, die nicht unbedingt für eine inklusive Gesellschaft sprechen, in der jeder Mensch wirklich willkommen und gleichberechtigt wäre:
1. Das öffentliche Bildungsinteresse wird gegenwärtig nicht so sehr von der schulischen Gemeinsamkeit von Kindern mit und ohne Behinderung bestimmt als vielmehr von einer ökonomisch bedingten allgemeinen Leistungssteigerung. Die neuen bildungspolitischen Programme tendieren zu einer verstärkten Förderung der produktiveren Schülerinnen und Schüler, während die schwächeren in zunehmendem Maße eine Randrolle spielen (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2003). Diese einseitige Schwerpunktsetzung könnte bewirken, dass die Bildung derjenigen an Wert verliert, die nicht zu den Hochqualifizierbaren gehören. Bereits jetzt stagnieren bzw. verringern sich die staatlichen Aufwendungen für diejenigen, die nur geringere Verwertungspotenziale einbringen, die sich also zu wenig „rechnen“. Ihre beruflichen Chancen sinken ohnehin. Wirtschaftlich gesehen rangieren sie als „Überflüssige“(Speck 1999).
2. Mit den fortgeschrittenen Möglichkeiten der Biotechnik und der pränatalen Medizin, behindertes Leben zu verhindern, verändert sich das Menschenbild. Der Wert behinderten Lebens könnte absinken. Zur Zielvorstellung könnte eine „Welt ohne Behinderte“ werden. Auftrieb erhält die Leitvorstellung vom Leitbild eines „perfekten Menschen“ bzw. von der Optimierung seiner biotischen Ausstattung. Die Gentechnologie verheißt künftig „ideale Kinder mit idealen Merkmalen“ (zit. b. Fukujama 2002).
Diese Tendenzen und Aussichten auf künftig makellose und möglichst perfekte Neugeborene werden nicht ohne Auswirkung auf die Vorstellungen vom Sinn menschlichen Lebens bleiben. Behinderung dürfte künftig als Codierungsfehler oder vermeidbarer Irrtum verstanden werden, als Leben also, das es zu verhindern gilt. Diese Entwicklung zu einem biotechnischen Zeitalter dürfte nur schwer aufzuhalten sein. Wer wollte es Eltern übelnehmen, wenn sie den Wunsch haben, ein möglichst gesundes Baby zu bekommen? Andererseits: Welche Chancen werden dann Kinder mit einer geistigen Behinderung haben, ein lebenswertes Leben in einer sie akzeptierenden Umwelt leben zu können?
3. Im Gegensatz zum angestrebten Ziel einer „inklusiven Gesellschaft“ entwickelt sich nach soziologischen Befunden (Hartmann 2007) eine wachsende Tendenz zu „sozialer Exklusivität“ und zur Homogenität der Eliten. Sie entspricht der wachsenden sozialen Spaltung der Gesellschaft und ist mit einer Abschottung gegenüber den schwächeren Sozialschichten verbunden. Die soziale Ungleichheit der Gesellschaft werde noch massiv zunehmen. Die Rede von sozialer Gerechtigkeit gleiche eher einer wohlfeilen Sonntagsrede. – Auch Cloerkes (2001) konstatierte, dass in Teilen der Gesellschaft ausgeprägte Haltungen der Distanzierung zu beobachten sind, dass sich diese aber nicht auf die Gesamtheit der Menschen mit Behinderungen bezieht, sondern auf bestimmte Formen der Abweichung, und dass derartige Einstellungen kulturell beeinflussbar sind.
Die genannten quer liegenden gesellschaftlichen Teiltendenzen müssen nicht einfach hingenommen werden. Es hätte auch keinen Sinn, zu warten und zu hoffen, bis sich günstigere Rahmenbedingungen einstellen oder eine Gesellschaft kreiert worden ist, die alle befriedigt. Eine solche Vorstellung, etwa einer egalitären Gesellschaft, wäre ein gefährliches Phantasma (Baudrillard 2000); denn nichts geht nur von einem einzigen Prinzip aus und keines der sich gegenseitig ausschließenden und sich unentwirrbar manifestierenden Prinzipien wird sich besiegen lassen. Ohne das polare oder antagonistische Prinzip müsste „das Eigentümliche des Menschen und also auch des Humanismus“ verschwinden (54). In einer Welt, in der das Individuum zum „perfekten Subjekt“ und damit zum „Subjekt ohne den Anderen“ wird, müsste „Heil“ seinen Sinn verlieren. Die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft hat sich vielmehr auf ständig neue Antagonismen und entsprechende Auseinandersetzungen einzustellen. Wenn es unter dieser Prämisse um die Rechte und Chancen von Menschen mit Behinderungen geht, müssen diese auch gegen Widerstände geltend gemacht werden und zwar in einer Form und mit Forderungen, die sich vernünftigerweise auch in die Realität umsetzen lassen. Ideologische Totalisierungen des gegenwärtigen Leitprinzips der Inklusion („Keine Sondereinrichtungen!“) können es als Utopie eher desavouieren (Ahrbeck 2014, Felten 2017). Wenn als wichtigste Bedingung für eine Realisierung eine „inklusive Gesellschaft“ gefordert wird, also eine Ausschaltung oder Überwindung der Gegentendenzen, so untergräbt sich das Prinzip der Inklusion selbst. Wenn der soziale Aspekt („soziale Teilhabe“) derart forciert wird, dass jegliche spezielle Förderung als zweitrangig gilt, wenn mit der Forderung nach „einer Schule für alle“ – und zwar ohne Ausnahme – spezielle Klassen und Schulen total in Frage gestellt werden, könnte dies dazu führen, dass bestimmte Kinder mit geistiger und mehrfacher Behinderung benachteiligt werden (Ahrbeck 2011). Wenn Übereinstimmung darüber besteht, dass eine gelingende schulische Inklusion von den notwendigen Rahmenbedingungen abhängt, diese aber aktuell nur vereinzelt und unzulänglich verfügbar bzw. in Sicht sind, wäre es unverantwortlich, unzulängliche, d. h. billige Provisionen, in Kauf zu nehmen.
Das Leitprinzip der sozialen und damit der schulischen Inklusion, das als Gegenprinzip zur wachsenden sozialen Spaltung der Gesellschaft unverzichtbar notwendig ist und mit aller Deutlichkeit vertreten werden muss, wird nur dann Zukunft haben, wenn es überzeugend und praktikabel vertreten wird. Es wäre nicht zu verantworten, wenn es auf Kosten des ebenso wichtigen Prinzips der Förderung der individuellen speziellen Förderungsbedürfnisse von Kindern mit geistiger Behinderung vereinseitigt würde. Nichts heilpädagogisch Notwendiges darf um der „reinen Lehre wegen“ aufgegeben werden. Eine Geistigbehindertenpädagogik ist weder durch eine „Sonderpädagogik der Heterogenität“ noch durch eine „Pädagogik der Vielfalt“ ersetzbar. Umgekehrt verlöre die Geistigbehindertenpädagogik ihre fachliche Legitimität, wenn sie nicht immer wieder auch geeignete Wege zur schulischen und sozialen Integration/Inklusion aufzeigen und gehen würde. Entscheidend ist das Wohl des Kindes, d. h. die humane Weiterentwicklung seiner Persönlichkeit auf der Leitbasis einer auf mehr soziale Teilhabe gerichteten Gesellschaft. Dabei werden wir nicht nur einen langen Atem, sondern auch einen kühlen Kopf brauchen, zumal – auch für viele Eltern – in Frage steht,...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2018 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Behinderung • Geistigbehindertenpädagogik • Geistige Behinderung • Heilpädagogik • Otto Speck • Sonderpädagogik |
ISBN-10 | 3-497-61046-1 / 3497610461 |
ISBN-13 | 978-3-497-61046-4 / 9783497610464 |
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