Heimkehr (eBook)
208 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00562-4 (ISBN)
Wolfgang Bu?scher, geboren 1951 bei Kassel, ist Schriftsteller und Autor der «Welt». «Er hat der Reiseliteratur», wie es im «Deutschlandfunk» hieß, «zu neuem Glanz verholfen.» Zu seinen Veröffentlichungen zählen «Berlin - Moskau» (2003), «Deutschland, eine Reise» (2005), «Hartland» (2011) und «Ein Fru?hling in Jerusalem» (2014). Fu?r sein Werk wurde Wolfgang Bu?scher vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kurt-Tucholsky-Preis, dem Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis und dem Ludwig-Börne-Preis.
Wolfgang Büscher, geboren 1951 bei Kassel, ist Schriftsteller und Autor der «Welt». «Er hat der Reiseliteratur», wie es im «Deutschlandfunk» hieß, «zu neuem Glanz verholfen.» Zu seinen Veröffentlichungen zählen «Berlin – Moskau» (2003), «Deutschland, eine Reise» (2005), «Hartland» (2011) und «Ein Frühling in Jerusalem» (2014). Für sein Werk wurde Wolfgang Büscher vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kurt-Tucholsky-Preis, dem Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis und dem Ludwig-Börne-Preis.
Die Hütte
Dass ich hier sein durfte, verdankte ich reiner Generosität. Im Herbst hatte ich von der Hütte gehört – eine Jagdhütte mitten im Wald, mitten im Land, mitten in der Welt, in die ich geboren worden, in der ich aufgewachsen war in einer anderen Zeit. Sie ging mir nicht aus dem Kopf, die Vorstellung, dort eine Zeit zu verbringen, vielleicht Frühjahr, Sommer und Herbst. Die Hütte gehörte, wie die Wälder, in denen sie stand, einem seit neunhundert Jahren ansässigen Fürstenhaus, die ersten achthundert Jahre lang hatte es sein nicht eben großes, nicht eben reiches und eher bäuerliches Land regiert. Seine Macht und den allergrößten Teil seiner Wälder, Güter und Ländereien hatte es hergeben müssen, nachdem der letzte deutsche Kaiser nach Holland geflohen und die Republik ausgerufen worden war, auch seine Schlösser verlor es. In einem aber lebte die Fürstenfamilie noch, das hatte man ihr damals zugestanden, im prächtigsten von allen, dem Residenzschloss.
Ein Freund war mit dem Erbprinzen bekannt, einem jungen Mann, dem sein Vater vor kurzem die Leitung der Forstwirtschaft und der Familiendinge übertragen hatte, er bot an, uns bekanntzumachen. Noch im selben Herbst ging ich ins Schloss, um meinen, zugegeben, etwas seltsamen Wunsch vorzutragen. Der Erbprinz wunderte sich darüber nicht groß, und tat er es doch, überspielte er es gut. Er schien aber nicht sicher zu sein, ob sich der Gast aus der Großstadt nicht zu viel zutraue – ein komfortverwöhnter Mensch in einer einsamen Hütte im Wald. Die Jagdhütte seiner Familie, erklärte er mir, sei wirklich eine solche und werde allein bei Jagden genutzt, immer nur wenige Tage lang. Für einen längeren Aufenthalt, gar über Monate, sei die Hütte weder eingerichtet noch jemals gedacht gewesen.
Eben dies aber war mein Wunsch. Er beschrieb mir, was mich dort draußen erwarte. Alles äußerst schlicht, kein fließendes Wasser, kein elektrisches Licht, überhaupt kein Strom. Latrine. Er sah mich forschend an, und ich sah ihm an, dass er seine Zweifel hatte. Ich sagte, schließlich wolle ich nicht den Winter dort verbringen und mit Feldbett und Gaskocher werde ich schon zurechtkommen. Eine Sache sei da noch, schloss er, ein paarmal würde ich die Hütte räumen müssen wegen der Jagdgesellschaften, zu denen er einlud. Im Mai, wenn die Jagd auf den Rehbock beginne, kämen erst die jungen Jäger, Prinzen der Familie und ihre Freunde. In den Wochen darauf folgten die Älteren. Und an einem Wochenende im Frühsommer würde sich, wie in jedem Jahr, die ganze verzweigte Fürstenfamilie bei der Jagdhütte einfinden, dann seien alle lebenden Generationen im Wald versammelt. Die Jagd war eine alte Passion der Familie, und sie lebte fort.
Sind Sie Jäger? Das würde ich noch oft gefragt werden in diesem Sommer. Ich war es nicht. Meine Antwort wurde jedes Mal wortlos quittiert, mit einem Nicken – und mit einem leisen Bedauern, das sich auf mich übertrug. So wie man jemanden fragt, waren Sie jemals am Meer, und der Gefragte verneint und ahnt im selben Moment, dass er die Welt nicht recht kennt und ihm womöglich etwas fehlt zu seinem Glück.
Der Erbprinz stellte mir noch ein, zwei Fragen nach meiner Arbeit und meinen Absichten, dann verabschiedeten wir uns. Er versprach, sich bald zu melden. Einige Tage später lud er mich ohne weitere Umstände ein, nächstes Jahr in die Jagdhütte seiner Familie zu ziehen, und verwies mich an denjenigen seiner Förster, in dessen Revier die Hütte lag.
Als ich zum ersten Mal hinging, sah ich sie schon von weitem im lichten Winterwald, und es gefiel mir nicht, so sichtbar zu sein, so ausgestellt, so hatte ich mir meine Wald-Eremitage nicht vorgestellt. Die Enttäuschung verflog, als ich die Hütte erreichte. Ich kannte das, Orte haben immer schon eine starke Reaktion bei mir ausgelöst, entweder sie stoßen mich ab, oder sie ziehen mich an. Ich öffnete das Tor im Staketenzaun, stand im Hof, und es war gut. Wer immer den Zaun aus halbierten Stämmchen gebaut hatte, er hatte einen Sinn für Späße und für Kinder. Gleich drei Tore hatte er hineingezimmert – ein hohes Tor für die Großen, bekrönt mit einem verwitternden Hirschgeweih, ein niedriges mit einem Rehbockschädel im Zenit für Kleine und eines für ganz Kleine und für die Hunde.
Die Jagdhütte war hübsch anzusehen mit ihren drei aus dem Wald herausleuchtenden weißen Sprossenfenstern. Außer ihr gab es die Scheune und den überdachten Feuerplatz, alle drei lagen etwa im Halbkreis um den Hof, der nichts weiter war als plattgetretener schwarzer Waldboden. Hohe Buchen beschirmten das alles, zwölf zählte ich, die mächtigste stand mitten im Hof. Ihre tiefhängenden Zweige umfingen das Dach der Hütte. Verschwenderisch hatte sie Bucheckern geworfen im Herbst, zu Tausenden lagen sie auf der nackten Erde. Ihren nussig-süßen Geschmack kannte ich gut, bei unseren Waldstreifzügen hatten wir ihre Schalen mit den Fingernägeln aufgeknackt und die Kerne gegessen. Gelang es auch nur einem kleinen Teil von ihnen, sich hier zu verwurzeln, würde es von sattgrünen Keimlingen bald nur so wimmeln in meinem Hof. Meinem Hof? Er gehörte mir nicht, so wenig wie die Hütte. Das war gleichgültig, ich war hier, wirklich hier, das war das gute, starke Empfinden, das sich eingestellt hatte, sobald ich durchs Tor gegangen war – ich war hier, und wenn nicht Herr der Hütte, so doch Herr meiner Zeit in ihr. Wasser und das Nötigste musste ich herbeischaffen, sonst konnte ich tun und lassen, wonach mir der Sinn stand.
Als ich dann auf der Bank vor der Jagdhütte saß, einer dicken, in vielen Sommern und Wintern verwitterten Bohle, aus einem Baumstamm geschnitten, war ich nicht allein. Der Alte, zu dem ich mich setzte, stellte sich vor, in schlichten Reimen.
Ich bin der Wald, ich bin uralt.
Ich hege den Hirsch und das Reh,
Schütz Euch vor Sturm und vor Schnee.
Ich wehre dem Frost und wahre die Quelle,
Bin immer zur Stelle.
Ich bau Euch das Haus, heiz Euch den Herd,
Darum, Ihr Menschen, haltet mich wert.
Der Sinnspruch hing in einem Holzrahmen neben der Hüttentür, und so viel war klar: ein Romantiker, wie es ihm manche andichteten, war der Uralte nicht. Er raunte mir keine Waldweisheiten zu, wollte nicht als höheres Wesen verehrt oder endlich als Mensch wie du und ich anerkannt werden – und schon gar nicht als Bruder Baum umarmt, das hätte er albern gefunden. Er zählte auf, was er uns Menschen zu bieten hatte. Mein Hirsch, mein Wasser, meine Luft, mein Holz. Ein wenig Respekt, das war alles.
Hier sein, wirklich hier, dieses Gefühl erfüllte die ersten Tage. Am Abend würde ich Feuer machen, mich ausstrecken unter den Sternen, einen Arm unterm Kopf, und dem Nachtwind lauschen, allein in meiner Hütte. Ich war nicht mehr einer, der in den Wald geht, ich würde einer aus dem Wald sein.
Ein Auto näherte sich. Der Förster kam, und mir gefiel der Gedanke, jetzt hast du eine Hütte im Wald und endlich den Förster auf deiner Seite. Er brachte Wasserkanister mit, fragte, ob mir sonst etwas fehle, und riet mir zur Scheune. Die Jagdhütte sei schattig und klamm um diese Jahreszeit, aber die Scheune, nach Süden gelegen, kriege viel Sonne ab, sie habe größere Fenster und den tüchtigeren Ofen, ihn werde ich schätzen lernen.
Ich folgte seinem Rat. So anheimelnd die Jagdhütte mit ihrem überstehenden, moosbepelzten Spitzdach wirkte, ich blieb erst einmal in der Scheune. Ihre eine Hälfte war ein offener Schuppen, in dem weiteres Brennholz und Werkzeug lagerte; früher hatte man hier das erlegte Wild aufgebrochen, ein Gestell dafür stand noch da, die Holzschale blutig verfärbt. In der geschlossenen Hälfte der Scheune machte ich Quartier. Ich setzte mein Vertrauen in den Eisenofen, trotz des völlig durchgerosteten Ofenrohrs. Das Nötigste war rasch ausgepackt. Feldbett und Decke, Handlampe, Feldstecher, Gaskocher, dazu Ersatzkartuschen und Batterien, etwas Kleidung, Rasierzeug, Schreibzeug, Feuerzeug, das Messer, Wasservorräte, Kaffee, ein paar Konserven. Kerzen fand ich reichlich und eine Kiste Bier, zurückgelassen von der letzten Jagdgesellschaft.
Auch mit der Jagdhütte versuchte ich es, mit ihrem anspruchsvolleren und zierlicheren Ofen. Unter ihrem Vordach fand ich reichlich Feuerholz, in drei Reihen hintereinandergestapelt, klein genug gehackt für ihn. Denn er war gar kein Ofen, er war ein Küchenherd. Ich erkannte ihn sofort wieder, er hatte in der Küche gestanden, in der das Abendbrot auf mich wartete, an dem ich vorbeirannte, die Treppe hinauf – ein unerwartetes Wiedersehen mit dem Hausgenossen aus Eisen, Jahrzehnte später, im Wald.
Er war es tatsächlich, nur als Miniatur, verglichen mit dem großen in unserer Küche. Sonst stimmte alles. Die schwellenden Formen, die Haustiertatzen, auch war er ganz in weiße Emaille gekleidet. Die drei Klappen, die obere zum Feuerfach, die mittlere für Luft, die untere für die Asche. Und der Backofen. Warm schmeckte der Kuchen daraus am besten. Nicht einmal das Heißwasserschiff fehlte, silbrig ankerte es auf der gusseisernen Herdplatte. Winterbilder stiegen herauf. Es wurde darauf geachtet, dass das Schiff bis an den Rand gefüllt und immer heißes Wasser vorrätig war. Das wurde an Wintertagen in eine Wanne gegossen, mit kaltem Wasser gemischt, und dann setzte die Mutter das verfrorene Kind hinein, mitten in der großen Küche. Lange erlebte ich ihn nicht mehr, ein moderner Herd kam ins Haus, der weiße Freund wurde in den Keller verbannt, in die Waschküche, wo die Frauen im Sommer Marmelade kochten.
Eine Mutprobe...
Erscheint lt. Verlag | 18.8.2020 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Reisen ► Reiseberichte ► Deutschland | |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Besinnung • Deutschland • Einfachheit • Einkehr • Einsamkeit • Entschleunigung • Erkundung • Heimkehr • Hütte • Jahreszeiten • Land • Natur • Provinz • Reisebericht • Reiseerzählung • Reiseliteratur • Rückzug • Wald • waldgang • Waldleben • Wesentliches • Wildnis |
ISBN-10 | 3-644-00562-1 / 3644005621 |
ISBN-13 | 978-3-644-00562-4 / 9783644005624 |
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