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Kritik der auseinanderdriftenden Gesellschaft

(Autor)

Buch | Softcover
257 Seiten
2020
Campus (Verlag)
978-3-593-51300-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kritik der auseinanderdriftenden Gesellschaft - Martin Kronauer
CHF 48,95 inkl. MwSt
In den 1970er-Jahren begann in Westeuropa und den USA der politische Gegenschlag gegen die Ausweitung der sozialen Rechte, die bis dahin hatten durchgesetzt werden können. Im »Krieg zwischen Bürgerrechten und kapitalistischem Klassensystem« (Thomas H. Marshall) gewannen die Verfechter des Klassensystems seither wieder die Oberhand. Auseinanderdriftende Gesellschaften sind die Folge. Sie fordern Kritik in zweierlei Weise heraus: Zum einen gilt es, die Triebkräfte der Spaltungsbewegung aufzuzeigen, zum anderen, die Frage aufzuwerfen, in welcher Gesellschaft man leben will. Diese lässt sich nur aus den Widersprüchen und Konflikten der Gesellschaft heraus beantworten. Um beide Formen der Kritik geht es im vorliegenden Buch. Sie sind besonders dringlich angesichts des Aufstiegs einer internationalen Rechten, die das Auseinanderdriften nutzen will, um Gesellschaft durch das exklusive »Wir« nationalistischer und völkischer Gemeinschaften zu ersetzen.

Martin Kronauer, Soziologe, Politikwissenschaftler und Philosoph, war nach Stationen an der New School for Social Research New York und am SOFI Göttingen bis 2014 Professor für Gesellschaftswissenschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

Inhalt
Vorbemerkung 9
Einleitung: Warum Kritik der auseinanderdriftenden Gesellschaft? 11
Teil I
Das Auseinanderdriften der Gesellschaft: Triebkräfte, Dynamiken, Folgen Der Skandal der Exklusion 27
Soziale Verwundbarkeit, Klassenlage und die »verunsicherte Mitte« 46
Matthäuseffekt und Teufelskreis: Inklusion und Exklusion in kapitalistischen Gesellschaften 59
Was die Institutionenökonomie von der Ungleichheitsforschung lernen könnte: Eine kritische Auseinandersetzung mit »institutioneller Komplementarität«75
Wozu aktiviert der »aktivierende Wohlfahrtsstaat«? 86
Stadt und soziale Frage 100
Teil II
Elemente einer widerständigen Politik des Sozialen Kann »Inklusion« ein Ziel praktischer Gesellschaftskritik sein? Eine neuerliche Lektüre
von Peter Brückners Kritik an sozialer Integration 125
Rechtstendenzen in der Arbeiterschaft und die Notwendigkeit der sozialen Transformation 136
Warum und wie die Linke heute für soziale Gerechtigkeit streiten muss 152
Bedingungsloses Grundeinkommen oder Recht auf Arbeit? 165
Nach dem Bruch des impliziten Gesellschaftsvertrags183
Auseinandersetzungen um das selbstbestimmte Leben 195
Nachtrag in Zeiten der Corona Pandemie 209
Anmerkungen 215
Danksagung 239
Nachweise 241
Literatur 243

»Die Arbeit an einem neuen Gesellschaftsvertrag steht auf der Tagesordnung. Dass dieser nicht mehr systemimmanent im Gegenwartskapitalismus verbleiben kann, aber von dort seinen Ausgangspunkt nehmen muss, weist Kronauer überzeugend nach. [...] Die 'Kritik der auseinanderdriftenden Gesellschaft' kann als Wegweiser für die Zeit nach dem Ende der 'Ära Merkel' gelesen werden.« Richard Detje, WSI Mitteilungen, 74. Jg., 6/2021

»Die Arbeit an einem neuen Gesellschaftsvertrag steht auf der Tagesordnung. Dass dieser nicht mehr systemimmanent im Gegenwartskapitalismus verbleiben kann, aber von dort seinen Ausgangspunkt nehmen muss, weist Kronauer überzeugend nach. […] Die ›Kritik der auseinanderdriftenden Gesellschaft‹ kann als Wegweiser für die Zeit nach dem Ende der ›Ära Merkel‹ gelesen werden.« Richard Detje, WSI Mitteilungen, 74. Jg., 6/2021

Vorbemerkung Was kann ein Buch zur Gegenwartsdiagnose beitragen, das just zu Beginn der sozialen Auswirkungen der Corona-Pandemie abgeschlossen wurde? Ein Buch zumal, das das Auseinanderdriften der Gesellschaft in Deutschland, aber auch anderen europäischen Ländern und den USA zum Gegenstand hat, wo nun, während der Corona Krise, allenthalben gesellschaftliche Solidarität eingefordert und in der Bevölkerung (noch) in einem erstaunlichen Maße praktiziert wird? Ein Buch, das sich mit den sozialen Folgen einer jahrzehntelangen Politik der Unterordnung von Politik unter Marktregeln und Marktmacht auf das Gemeinwesen auseinandersetzt, während gerade in einer noch vor wenigen Wochen unvorstellbaren Weise wieder ein Primat der Politik über die Ökonomie etabliert wurde? Aus einem Buch zur Gegenwartsdiagnose wurde ein Buch zur Diagnose einer erst kurz zurückliegenden Vergangenheit. Aber diese Vergangenheit ist nicht abgeschlossen. Sie wirkt weiter in die Gegenwart hinein. Die Gesellschaften, von denen im Folgenden die Rede ist, gerieten in die Corona Pandemie in einer Verfassung, die vom jahrzehntelangen Auseinanderdriften geprägt war. Das manifestiert sich im problematischen Zustand von Infrastruktur und sozialen Dienstleistungen, insbesondere im Gesundheitswesen, aber auch in der ungleichen Verteilung der sozialen Folgen der Pandemie. Von der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hängt wiederum die Entscheidung über die Zukunft ab. Wenn auch in Deutschland die Gesellschaft nach der Corona-Krise eine andere sein wird als bevor, worin wird das »Andere« bestehen? In einer nach innen wie nach außen stärker egalitär und solidarisch ausgerichteten Gesellschaft? Oder in einer Gesellschaft, die noch schärfer in Gewinner und Verlierer der Krise auseinanderdriften wird? Der »Nachtrag in Zeiten der Corona-Pandemie« greift diese Frage wieder auf. Martin KronauerBerlin, im Mai 2020   Einleitung: Warum Kritik der auseinanderdriftenden Gesellschaft? Der Ausgangspunkt: Eine Kriegserklärung gegen die Gesellschaft In den 1970er Jahren begann in Westeuropa und den USA ein politischer Krieg gegen die Gesellschaft. Die Kriegserklärung lieferte die Premierministerin von Großbritannien, Margaret Thatcher, 1987 in einem viel zitierten Interview nach: »[…] too many children and people […] are casting their problems on society and who is society? There is no such thing! There are individual men and women and there are families and no government can do anything except through people and people look to themselves first. It is our duty to look after ourselves and then also to help look after our neighbours […]« (Thatcher 1987). Um eine veritable Kriegserklärung handelte es sich deshalb, weil es nicht ausreicht, Gesellschaft zu leugnen, wie Thatcher es im Interview tut, um sie zum Verschwinden zu bringen. Um aus vergesellschafteten Individuen die vereinzelten Einzelnen (und vereinzelten Familien) zu machen, von denen Thatcher hier spricht, muss erst das Wissen um die Abhängigkeit von Anderen und die Verantwortung für Andere über den Kreis von Familie und Nachbarschaft hinaus getilgt werden, müssen erst die Institutionen, die Menschen erkämpft haben, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu schützen, zerstört werden, muss erst die Macht, die ohnmächtige Einzelne durch ihren Zusammenschluss gegen die Mächtigen gewonnen haben, gebrochen werden. Und darauf zielte in der Tat die Politik der Thatcher Regierung seit dem Ende der 1970er Jahre ab, vor allem ihr Krieg gegen die Gewerkschaften. Von den streikenden Bergarbeitern sprach sie 1984 »als dem ›inneren Feind‹« (Schröder 2010: 91). Ihr Vorgehen hat Vorbildcharakter. Noch am 9. Juli 2003 schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Margaret Thatcher ist etwas gelungen, wovon andere Regierungen nur träumen, und sei es insgeheim: die Gewerkschaften in die Knie zu zwingen«. Richtungsweisend wurde bis heute auch ihre Politik der Privatisierungen von Staatsunternehmen und Unternehmen der lokalen Daseinsvorsorge. Um sich die Tragweite des hier proklamierten Angriffs auf die Gesellschaft zu vergegenwärtigen, muss er als Gegenrevolution gegen die »geistig moralische Revolution« verstanden werden, die am Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte. Wie Pierre Rosanvallon in seiner Ideengeschichte der Gleichheit ausführt, wurde »die Aufwertung von Gleichheit und Solidarität gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch durch ein neues Verständnis vom Wesen der Gesellschaft befördert« (Rosanvallon 2013: 224). Dieses neue Verständnis entstand als Antwort auf die neue Realität des industriellen Kapitalismus und die neue gesellschaftspolitische Kraft, die er hervorbrachte, die Arbeiterbewegung. Es breitete sich in verschiedenen geistigen und politischen Strömungen in Frankreich, Deutschland und Großbritannien aus, schloss eine Auffassung des Menschen als genuin gesellschaftliches Wesen ein, das in wechselseitiger Abhängigkeit und somit auch wechselseitiger Verantwortung lebt, gründete das Postulat sozialer Gerechtigkeit nicht mehr auf dem Gebot der Nächstenliebe, sondern auf »der Struktur des Sozialen selbst« (ebd.: 229) und wies dem Staat eine neue Rolle zu: »Es war sogar möglich, die Ausdehnung seiner Tätigkeit zur Voraussetzung für die Verwirklichung der Grundrechte und der Solidarität zu erklären«. Auf diese Weise, schreibt Rosanvallon, »vollzog sich eine regelrechte Neuformulierung des republikanischen Gedankens« (ebd.). Er findet sich im Kern bereits bei Rousseau, im politischen Charakter des Gesellschaftsvertrags: »Jene öffentliche Person, formiert aus der Assoziation aller, hieß früher polis und heißt heute Republik oder Gemeinwesen; wir benutzen die Bezeichnungen politische Körperschaft oder schlicht politischer Körper« (Rousseau [1762] 2012: 29). Gesellschaft, die Assoziation aller, ist mehr als die Summe vereinzelter Einzelner. Sie muss sich politisch als Gemeinwesen konstituieren, um das Allgemeine der Assoziation zur Geltung zu bringen, ohne die Besonderheit der Einzelnen auszulöschen. Gegen Gesellschaft als politisches Gemeinwesen richtete sich Thatchers Kriegserklärung. Mit politischen Mitteln führte sie ihren Kampf. Bürgerrechte und kapitalistisches Klassensystem Wem die Kriegsmetapher zu weit hergeholt erscheint, den möchte ich an einen Autor erinnern, der sich ihrer 1947 ebenfalls in England bediente. Damals schienen allerdings diejenigen Kräfte die Oberhand zu gewinnen, die das Allgemeine, nämlich Gesellschaft und Demokratie, durch soziale Rechte politisch stärken wollten. In den für die Soziologie des Sozialstaats bahnbrechenden Vorlesungen von Thomas Humphrey Marshall zum Thema »Bürgerrechte und soziale Klassen« heißt es: »Ich habe bereits gesagt, dass im zwanzigsten Jahrhundert Staatsbürgerrechte und kapitalistisches Klassensystem miteinander im Krieg liegen. Vielleicht ist die Wortwahl etwas zu stark, aber es ist ohne weiteres einzusehen, dass die ersteren dem zweiten Beschränkungen auferlegt haben« (Marshall 1992: 81). Das kapitalistische Klassensystem musste bekämpft werden, es mussten ihm politisch »Beschränkungen auferlegt« werden, damit im westlichen Europa (und in gewissem Umfang auch in den USA, dort jedoch unter Ausschluss der indigenen und afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen) der Bürgerstatus ausgeweitet und die Lohnabhängigen und die Frauen im Rahmen nationalstaatlicher Verfassungen gleichberechtigt (wenn auch noch immer nicht als Gleiche) einbezogen werden konnten. Allerdings blieb der Bürgerstatus in einer wesentlichen Hinsicht eingeschränkt: Er schloss die demokratische Kontrolle über Unternehmen und kapitalistische Marktwirtschaft aus. In der Phase der verminderten Einkommensungleichheit und der relativen Vollbeschäftigung nach dem Zweiten Weltkrieg, des Ausbaus der sozialen Sicherungssysteme und der sozialen Dienstleistungen, der engeren Einbindung von kapitalistischen Unternehmen in nationalstaatliche Regeln haben sich die Gesellschaften weitreichend verändert. Sie wurden zu »Lohnarbeitsgesellschaften« (Castel 2000a: 283), in denen Erwerbsarbeit für immer mehr Menschen (insbesondere die Frauen) eine zentrale Bedeutung erlangte und sich zugleich immer stärker differenzierte; in denen sich auf der Grundlage einer vorübergehenden Annäherung in den Lebensverhältnissen die Spielräume für individuelle Entscheidungen erweiterten. Es ist ein bedrückender historischer Befund, dass seit der französischen Revolution Schübe in die Richtung größerer sozialer Gleichheit in Europa und den USA fast ausschließlich erst nach großen politischen und wirtschaftlichen Katastrophen durchgesetzt wurden, nach dem Ersten Weltkrieg, nach der Weltwirtschaftskrise und nach dem Zweiten Weltkrieg (Piketty 2014: 627; Scheidel 2017). In den drei Jahrzehnten nach Marshalls Vorlesungen schien der Krieg zwischen Bürgerrechten und Klassensystem in einen, wenn auch prekären, Frieden gemündet zu sein. Umso heftiger brach er danach wieder aus, nun jedoch mit umgekehrten Vorzeichen, diesmal mit den Verfechtern des Klassensystems auf dem Vormarsch. Die Verfechter des Klassensystems sind nicht ihrerseits vereinzelte Einzelne. Es sind sozial bestens vernetzte, in ihrer Klasse vergesellschaftete Individuen und deren Familien. Sie verfügen über Mittel, die sie nie jemals aus eigener Kraft hätten schaffen können, sondern die genuin gesellschaftlich erzeugt wurden und die sie sich angeeignet haben, als Kapital in seinen verschiedenen Formen und daraus abgeleitete Macht. Zwei im letzten Jahr in deutscher Übersetzung erschienene Studien werfen ein neues Licht auf die Ziele und strategischen Überlegungen der Protagonisten des »Neoliberalismus«, die in besagtem Krieg federführend werden sollten. Die Autoren betonen den ausgesprochen politischen Charakter des neoliberalen Denkens. Und sie zeigen, dass es in der Tat auf die Zerstörung von Gesellschaft als politischem Gemeinwesen angelegt ist. In »Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus« zeichnet Grégoire Chamayou »aus der Sicht der herrschenden Klassen« (Chamayou 2019: 10) Doktrinen und Techniken dieses Krieges nach. Er begann in den 1970er Jahren als Antwort auf »aufsässige Arbeiter« (ebd.: 17), eine Legitimationskrise des Kapitalismus, Kontrollverluste der Eigentümer über die Unternehmen, soziale und ökologische Bewegungen, kurz: auf eine aus Sicht der herrschenden Klassen »unregierbare Gesellschaft«. Die Zielrichtung ihres Kampfs war und ist eine doppelte: Zurückdrängen des Staats als Sozialstaat aus der Gesellschaft, und Befreiung staatlicher Autorität vom »Druck des ›Volkswillens‹« (ebd.: 346). Im Kern geht es um »das absolute Verbot, die Ordnung sozialer Ungleichheiten anzutasten, die Verweigerung jeglicher Umverteilungspolitik« (ebd.: 346 f.). Um ein solches Verbot durchzusetzen, bedarf es eines starken Staats, der in der Lage sein muss, Widerstände in der Gesellschaft zu brechen. Immer wieder weist Chamayou auf eine innere Verbindung im Denken von Friedrich Hayek und Carl Schmitt hin (ebd.: 305 f.). Zugleich soll dieser Staat aber auch nach Hayek »die Politik entthronen« (ebd.: 309). Wie ist es möglich, einer scheinbar so widersprüchlichen Anforderung Genüge zu tun? Dadurch, dass der Markt zur »politischen Technologie« erhoben wird: »Der Markt wurde von dem, woraus sich die Politik gefälligst heraushalten sollte, zu etwas, dem die Politik sich fortan zu unterwerfen hatte« (ebd.: 316). Zu einem entscheidenden Hebel wurde dabei wiederum die Politik selbst, vor allem in Gestalt der Privatisierung oder Teilprivatisierung öffentlicher Unternehmen und der Einführung von Kriterien der Markteffizienz in die Erbringung sozialer Dienstleistungen. Quinn Slobodian weist in seiner Untersuchung über »die Geburt des Neoliberalismus« nach, dass das Ziel, die Politik zu enttrohnen, nicht allein national, sondern transnational auf das Zurückdrängen des Einflusses der Nationalstaaten angelegt war. Hayek »konzentrierte sich zusehends auf die Suche nach einer rechtlichen und institutionellen Lösung für die Störung der Marktprozesse durch die Demokratie. Anders als die Ordoliberalen, die nach einer ›Wirtschaftsverfassung‹ auf nationaler Ebene riefen, strebten die Neoliberalen der Genfer Schule eine Wirtschaftsverfassung für die Welt an« (Slobodian 2019: 22). Ihren Einfluss machten sie wiederum politisch geltend, insbesondere bei der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO). Aber auch Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IMF) oder der Vorrang der Märkte vor der wirtschafts und sozialpolitischen Einheit bei der Institutionalisierung der Europäischen Union stehen im Zeichen neoliberaler Doktrin und politischer Praxis. Globalisierung verstanden Hayek und seine Mitstreiter als politisches Projekt, das die Märkte gegen Einflüsse aus der Gesellschaft abschirmen sollte: »Die normative neoliberale Weltordnung ist kein grenzenloser Markt ohne Staaten, sondern eine doppelte Welt, die von den Hütern der Wirtschaftsverfassung vor den Forderungen der Massen nach sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung geschützt wird« (ebd.: 29). Vereinzelte Einzelne zu schaffen, die einerseits dem (aus gesellschaftlicher Verantwortung entlassenen) Staat, andererseits dem Markt und damit dem Kapital ausgeliefert sind, darauf laufen Thatchers Kriegserklärung gegen die Gesellschaft ebenso wie die »normative neoliberale Weltordnung« hinaus. Angriffe auf das politische Gemeinwesen wurden und werden seither mit ähnlichen Mitteln, aber in national unterschiedlichen Varianten in vielen europäischen Ländern ebenso wie in den USA geführt. Dass sich die neoliberale Doktrin und politische Praxis weder in Großbritannien noch in anderen europäischen Ländern oder der Europäischen Union ungebrochen durchsetzen konnten, liegt an Widerständen aus der »unregierbaren Gesellschaft«. Jedoch hatten sich bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Kräfteverhältnisse zwischen Bürgerstatus und kapitalistischem Klassensystem wieder deutlich zugunsten des Klassensystems in alter wie neuer Gestalt verschoben. Auseinanderdriftende Gesellschaften waren und sind die Folge. Auch in Deutschland driften die Lebensverhältnisse auseinander. Es ist keine »Abstiegsgesellschaft« (denn die wäre im Abstieg geeint), sondern eine Gesellschaft mit zunehmenden Ungleichheiten in der Verteilung von Einkommen, Vermögen, Arbeitsplatzsicherheit, sozialer Absicherung, Zugang zu Infrastruktur und sozialen Dienstleistungen, politischer Beteiligung, wirtschaftlicher und politischer Macht. Vor allem die Regierung Schröder erhob den Markt zur »politischen Technologie«. Dass auch bei ihr die Vereinzelung der Einzelnen politisches Programm wurde, hat eine in all ihrer Widersinnigkeit doch bezeichnende Wortschöpfung auf den Punkt gebracht: »Ich AG«. Die Aufgabe der Kritik An drei eng miteinander verbundenen und für das gesellschaftliche Zusammenleben heute zentralen Verhältnissen setzt der Angriff auf das politische Gemeinwesen an: an den Beschäftigungs und Arbeitsverhältnissen (die gegenwärtig um abhängige Erwerbsarbeit zentriert sind), an den sozialen Rechten, die das kapitalistische Klassensystem beschränken und damit die politischen und persönlichen Rechte des Bürgerstatus fundieren und absichern sollen, sowie an den Verteilungsverhältnissen des gesellschaftlichen Reichtums. Die Auswirkungen betreffen nicht zuletzt den Rückhalt in sozialen Beziehungen von Verwandtschaft und Bekanntenkreisen, die Thatcher den ansonsten vereinzelten Einzelnen immerhin zugestehen wollte. Was dies für die Gesellschaft bedeutet, ist Thema dieses Buchs. Einen Weg zurück zum Ausgangspunkt, bevor das Auseinanderdriften einsetzte, gibt es nicht. Zum Ausgangspunkt zurückkehren zu wollen wäre aber auch sinnlos, denn in ihm war die Möglichkeit des Auseinanderdriftens bereits angelegt. Daraus resultiert die Hilflosigkeit, die derzeit in vielen politischen Beschwörungen des »sozialen Zusammenhalts« zum Ausdruck kommt.

Erscheinungsdatum
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 215 x 142 mm
Gewicht 337 g
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Makrosoziologie
Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Corona • Demokratie • Exklusion • Gemeinschaft • Gemeinwesen • Gesellschaft • Gesellschaftlicher Zusammenhalt • Gesellschaftsanalyse • Gesellschaftstheorie • Inklusion • Klassensystem • Körperschaft • Lohnarbeitsgesellschaft • Mittelstand • Polarisierung • Produktivkräfte • Rechtspopulismus • Sozialstaat • Sozialstruktur • Sozialstrukturanalyse • Sozialtheorie • Ungleichheit • Wohlfahrtsstaat
ISBN-10 3-593-51300-5 / 3593513005
ISBN-13 978-3-593-51300-3 / 9783593513003
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