ICF-basiertes Arbeiten in der inklusiven Schule (eBook)
194 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61172-0 (ISBN)
Prof. Dr. Manfred Pretis, Heilpädagoge und klinischer Psychologe, lehrt Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg. Prof. Silvia Kopp-Sixt lehrt am Institut für Professionalisierung in der Elementar- und Primärpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Steiermark, Graz.Rita Mechtl, Sonderschullehrerin und Dipl.-Konduktorin, leitet die privaten Schulen Oberaudorf-Inntal.
Prof. Dr. Manfred Pretis, Heilpädagoge und klinischer Psychologe, lehrt Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg. Prof. Silvia Kopp-Sixt lehrt am Institut für Professionalisierung in der Elementar- und Primärpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Steiermark, Graz.Rita Mechtl, Sonderschullehrerin und Dipl.-Konduktorin, leitet die privaten Schulen Oberaudorf-Inntal.
2 Die ICF als Problemlösungsinstrument inklusiven Handelns
Theoretisch sollte die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; WHO 2005) bereits in den Schulsystemen in Deutschland, Österreich und der Schweiz angekommen sein. Die Situation eines Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf könnte dadurch inklusiv verstanden werden, da die jeweilige Lernumwelt fähigkeitsorientiert dargestellt wird: Der Fokus läge dabei für die Fachpersonen in der Schule, für die Eltern und die Mitschüler darauf, was Kinder mit Entwicklungsproblemen können, und nicht darauf, was sie nicht können (d. h., wo sie behindert sind oder behindert werden).
Dabei ist die ICF durch das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG 2017), das vorsieht, dass Teilhabeziele nach der ICF beschrieben werden müssen, außerschulisch in aller Munde. Hingegen scheinen die Uhren in Deutschland noch ein wenig anders zu ticken, wenn es darum geht, Teilhabe und eine gemeinsame Sprache mit den Eltern oder Therapeuten zu entwickeln. Nimmt man die Schweiz als Beispiel, so stellt die ICF sowohl in den Schulstandortgesprächen (SSG) – für Kinder mit geringerem Hilfebedarf – oder im Strukturierten Abklärungsverfahren (SAV) bereits ein Standardinstrument dar, um individuelle Hilfebedarfe in der Schule gemeinsam mit den Eltern und den Kindern darzustellen (Hollenweger / Lienhard 2011; Lienhard 2015). In Österreich regeln diverse Verlautbarungen von Amts wegen die Etablierung der ICF. So heißt es z. B., dass sonderpädagogische Gutachten gemäß dieser internationalen Klassifikation erstellt werden sollen (Richtlinie des Bundesministeriums 23 / 2016). Die ICF betrifft als Rahmenkonzept theoretisch auch die schulische Situation in Deutschland, da diese Klassifikation als fähigkeitsorientierte Hinwendung verstanden wird, Unterstützung für Menschen mit Behinderung im Sinne der UN-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderung zu planen bzw. umzusetzen. Angekommen scheint die ICF in der Schule in Deutschland jedoch noch kaum: Nur in Einzelfällen wird der schulische Förderbedarf mittels ICF beschrieben. Wie in Kapitel 4.2 ausgeführt, stellt das Rehabilitationszentrum Pfennigparade in München hier eine Ausnahme in Deutschland dar.
Im deutschen Sprachraum ist gleichzeitig zu beobachten, dass die ICF für Lehrpersonen, die mit Kindern mit besonderem Förderbedarf arbeiten, kaum bekannt ist. Eine einfache Internet-Recherche verdeutlicht, dass die Auseinandersetzung der Institution Schule mit diesem weltweiten Konzept, das bereits als gemeinsame Sprache zwischen unterschiedlichen Sektoren und als Instrument der Datenanalyse für die Rentenversicherung relevant ist und auch mit der UN-Behindertenrechtskonvention zusammenhängt, gerade erst beginnt. Dabei stehen für die Anwendung der ICF in der Schule u.a. folgende Fragen im Vordergrund:
■ Was ist für mich als Lehrperson der konkrete Nutzen?
■ Wie gelingt es mir, mit der Komplexität der in der ICF angeführten Items umzugehen?
■ Wie hilft mir die ICF im konkreten Schulalltag?
■ Brauche ich denn die ICF, wenn es möglicherweise kaum „Teams um das Kind“ in Schulen gibt?
Mit diesen Fragen haben sich auch andere Bereiche befasst (Vorschule, Inklusion in den Arbeitsmarkt, selbstbestimmtes Wohnen etc.), die die ICF als Bedarfsbeschreibungsinstrument auch in Zukunft verwenden müssen. Der Schulbereich stellt dabei, was die konkrete Verwendung der ICF betrifft, eine Art Vakuum zwischen dem vorschulischen und dem nachschulischen Inklusionsbereich dar.
Sowohl bei der Planung der Hilfsmittelversorgung als auch in der Förder- und Behandlungsplanung in der Frühförderung sowie in Kindertagesstätten beginnt die Verwendung der ICF im deutschsprachigen Raum Fahrt aufzunehmen. Förder- und Behandlungsziele werden zunehmend als Teilhabeziele definiert. Dazu kommt, dass das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG) in Zukunft zwingend vorsieht, dass sich die Förder- und Behandlungsplanung bei Einzelintegrationsmaßnahmen an den neun Lebensbereichen der ICF (Kap. 3) orientiert.
Da die Schule bislang meist nur indirekt mit Leistungen nach den jeweiligen Behindertengesetzen oder neuerdings dem Bundesteilhabegesetz zu tun hatte, ist es nicht verwunderlich, dass sie sich (mit Ausnahme der Situation in der Schweiz) größtenteils außerhalb der wissenschaftlichen und praktischen Auseinandersetzung mit der ICF befindet. Als Konsequenz droht jedoch eine immer größer werdende Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Hilfesystemen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung, vor allem in Hinblick auf Prozesse der Transition von dem einen System in ein anderes: von der Frühförderung bzw. inklusiven Kita in Richtung Schule und von der Schule in Richtung Arbeitsmarkt. Die ICF soll dabei nicht als zusätzlicher Aufwand angesehen werden, sondern als Mittel, das zuverlässig hilft, komplexe Situationen gemeinsam zu lösen.
BEISPIEL
Die Mutter des achtjährigen Alex mit Autismus-Spektrum-Störung (F84) sucht beim begleitenden Schulpsychologen Rat, wie sie die problematische Schulbus-Situation ihres Sohnes lösen könnte. Diese ist derart eskaliert, dass der Schulbusfahrer droht, ihren Sohn nicht mehr mitzunehmen. Dann wisse sie jedoch nicht, wie sie ihren Sohn zur Schule bringen kann, berichtet die Mutter. Sie wünscht sich von der Fachkraft Tipps, wie sie ihrem Sohn beibringen kann, sich während der Fahrt „zu benehmen“, oder einen Hinweis auf anderweitige Therapiemöglichkeiten. Der Schulbusfahrer halte das Verhalten ihres Sohnes nicht mehr aus. Ihr Sohn schreie während der Fahrt bzw. neige zu Selbststimulationen (wiederholtes Schlagen mit der Faust gegen seinen rechten Mundwinkel). Den Schulbusfahrer irritiere dieses Verhalten massiv.
Traditionell gedacht würden viele Fachkräfte dazu neigen, Interventionsmöglichkeiten auf den Jungen zu fokussieren. Ein Denken, das sich an der ICF orientiert, ermöglicht dagegen einen Blickwechsel, da Behinderung als Interaktion zwischen einer Person und ihrer Umwelt verstanden wird. Eine erste problemlösende Frage ist somit, welche förderliche oder hemmende Rolle der Busfahrer (als Umweltfaktor) spielt und inwiefern genau diese (hemmende) Umwelt für den Jungen verändert werden könnte, bevor der Junge selbst (oder sein Verhalten) „therapiert“ wird. Im vorliegenden Fall teilte der Psychologe der Mutter mit, dass der Busfahrer mit der Situation „ein Problem hat“ und nicht ihr Junge „das Problem“ ist - eine ungewöhnliche Perspektive, v. a. auch für die Ohren der Leistungsträger, da der Junge traditionell einen Hilfebedarf in Zusammenhang mit seiner Diagnose aufweist. Interventionsmöglichkeiten wären dann eine Beratung / Supervision des Busfahrers oder der Einsatz eines anderen Busfahrers, der mit dem Verhalten des Jungen entspannter umgehen könnte. Für die Mutter war der Perspektivenwechsel äußerst entlastend, da sie davon ausgegangen war, dass ihr Sohn das Problem sei und sie als Mutter verantwortlich sei, „dieses Problem“ zu lösen. Mithilfe der ICF ist ein solch problemlösender Perspektivenwechsel möglich.
Tabelle 4 ermöglicht einen Überblick, in welchen Bereichen die ICF 2019 im Einsatz ist. Eine Zusammenstellung von abgeschlossenen und laufenden Projekten zur ICF im deutschen Sprachraum bietet das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/, 09.01.2019).
Tab. 4: Einsatz der ICF im Bereich der Einschätzung von Hilfebedarfen für Menschen mit Behinderung (ausgewählte Beispiele)
Einsatz der ICF im vorschulischen Bereich als | Einsatz der ICF im schulischen Bereich | Einsatz der ICF im nachschulischen Bereich |
– Intervisionsinstrument im „Team um das Kind“ in der Frühförderung (Kraus de Camargo / Simon 2013) – Planungs- Dokumentations- und Evaluationsinstrument Pretis 2014) in der Frühförderung in inklusiven KITAS – Instrument zur Beschreibung des Förderbedarfes und der Evaluation in Rehabilitationskliniken (z. B. Helios) | – Beschreibungsinstrument in der Hilfsmittelversorgung (www.rehakind.com, 09.01.2019) – Instrument der gemeinsamen Sprache zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren (Frühförderung, I-KITAS, Leistungsträger (www.teilhabe-verbessern. de, 09.01.2019) – integrativer Teil der Ausbildungen der Physio- und Ergotherapeuten sowie Logopäden – gemeinsames Reflexionsinstrument mit Eltern in der Sozialpädiatrie | – Erhebungs- und Beschreibungsinstrument im Rahmen der Schulischen Standortgespräche (SSG) und des Standardisierten Abklärungsverfahrens (SAV) in der Schweiz – Planungsinstrument (z. B. bei Pfennigparade in München, www.pfennigparade.de, 09.01.2019) bzw. in den Privaten Schulen Oberaudorf- Inntal – zukünftige Beschreibungsstruktur... |
Erscheint lt. Verlag | 13.5.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Schlagworte | ICF • ICF-basiert • Inklusion • Inklusive Schule • Schulpsychologie • Sonderpädagogik |
ISBN-10 | 3-497-61172-7 / 3497611727 |
ISBN-13 | 978-3-497-61172-0 / 9783497611720 |
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